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iniiüi
N T H U M
IE KIRCHE
K H ü N D E R T E.
lAN BADR,
'KR T H K O L O Q I K
.INGEN.
/
PR. FUB8.
DAR
CHRl^STENTHUN
UND
DIE CHRISTLICHE KIRCHE
D B R
DREI ERSTEN JAHRHUNDERTE.
VON
Dr. FERDINAND CHRISTIAN BADR,
ORT)F. NTLIOHKM PROFEBSOB DER THEOLOGIE
AN DER UMIYERSITAT TÜBIVOBN.
TIIBlMeEM,
VBRLAO UNI> DRUCK VON L. FR. FUBS.
1853.
//^ S,^(»,
600098484/
W Vorrede.
80II. Jeder Versuch, den Grund, der vor allem gelegt
sein muss, und den niemand anders legen kann, als ihn
die Geschichte selbst in ihrer unwandelbaren Wahrheit ge-
legt hat, genauer und tiefer zu erforschen, Zusammenhang,
Haltung und Einheit in das Ganze zu bringen, die ver-
schiedenen Elemente, die hier zusammenwirken, und die
bewegenden Kräfte und PrincipieUi, deren Produkt das Re-
sultat der drei ersten Jahrhunderte ist, in ihrem Unter-
schiede zu sondern, und in ihrer gegenseitigen Beziehung
zu verfolgen, alle einzelnen Züge^ die zum Charakter
einer in einer so inhaltsreichen Bewegung begriffenen Zeit
gehören, so viel möglich zu einem in sich harmonischen
Bild zu vereinigen, kann somit, wofern es ihm nicht zu
sehr an allen, die Möglichkeit der Lösung seiner Aufgabe
bedingenden Erfordernissen fehlt, nur durch sich selbst ge-
rechtfertigt erscheinen. Aus diesem Gesichtspunkt wünsche
ich das vorliegende Werk von Solchen beurtheilt zu sehen,
die unbefangen und sachkundig genug sind, um die Bedeu-
tung einer solchen Aufgabe zu würdigen.
Ob ich auf dem hier betretenen Wege künftig noch
weiter fortgehen werde, um, wenn auch keine detaiUirte
Geschichte zu geben, wenigstens die Momente genauer in's
Auge zu fassen, die mir nach Maasgabe meiner Studien
und Forschungen vorzugsweise in Betracht zu kommen
scheinen, um dem Entwicklungsgange der christlichen Kirche
im Grossen und Allgemeinen zu folgen, lasse ich hier noch
dahingestellt, in jedem Fall bildet die gegenwärtige Schrift
eine für sich bestehende Darstellung.
Tübingen, im September 1853.
Der Verf.
INHALT.
Seite
Krsier Abscluaitt«
Der Eintritt des Christenthums in die Welt-
geschichte und das Urchristenthum . . i— 40
Der Uniyersalismiis der römischen Weltherrschaft als Yoraus-
setznng des Universalismus des Christenthums . . . 1 — 5
Die vorchristlichen ßeligionen 5 — 9
Die griechische Philosophie 9 — 16
Das Jndenthum . 16 — Sl
Das Urchristenthum Sl
Die Erangelien 22—25
Das urchristliche Bewusstsein und Princip 25 — S2
Die Lehre vom Reiche Gottes 32 — 35
Die Person Jesu und die Messiasidee . . . . • 35— *38
Der Tod und die Auferstehung Jesu 38 — 40
SEnreiier Abselmiit«
Das Christenthuni als allgemeines Heilsprin-
cip, der Gegensatz des Paulinismus und Ju-
daismus und seine Ausgleichung in der Idee
der katholischen Kirche • . . 41—158
Die jerusalemische Gemeinde und Stephanus . . . 4i — 4S
Paulas und das paulinische Christenthum .... 43 — 49
Die Frage üher die Beschneidung, Petrus und Paulus, die
beiden Parteien 49 — 55
Die judaistischen Gegner 53 — 59
Der Brief an die Gala ter . . • . . • . 54 — 55
Die Briefe au die Corinthier 55 — 59
Die versöhnlichen Schritte des Apostels 59 — 66
Der Brief an die Römer 60 — 64
Die Keise des Apostels nach Jerusalem 64-^66
Die Gegensätze in ihrer Spitze ....... 66
Pas L u c a 8 evaugelium 67 — 72
VIII
Inhalt.
Seite
Marcion, sein Paolinismas 73—74
Der Judaismus der Apokalypse 74 — 77
Papias, Hegesippus 77 — 79
Die pseudodementinischen Homilien) Simon der Magier. . 97 — 85
Die Vermittlung der Gegensätze . . . * . . . 86^91
Beschneidung und Taufe, Petrus als Heidenapostel . . . 91 — 96
Der Brief des Jac oh US 96—98
Der Brief an die Hebräer 98-— 103
Die Briefe an die Epheser und Colosser .... 104 — HO
Die Pastoralbriefe 111
Die Apostelgeschichte 111 — 115
Die Schriften der apostolischen Väter 116 — 121
Der Brief des Barnahas und die pseudoignatianischen
Briefe 118—120
Die Briefe des römischen Clemens und des Polykarp, der
Hirte des Hermas 120 — 121
Justin, der Märtyrer 122 — 126
Petrus und Paulus 126 — 131
Das Johann ei sc he Evangelium 131 — 138
Das Passahlamm 138 — 141
Der Passahstreit 141—149
Die Stellung des johanneischen Evangeliums und sein Ver-
hältniss zum Judaismus und Paulinismus .... 149 — i55
Das Resultat, die katholische Kirche, die Ebioniten . . . 155 — 158
üritier Abschnitt.
Das Chrisienihum als absolutes Weltprincip
und seine geschichtliche Schranke.
Die Häresen des Gnosticismus und Montanis-
mus und die katholische Antithese in dogma-
tischer und kirchlicher Beziehung .
I. Die Häresen.
1. Der Gnosticismus.
Die Gnosis, ihr Wesen und Charakter im Allgemeinen
Ihr Ursprung
Die Hauptelemente ihres Wesens
Der Dualismus
Ddr Demiurg
Christus
Ihre Sekten, Formen und Systeme
Cerinth, der Magier Simon .
Die Ophiten, Peraten, Sethianer
159—279
159—224
159-213
159—165
163—167
167—173
167—169
169—172
172—173
174—204
174—176
176—179
Inhalt. IX
Seite
Die Hanptgysteme der Gnostiker 179—303
Das System Valentin's I79 — 137
Das System des Basilides 187 — 193
Das System Marcion's I93 — 197
Das System der psen do cleäientini sehen Homilien 197 — 203
Die drei Formen der Gnosis 203 — 204
Der Doketismus 205 — 213
2. Der Montanismus 213 — 234
Gnosticismns und Montanismus . . . 213--214
Der Glaube an die Parusie 214 — 215
Der Chiliasmus und die Prophetie derMontanist en 215 — 218
Der sittliche Charakter des Montanismus *. . 2] 8 — 223
Die Verwandtschaft des Montanismus mit der Gnosis 222 223
^ Seine Entstehung 233— -334
IL Die katholische Antithese in dogmatischer und
kirchlicher Beziehung 324 — 379
Die Idee der katholischen Kirche 334 — 235
Verschiedene Stellung des christlichen Bewusstseins zur Gnosis 335 — 336
Verhältniss der Alexandriner zu derselben . . . 237—331
Clemens 337 — 229
Origenes 229—231
Die Polemik des Irenäus und Tertullian gegen die
Gnosis und die Philosophie 231 — 239
Tradition und Schrift, der Gegensatz des Häretischen und
Katholischen 234 — 239
Der Episcopat der Träger der katholischen Kirche und die
konkrete Darstellung ihrer Idee 239
Ursprung des Episkopats. Presbyter und Diaconen . . 239 — 242
Die Autonomie der Gemeinden 242 — 244
Die Kleriker .... ^ ... . 244—246
Der Bischof und die Presbyter .*»..,. 246 — 349
Der Episcopat 249—251
Seine Entwicklungsgeschichte 251 — 363
Die Pastoralbriefe 353 — 353
Die pseudoignatianischenBriefe und die pseudo-
clementinischen Schriften 353 — 36O
Die Einheitsidee des Episcopats 360 — 363
Der römische Bischof und die cathedra Petri . . . 363 — 363
Der Montanismus und der Episcopat 364 — 369
Die antimontanistische Tendenz der römischen Kirche . 366 — 369
Die in der Beaction gegen den Montanismus erfolgende
Krisis des Zeitbewusstseins 37O — 274
Die Bischöfe die Organe des Geistes, die Synoden . . 374 — 377
Da« System der Hierarchie 377 — 279
A3
X Inhalt.
Seite
Wiener AlMcliHltt«
Das Christenthum als höchstes Offenbarungs-
princip und als Dogma . . . 280—356
Uebergang auf das Dogma 380—283
Die Christologie der synoptischen Evangelien . • , • 283 — 284
Die paolinische 284—290
Die der Apokalypse 290—292
Die des Hebr&erhriefs 292—295
Die der kleineren paolinischen Briefe 295—297
Der Johanneische Logoshegriff 297 — 303
Die dogmatische Fixining der Logosidee 303 — 307
Die weitere Entwicklung der Lehre von der Gottheit Christi hei
Irenäns, Tertnllian, Clemens Alex. . . . 307 — 309
Die Monarchianer 309 — 333
Praxeas, Callistus, NoStus 310—312
Sahellins 312—315
Unterscheidung einer- doppelten Klasse von Monarchianem . 315 — 316
Theodotus von Byzanz und Artemon . . . 316 — 318
Beryllus von Bostra 318 — 319
Paulus von Samosata 319 — 337
Die Hanptmomente der weitem Entwicklung .... 338 — 339
Origenes und dessen Schüler 339 — 542
Der Arianismus 342 — 345
Die antiarianische Lehre 345 — 347
Das nicänische Dogma 347 — 350
Das Dogma überhaupt, die Lehre von Gott, von der sittlichen
Willensf^iheit, von der Kirche 350—356
V*llnfler AliscbHitt.
Das Christenthum als weltherrschende Macht,
in seinem Verhältniss zur heidnischen Welt
und zum römischen Staat . . . 357—451
Uebergang 557—358
1. Das Verhältniss desChristenthums zur heid-
nischen Welt und zum römischen Staat nach
seiner inncrn Seite 358 — 4l5
Das Weltbewusstsein der Christen .... 358 — 361
Der Hass der Heiden und die stillwirkende Macht des
Christenthums 361—364
Die Apologeten, Justin, Tertullfan . . . 364 — 368
Die philosophisch gebildeten Gegner des Christenthums 368 -413
Inhalt. XI
Seite
Celsus 368— -395
Die Bedeutung und Anlage seiner polemischen Schrift 368 — 371
Sein Angriff auf das Christenthnm vom jüdischen
Standpunkt aus 371 — 374
Sein geringschätzendes Urtheil üher dag Christenthnm
und die Christen 374 — 377
Sein principieller Angriff auf das Christenthum als
Offenbarung 377—381
Verschiedene Argumente gegen das Christenthum, beson-
ders durch Vergleichung mit der platonischen
Philosophie 381—387
Die Dämonologie der gemeinsame Berührungspunkt und
der Hanptdifferenzpunkt 387 — 393
Das Christenthum Betrug und Täuschung aber eine
Macht der Zeit 393—395
Lucian . . . 595—401
Verschiedenheit seines Standpunkts von dem des Celsus 395 — 396
Sein PeregrinusProteus 396— 4ÜÜ
Das Christenthum Schwärmerei und Betrug . . 400—401
Philostratuji und sein Leben des ApoUonius
von Tyana 401—406
Die synkretistische Vei*mittlung des Zcitbewusstseins
mit dem Christenthum 405 — 406
Porphyr ins 406 — 413
Sein Angriff auf das Christenthum .... 406 — 408
Kritische Stellung des Neuplatonismus zum Christenthum 408 — 413
Die Heiligkeit der Tradition und das Prinzip der Be-
ligionsfreiheit 413 — 415
2. Das Verhältniss des Chr istent hums zur
heidnischen Welt und zum römischen Staat
nach seiner äussern Seite 416—431
Tiberius, Claudius, Nero .... 416—420
Die ncronische Cliristenverfolgung . . . 417 — 4 1 9
Nero, der Antichrist . . . . . . . 419-420
Domitian 420 — 421
Trajan 421—425
Hadrian und die Antoniue 423 — 426
Septimius Severus, Heliogabalus, Alexander
Severus 426—428
Decius 428—430
Diocletian 430—453
Die Beligionsedicte der römischen Imperatoren . 455 — 440
Das erste von Galerius, Constantin und
Licinius 455—457
Xll Inhalt.
Das zweite und dritte von Constantin und
Licinius ....
Constantin
Sein Einbeitsinteresse
Seine Politik und Beligiosität
Der Sieg des Christenthnms
Sc
437-
440-
440-
443-
447-
Secluter Abschnitt.
Das Christenihum als sittlich religiöses Prin-
cip in seiner Allgemeinheit und zeitlichen Be-
schränkung 452—
Das sittlich religiöse Princip des Christenthums in seiner Allge-
meinheit und Energie als Princip einer sittlichen Wiederge-
burt der Menschheit 453—
Das sittliche Verhalten der Christen nach seiner Lichtseite . 454—
Ihre Scheu vor den Schauspielen 455^
Ihre Zurückgezogenheit vom Politischen, ihre Tbeilnahme am
gemeinsamen Lebensverkehr, die Innigkeit ihrer Gemeinschaft 457—
Das eheliche und häusliche Leben 458—
Das Einseitige und Beschränkte der christlichen Sittlichkeit . 461—
Die Furcht vor den Dämonen 463—
Der sittliche Rigorismus 46S—
Die Kollision mit der Pflicht gegen die Obrigkeit . . .465—
Der Dualismus von Geist und Fleisch, die Ascese . . . 466—
Die Ehe , 468-
Die Ansichten und Grundsätze der Gnostiker .... 469—
Tertullian 475-
Der Vorzug des ehelosen Lebens 479—
Die höhere und niedere Sittlichkeit 480—
Die Ehelosigkeit der Priester 483—
Die Unterscheidung von Tod- und Erlasssünden . . . 485—
Die guten Werke 486-
Die Idee der Kirche in sittlicher Beziehung .... 488—
Die reineren sittlichen Grundsätze des Clemens Alex. . . 490—
Die laxere sittliche Praxis 493—
Der christliche Kultus 494—
Erster Abschnitt.
Der Eintritt des Christenthums in die Welt-
geschichte und das Urchristenthum.
JLuf keinem Gebiete der geschichtlichen Betrachtung hängt
alles, was zum Inhalt einer bestimmten Reihe geschichtlicher Er-
scheinungen gehört, so sehr von dem Anfangspunkt ab, von wel-
ekem es ausgeht, wie in der Geschichte der christlichen Kirche,
nirgends kommt es daher auch so sehr, wie hier, darauf an, welche
Vorstellung wir uns von dem Punkte machen, mit welchem der
ganze geschichtliche Verlauf seinen Anfang nimmt Der Geschicht-
schreiber , welcher mit dem Glauben der Kirche zu dem Gegen-
stand seiner Darstellung hinantritt, steht gleich am ersten Anfang
Yor dein Wunder aller Wunder, vor der Urthatsache des Christen-
fhuDs, dass der eingeborene Sohn Gottes vom ewigen Throne der
Gottheit auf die Erde herabgestiegen und im Leibe der Jungfrau
Mensch geworden ist. Wer hierin nur ein schlechthiniges Wunder
sieht, tritt eben damit aus allem geschichtlichen Zusammenhang
heraus, das Wunder ist ein absoluter Anfang, und je bedingender
ein solcher Anfang für alles Folgende ist, um so mehr muss auch
<fie ganze Reihe der in das Gebiet des Cliristenthums gehörenden
Srscheinungen denselben Charakter des Wunders an sich tragen:
so gut auf dem Einen ersten Punkte der geschichtliciie Zusammen-
hing zerrissen ist, ist auch auf jedem andern Punkte dieselbe Unter-
brechung des geschichtlichen Verlaufs möglich. Die geschicht-
liche Betrachtung hat daher sehr natürlich das Interesse, auch schon
das Wunder des absoluten Anfangs in den geschichtlichen Zusam-
menhang hereinzuziehen und dasselbe, so weit es überhaupt mög-
lich ist, in seine natürlichen Elemente aufzulösen. So oft diess auch
schon versucht worden ist, und so verschieden man auch über die
in dieser Peziehung gemachten Versuche urtheilen mag, die Auf-
i Erster Abschnitt. Der Eintritt des Ghristentbums.
gäbe selbst bleibt stets dieselbe. Fragt man auch nur, warum das
Wunder, mit welchem die Geschichte des Christenthums beginnt,
gerade auf diesem Punkte der Weltgeschichte in den Zusammen-
hang derselben eingegriffen hat, so ist schon hiemit eine Reihe von
Fragen eröffnet, welche nur vom Standpunkt der geschichtlichen
Betrachtung aus beantwortet wenden können. Die erste Aufgabe
der Geschichte des Christenthums, oder der christlichen Kirche,
kann daher nur sein, von dem Funkte aus, auf welchem das Chri-
stenthum in die Wellgeschichte eintritt, sich über seine geschicht-
liche Stellung überhaupt zu orientiren. Es kamt diess nur cladurch
geschehen, dass man das Christenthum vor allem darauf ansieht, ob
sieh an ihm nicht etwas zu erkennen gibt, das auf der eineU Seite
ebenso zum Wesen des Christenthums gehört, als sich auf der an-»
dern darin der allgemeine Charakter der Zeit seiner Erscheinung
ausdrückt. Je bestimmter solche gemeinschaftliche Berührungs-
punkte hervortreten, ein um so helleres Licht fallt dadurch auf den
geschichtlichen Ursprung des Christenthums selbst. In dieser Be^
Ziehung haben schon christliche Apologeten der alten 2ieit es ber
sonders bedeutungsvoll gefunden, dass das Christenthum gerade in
dem Zeitpunkt erschien, in welchem das römisehe Reich den
Gipfel der Weltherrschaft erstieg, und wenn sie auch daraus zur*
nächst nur die Folgerung zogen, dass auch in den Augen der Hei-
den eine Religion nicht anders als segensvoll erscheinen könne,
mit deren Epoche das römische Reich auf die höchste Stufe jseiner
Blüthe gelangte, so war ihnen auch so dieses Zusammentreffen 4^9
Christenthums mit der römischen Weltmonarchie so merkwürdig,
dass sie es nicht für zufällig halten konnten 0« Ihren eigentlichen
Berührungspunkt aber haben beide in ihrer gleich universellen
Tendenz. Es ist eine acht welthistorische Betrachtung, dass in
demselben Zeitpunkt, in welchem das römische Reich alle Völker
der damaligen Welt vollends zu einer Universalmonarchie verei-
nigte, auch die Religion ihren Lauf durch die Welt begann, welche
allen religiösen Partikularismus zur Universalitat aufhob. In sei-
nem Universalismus stand demnach das Christenthum auf derselben
Stufe, aufweiche sich auch schon das Römerthum in seiner Welt-:
1) Man vergleiche das Fragment aus der Apologie des Bischofs Mellto
von Snrdcs bei Eusebius K.-G-. 4r 86* und Origenes Contra Cela. B^ 30.
Der politiflclie UniyerBaliflmns. S
monarchie erhoben hatte. E» war überhaupt die Zeit, in welcher
zuerst das allgemeine Weltbewusstsein diesen epochemachenden
Fortschritt that. In demselben Yerhältniss, in welchem durch die
immer weiter um sich greifende Macht der Römer die Schranken
and Scheidewände der Völker und Nationalitäten verschwanden,
Dnd alle unter dem Einen Oberhaupte derselben, die Unterschiede
aufhebenden Einheit sich bewusst wurden, erweiterte sich über-
haupt das geistige Bewusstsein, es musste die partikulären Bestim-
mungen, die den Einen von dem Andern trennten, mehr und mehr
fallen lassen, und zum Allgemeinen sich erheben. Wie aber das
allgemeine Streben der Zeit nach einer allumfassenden, alles Be-
sondere und Emzelne in sich auflösenden Einheit in dem Universa-
lismus des römischen Reichs zu seiner grossartigsten Erscheinung
kam, so war er selbst der Zielpunkt, zu welchem der Gang der
Weltgeschichte schon seit Jahrhunderten seine Richtung nahm.
Seitdem durch Alexander den Grossen die Pforten des Orients dem
Oeeident sich aufgeschlossen, und auf so vielen neueröffneten
Wegen des belebtesten und vielseitigsten Völkerverkehrs grie-
chische Sprache und Bildung durch alle Theile der damaligen Welt
sich verbreitet hatten, war es nur ein neuer Schritt auf derselben
Bahn der weltgeschichtlichen Entwicklung, dass nun durch die
Herrschaft der Römer auch das neue Band einer politischen Ein-
heit unter Formen, wie sie zuvor noch nie vorhanden waren, um
die Völker geschlungen wurde. In dieser die Völker verbindenden
Einheit, auf der Grundlage römischer Civilisation und Gesetz-
gebung, durch den ganzen wohlgegliederten Organismus des römi-
schen Staates waren die Völker in ein solches Verhältniss zu ein-
ander gekommen, dass nicht nur alles Schroff« und Abstossende in
der gegenseitigen Berührung sich verlieren, sondern selbst alles
Nationale und Individuelle mehr und mehr in eine, die Unterschiede
ausgleichende Allgemeinheit sich auflösen musste. Konnte doch
dieser allgemeinen, die Völker nicht blos politisch,, sondern auch
dmrch ein neues geistiges Band mit einander verknüpfenden Ein-
heit selbst das Volk sich nicht entziehen, das von Anfang an durch
die Eigenthümlichkeit seines Nationalcharakters sich am meisten
▼on allen andern Völkern unterschied, und zu allen Zeiten mit der
frössten Hartnäckigkeit und Zähigkeit an ihr festhielt. Nachdem
die Juden durch die doppelte Zertrüumierung ihres Staates unter
4 Erster AbBclinitt. Der £inttitt des Cktlstenthumd.
andere Völker und in die weite Welt gewaltsam hinausgeworfen
worden waren, hierauf in den von den Nachfolgern Alexanders neu-
gegründeten Reichen, gerade in denjenigen Stddten, welche die
Hauptpunkte des politischen und geistigen Yölkerverkehrs wurden,
ein sehr wichtiger Bestandtheil der neu sich bildenden Bevölkerung
geworden waren, und überhaupt als Hellenisten die vielfachsten
Elemente griechischer Bildung in sich aufgenommen hatten, wur-
den sie zuletzt auch in das immer weiter sich ausdehnende Netz
der römischen Herrschaft hereingezogen, und das auf jüdischem
Boden entstandene Christenthum traf so schon an der Stätte seiner
Geburt mit der Macht zusammen, die seine Vorläuferin auf der
Bahn der Welteroberung sein sollte. Der Universalismus des Chri-
stenthums hat so zu seiner wesentlichen Voraussetzung den Uni-
versalismus der römischen Weltherrschaft. Nur dürfen wir uns das
Zusammentreffen dieser beiden Weltmächte nicht blos in der Weise
denken , dass wir, nach der gewöhnlichen teleologischen Betrach-
tung, in den äussern UmstäiMen und Verhältnissen, unter welchen
das Christenthum in die Welt eintrat, eine besondere Gunst der
göttlichen Vorsehung erkennen, welche, wie man meint, für die
Ausführung ihrer Absichten keine passendere Zeit als eben diese
hätte wählen können , wie wenn das Hauptmoment dieser Betrach-
tung nur darin läge, dass so viele neue Verkehrswege auch dem
Christenthum seine Verbreitung durch die Provinzen des römiscKen
Reichs erleichterten, und unter dem Schutze der römischen Polizei
und Staatsverfassung so manche Hindemisse nicht stattfanden,
welche den Boten des Evangeliums hätten hemmend in den Weg
treten können 0* Das Band, das beide mit einander verknüpft, liegt
1) Man vergleiche hierüber Orig^ncs a. a. O. Auf den Einwarf des
Oelsna, wie die Sonne sich selbst zuerst dadurch zeige, dass sie alles An-
dere erleuchte, so hätte auch der Sohn Gottes sich selbst darstellen sollen,
erwiedert Origenes, so hahe er sich ja auch dargestellt, „die Gerechtigkeit
ging ja auf in seinen Tagen, und die Fülle des Friedens kam gleich an-
fangs mit seiner Gehurt, indem Gott die Völker für seine Lehre vorbereitete
und dafür sorgte , dass alles unter den Einen römischen Kaiser zu stehen
kam, damit nicht durch den Mangel einer Verbindung der Völker mit eior
ander unter so vielen Beherrschern die Ausführung des Auftrags um so
schwieriger würde, welchen Jesus seinen Aposteln mit den Worten gegeben
hatte: gehet hin und lehret alle Völker. Geboren >vurde ja Jesus unter
Augustus , welcher , so zu sagen , die Vielheit auf der Erde in der Einheit
Die vorchristlichen Religionen. 5
weit tiefer and innerlicher in der allgemeinen geistigen Bewegung
der Zeit Die Hauptsache ist, dass das Christenthum diese allge-
meine Form des religiösen Bewusstseins, die es ist, nicht sein
könnte , wenn nicht die ganze Entwicklung der Weltgeschichte bis
auf die Zeit des Christenthums, die allgemeine geistige Bildung, die
durch die Griechen das Gemeingut der Völker wurde, die die Völ-
ker vereinigende Herrschaft der Römer, mit allen ihren politischen
Institutionen und der auf ihnen beruhenden allgemeinen Civilisa-
tion, die Schranken des Nationalbewusstseins durchbrochen und so
Vieles aufgehoben hätte, was die Völker in ihren gegenseitigen
Verhältnissen nicht blos äusserlich, sondern weit mehr innerlich
von einander trennte. Der Universalismus des Christenthums hatte
nie in das allgemeine Bewusstsein der Völker übergehen können,
wenn er nicht den politischen Universalismus zu seiner Vorstufe
gehabt hätte, er ist selbst wesentlich dieselbe allgemeine Form des
Bewusstseins, zu welcher die Entwicklung der Menschheit bis auf
die Zeit der Erscheinung des Christenthums schon fortgeschrit-
ten war.
Als eine .dem Geiste der Zeit entsprechende, und durch die
ganze bisherige Entwicklungsgeschichte der Völker vorbereitete
allgemeine Form des religiösen Bewusstseins haben wir denmach
das Christenthum auf dem Punkte aufzufassen, auf welchem es in
die Weltgeschichte eintritt, aber was macht denn das Christenthum
n dieser allgemeinen Form? Als allgemeine Form des religiösen
Bewusstseins erscheint das Christenthum darin, dass es die übrigen
Religionen mehr und mehr zurückgedrängt, in sich aufgelöst und
sieh selbst über sie zur allgemeinsten Herrschaft in der Welt auf-
geschwungen hat, es ist somit jenen partikulären Religionsformen
gegenüber die absolute Religion, worin besteht aber das Absolute
«einer Regierung aufhob. Ein Hindemiss fUr die Verbreitung der Lehre
Jeflu durch die ganze Welt w&re die Vielheit der Reiche gewesen, nicht
blos wegen des zuror Gresagten, sondern auch desswegen, weil die Völker
mr Vertheidigung ihres Vaterlandes beständig hätten Krieg mit einander
fBhren müssen, wie es in den Zeiten vor Augustus war, als z.B. die Felo-
ponnesier und Athener einander bekriegten. Wie hätte eine Friedenslehre,
die nicht einmal das Unrecht am Feinde rächen lassen will, Raum gewin-
nen können, wenn nicht die Welt bei der Erscheinung Jesu schon fiberall
in^s Mildere umgeändert gewesen wäre"?
6 Erster Abschnitt. Der Eintritt des Cfaristenthnms.
seines Wesens ? Es kann zunächst nur darin gefunden werden,
dass das Christenthum über alles Mangelhafte, Beschränkte, Einsei-
tige, Endliche, worin der Partiknlarismus jener Religionsformen
besteht, erhaben ist, dass es nicht polytheistisch ist, wie das Hei-
denthum, nicht an ausserlichen Gebrauchen und Satzungen, an dem
Positiven einer rein traditionellen Relig^ion hängt, wie das Juden-
thum, somit überhaupt als eine geistigere Form des religiösen Be-
wusstseins über ihnen steht Allein hiemit ist noch sehr wenig ge-
sagt, nichts, was sich nicht von selbst versteht, so bald von einer
Vergleichung des Christenthums mit den beiden andern Religionen,
welchen es gegenübertrat, die Rede ist. Beide waren damals, als
das Christenthum zu seiner weltgeschichtlichen Bedeutung gelangte^
längst in sich selbst zerfallen, sie waren inhaltsleere, in sich abge-
storbene, rein äusserliche Formen geworden, die ihren innem Halt-
punkt im religiösen Bewusstsein der Völker verloren hatten. Das
Heidenthum war auf die Stufe einer geistlosen Volksreligion herab-
gesunken, in allen Gebildeten hatte der Glaube an die alten Gotter
von dem religiösen Bewusstsein sich mehr oder minder abgelöst,
man isah in den Mythen, in welchen der fromme Glaube der Vor-
welt seine schönsten religiösen Anschauungen ausgeprägt hatte,
blosse Fabeln, in welchen kein geistiges Band mehr Inhalt und Form
zur harmonischen Einheit verknüpfte, oder nur bildliche Forme»
für Ideen, die aus einem ganz andern Boden erwachsen waren, und
nur das hielt das allgemeine Interesse für die nationale Religion
noch aufrecht, dass sie als Staatsreligion mit allen Einrichtungen
des Staatslebens zu eng verwachsen war, um von ihnen so leicht
getrennt zu werden. Das Judenthum ruht zwar auf einer ganz an-
dern religiösen Grundlage, die Religion der Väter war dem Judeu
nie ein leerer Name, und der religiöse Kultus bestand in dem ganr-
zen Umfang seiner formenreichen Ceremonien mit ungeschwächtem
Ansehen fort, aber die Spaltung in so viele Sekten und P$u*teien,
die über die wichtigsten Fragen so wenig unter sich überein-
stimmten, zeigte deutlich, dass auch hier die Nationalreligion in
dem Zustand der Auflösung sich befand. Beide Religionen hatten
auf diese Weise selbst für eine neue Religion Raum gemacht, und
man kann es vom Standpunkt der teleologischen Betrachtung au$
nur als eine besondere Fügung der göttlichen Vorsehung betrach-
ten , dass das Christenthum gerade in dem Zeitpunkt in das Disein
Die TorcluiBtlidkeii Beligionen. 7
trat, id welchem eine so grosse Lücke im religiösen Leben der
alen Welt auszufüllen war. Es läsaftuns aber auch diess noch nicht
ii den innem Zusammenhang tiefer hineinsehen, in welchem das
Christenäium als eine neue Form des religiösen Bewusstseins zu
der ihm vorangehenden religiösen Entwicklung steht.
Grewöhnlich setzt man freilich den Hauptberfihrungspunkt zwi-
«chen den vorchristlichen Religionen und dem Christenthum neben
diem demjenigen, was einen mehr oder minder schroffen Gegen-
atz bildete, nur in das negative Verhältniss, in welchem die erstem
m dem letztem standen, und in das eben dadurch geweckte reli-
fiöse Giefühl und Bedürfniss» Unglaube und Aberglaube, sagt man,
varen zwar die im Heidenthum und Judenthum dem ChristenUium
eatgegensteheaden Mächte, aber sie schlössen auch wieder Be-
nehnngen in sich, welche den Uebergang zum Christenthum ver-
iuttelten,iimd hingen mit einer für dasselbe empfanglichen Ge-
nnthsstinmiung zusammen. Es gab auch einen Unglauben, welcher
nur darum »ch ungläubig veriiielt, weil sein Bedürfniss zu glauben
dirch alles, was die ahe Welt in Religion und Philosophie zu
geben vermochte, nicht befriedigt werden konnte. Die menschliche
Nitur hat ein unverläugbares Bedürfniss der Anerkennung des
Uebematürlichen imd der Gemeinschaft mit demselben, die Herr*
idiaft mies alles vemeinenden Unglaubens ruft nur ein um so
keisseres Glaubensverlangen hervor. Ebenso lag auch einem
grossen Theile des Aberglaubens ein Bedürfniss zu Ghrunde, das
seiiie Befriedigung sudite und sie nur im Christenthum finden
kennte, das Bedürfniss der Erlösung aus dem tief gefühlten Zwie-
spalt, einer Versöhnung mit dem unbekannten Gott, nach welcher
die bewusst^ oder unbewusste Sehnsucht verlangte 0* Man geht
also hiemit überiiaupt auf das unmittelbare religiöse Geßihl, als die
Ovelle der Empüänglichkeit Gir das Christenthum zurück. Unstreitig
worzelt auch das Christenthum, wie jede andere Religion in dem-
selben ursprünglichen Gmnde alles religiösen Lebens, so lange
man aber das ChristenUium nur darauf zurückführt, bleibt man noch
m sehr in dem weiten unbestimmten Kreise der subjektiven Be-
ziehnng^i stehen. Die Frage ist nicht, welche eigenthümliche
i) Vgl. NEÄibBft, Allg. (Jeschfcbte der chrisü. Religion und Kirche.
g Erster Abscbnitt. Der Eintritt des Ghirfstenthtims.
Gemimisverfassung bei den Eiaen oder den Andern die Ursache
ihres Uebertritts zum Christenthnm war, was sie in ihren indiiri«-
duelien Verhältnissen für den Inhalt desselben mehr oder minder
empfänglieh machte, sondern nur, wie sich das Christenäutm, ol*
jekiiv betrachtet, zu allem demjenigen verhielt, was die religiöse
Weltentwicklung bis auf jene Zeit nicht blos ihrer negativen; son-
dern auch ihrer positiven Seite nach war. In demselben Terhält*
niss, in welchem die universelle Tendenz des Christenthums den
Universalismus, zu welchem das GesammtbeMrusstsein der Zeit
schon durch die römische Weltmonarchie sich erweitert hatte, zu
ihrer wesentlichen Voraussetzung hatte, muss die religiöse und
geistige Weltentwicklung überhaupt in einer Innern objektiven Be<-
ziehung auch zu allem demjenigen stehen, was nicht blos den uni*
verseilen, sondern auch den absoluten Charakter des Christenthums
flus^macht Dabei' kommt es nun aber vor allem darauf an, dass
man dieses Absolute des Christenthums selbst nicht zu eng uad
einseitig auffasst Wollte man es blos darin finden, dass das Chn*
stenthum dem Glaubensbedürfniss des Menschen die willkommenste
Befriedigung gibt, dass es eine übernatürliche Offenbarung, eine
allgemeine Anstalt zur Versöhnung des Menschen mit Gott ist, ^er
dass es in der Person seines Stifters den Sohn Gottes und den Gott^
menschen im Sinne der Kirche vor Augen stellt, so muss man d^h
wieder fragen, was das Christenthum in allen dieiäen Beziehungen
so hoch über alles dasjenige stellt, was die vorchristliche Welt in
denselben Beziehungen auf mehr oder minder analoge Weilte- auch
schon zu haben glaubte. Eine übernatürliche Oflfenbarung wollte
ja jede Religion sein, an Anstalten zur Versöhnung des Menschen
mit Gott fehlte es auch zuvor schon nicht, und die Gemeinschaft
des Menschen mit Gott dachte man sich auch schon durch Wesen
vermittelt, welche im Allgemeinen dieselbe Bestimmung hatten, wie
der Sohn Gottes im christlichen Sinne. Was ist es also, wias dem
Christenthum einen so eigenthümlichen specifischen Vorzug vor
allem demjenigen gibt, was in der vorchristlichen Well eine nähere
oder entferntere Verwandtschaft mit demselben hatte, und worin
haben die verschiedenen Gesichtspunkte selbst, von welchen aus
wir das Christenthum betrachten können, in deren jedem sich uns
immer nur dne der verschiedenen Seiten zu erkennen gibt, die wir
an dem Christenthum überhaupt unterscheiden können » ihre g^r
Die Torcbriatliidieii Beligiooen. 9
ineinsame alles xusammenfassende Einheit? Es ist mit Einem
Worte nur der geistige Charakter des Christenthums überhaupt,
auf welchen wir in dieser allgemeinen Betrachtung zurückgehen
kömien, dass es von allem blos Aeusserlichen , Sinnlichen ^ Ma-*
(eriellen weit freier ist als irgend eine andere Religion, tiefer als
jede andere in der innersten Substanz des menschlichen Wesens
nd in den Principien des sittlichen Beviyasstseins begründet ist,
dass es, wie es selbst von sich sagt, keine andere Gottesvereh-
nmg kennt, als die im Geist und in der Wahrheit Welche An*
imüpfangspankte gibt es demnach auch schon in der vorchrist-
Gehen und der dem Christenthum gleichzeitigen Welt, wenn wer
seinen geistigen Charakter überhaupt, das Absolute seines We-
sens in diesem weitesten und allgemeinsten Smne ins Auge fassen,
was isl in der allgemeinen Weltentwicklung das Nächste und Ver*
wandteste, das es, seinem innem Wesen nach betrachtet, als Vor-
stufe zu seiner Voraussetzung hat?
Die beiden dem Christenthum vorangehenden*Religionen war
ren, wie schon bemerkt worden ist, in einem solchen Zustand
des Zerfalls und der Auflösung begriffen, dass aus ihnen auf dem
Punkte, auf welchem sie mit dem Christenthum in Berührung
kamen, allen denen, welche der UnvoUkommenheit und End-
lichkeit dieser Religionsformen, oder dessen, was sie an nch
snd, sich bewusst geworden waren, nur das Gefühl einer un-
endlichen Leere, das Bedürfniss einer Befriedigung, die man in der
ganzen Sphäre jener Religionen vergeblich suchte, die Sehnsucht
nach einem neuen positiven Haltpunkt des religiösen Bewusstseins
entgegen kommen konnte. Aber was hat denn jene Religionen so
sehr in Zerfall gebracht und in sich aufgelöst, und wie hätte diess
schon vor dem Christenthum geschehen können, wenn nicht etwas
Anderes, das machtiger als sie war, über sie gekommen wäre?
Man macht sich gewöhnlich eine sehr irrige Vorstellung von sol-
chen Uebergangsperioden, wie insbesondere die Zeit um die Er-
scheinung des Christenthums war, wenn man meint, sie seien
nur Zeiten des Zerfalls und der Auflösung, eines völlig in sich
er8t(Nrbenen religiösen und geistigen Lebens. Die Formen, in wel-
chen bisher das religiöse Leben sich bewegte, zerfallen mehr
mid mehr, sie werden zuletzt völlig leere, des sie erfüllenden
iikalts entänsserts Formen, aber nur aus dem Grunde, weil sie
^0 Erster Abschnitt Der Eintritt deg Cktistenthomg.
dem Geiste, welehem sie zur VermitUnng seines religiösen Be-
wußtseins dienten, zu eng- und %^hrfinkt geworden sind. Wo
etvras Altes zerfällt, ist immer auch sohon etwas Neues da, das
an die Stelle desselben tritt, es könnte gar nicht in sich zerfallen,
w^nrr nicht das Neue, sei es auch nur in seinem erst werdenden
Aitftltig, schon da wäre, und «ti der Untergrabung und Durch*
löcherung des bisher ^stehenden längst gearbeitet hatte; wenn
auch für die äussere Erscheinung sich nicht so schnell eine neue
Form des religiösen und geistigen Lebens gestaltet, so ist doch
der bildende Geist längst im Stillen thätig, es gäbrt schon in
der Tiefe und der in seinem ununterbrochenen Zusammenhangs
fortgehende Lebensprocess kann nicht ruhen, bis er es zu einer
ikidtten- Schöpfung gebracht bat Der Zerfall der lieidnischen Re-
ligion datirt sich nicht erst aus der Zeit der Erscheinung des Chri*
sIeiHhuttis, ist am wenigsten erst durch das €hristentbutn selbst
bewirkt worden, er hat schon Seit der Zeit seinen Anfang ge-
neflimen, als es nicht blos eine griechische Religion, sondern
awh eine griechische Philosophie gab, welche sich nicht blos
«kts kritische Reflexion über den mythischen Volksglauben stellte,
sondern sich auch eine von ihm unabhängige, im Reiche dels
freien Gedankens sich erbauende Welt schuf, in welcher derseA)^
<Seist, der in deuMythenderVolksreligion nicht mehr die adäquate
Form seines Rewusstseins finden konnte, zu einer neuen Sphäre
seines Denkens und Anschauens sich erhob. Neben der Religions*
lehre des Alten Testaments gibt es daher keinen geistigeren Be-
rflhrungspunkt zwischen dem Christenthum und der vorehristti*
chen Entwicklungsgeschichte der Menschheit als die griachische
Philosophie, deren Yerbältniss zum Christenthum immer vorzugs-
weise in Betracht kommen musste, wenn man sich über die welt^
geschichtliche Stellung desselben orientiren wollte^ Aber auch
Mer hält man sich gewöhnlich weit mehr an die negative Seile
dieses Verhältnisses als an die positive. Nur dem Piatonismus ge-
steht man neben demjenigen, was auch an ihm nur als mangel-
haft und emseitig erscheinen kann, den Vorzug zu, dass er durch
Vergeistigung der religiöisen Denkweise, durch, die Zurückfüh-
rrnig des Polytheismus auf^ eine gewisse Einheit! des Gottesbe-
wvsstseins^ duroh Anregung, manchet* dem Christenthum ^verwcnd-^
tenMeen, wie>die: Idee einer Eriteung^ «1^ Belreioiig' veti der
Die grieehUohe Philosoplue. II
dem Götllichen entgegen stehenden blinden Naturgewalt, durch
Erhebong^ zn einem über den Binflms der Naturicräfte hinamilie-
genden Standpunkt des göttlichen Lebens dem Christenäium den
Weg gebahnt habe. Um so ungünstiger urtheilt man dagegen
nicht Mos von dem Epikureismus, sondern auch dem Stoicismus.
Es versteht sich ja von selbst, dass ein System des Atheismus
und Eudamonismus , wie das epikureische, auch nicht die ge^
riagste Berührung mit dem Christenäium haben kann, aber auch
in Ansehung des Stoicismus scheint nichts einen grösseren Con-
trast zu bilden, als der Demuthssinn des glaubigen Christen und
die stolze Selbstgenügsamkeit des stoischen Weisen. Anders kann
man auch nicht urtheilen, wenn man nur solche Punkte in's
Auge fasst, in welchen die Gegensatze in ihrer schroffsten Spitze
iMrvortreten. Die Aufgabe ist aber auch hier, statt auf Emzeln-
iieiten zu sehen, alle jene Erscheinungen unter den allgemeinen
Gesichtspunkt der geschichtlichen Entwicklung zu stellen. Es
fragt sich daher, welche Stellung überhaupt die griechische Phi-
losophie seit ihrer Hauptepoche zum Christenthum hat?
In welchem ganz andern Lichte erscheint diese Frage, wenn
man auch nur an die bekannte, schon so oft zwischen Christus
uad Sokrates gezogene Parallele denkt I Hat diese Parallele ihre
Wahrheit darin, dass das Christenthum der Endpunkt einer Riclb^
tung i0t, welche wir auf dem Gebiete der heidnischen Religion
and Philosophie in ihren ersten Anfangen von Sokrates ausgehen
sehen, so haben auch alle dazwischen liegenden Hauptformen der
griechischen Philosophie eine vermittelnde Bedeutung für das Chri-
stenthum, und je genauer wir dem Gange folgen, welchen der
denkende Geist in dieser wichtigsten Periode der Geschichte der
griechischen Philosophie genommen hat, um so klarer wird uns
aach werden, warum das Christenthum gerade an dieser bestimm-
tem Stelle in die Weltgeschichte eingetreten ist. Setzt man frei-
lich das Wesen des Christenthums einzig nur in seinen übema-
töriichen Offenbarungscharakter, so ist nicht zu sehen, welches
Interesse es haben soll, den Gesichtskreis, aus welchem wir
seine Erscheinung zu betrachten haben, so weit zu ziehen und
selbst auf die mit Sokrates beginnende Epoche zurück zu gehen.
Aber das Christenthum hat ja in jedem Fall auch eine acht mensch-
liche Seite, und je scharfer wir seine ersten Anfange in's Auge
IS Erster Abschnitt. Der Eintritt des Christenthums.
Gassen, die Art und Weise, wie es sich selbst in die Welt ein-
fuJirte und den Eingang zu den Herzen der Menschen zu gewin-
nen suchte, um so unmittelbarer erscheint es uns in seinem acht
menschlichen Charakter. In dem Ersten,' womit es sich selbst
ankündigt, in der Forderung des Insichgehens, der ^«raWa, die
es an den Menschen macht, ist auch schon die Beziehung, ih
welche es sich zum Menschen setzt, und der ganze Standpunkt^
von welchem aus es das Yerhaltniss des Menschen zu Gott auf-
fasst, ausgesprochen. Es lasst vor allem den ernsten Ruf an den
Menschen ergehen, den Blick in sein Inneres zu richten und in
sich selbst einzukehren, sich selbst in der Tiefe sdnes eigenen
Selbstbewusstseins kenaien zu lernen, mm zu wissen, in welchem
VerhältnisS er zu Gott steht und in welches er kommen soll, aller
in seiner sittlichen Natur liegenden, das Verlangen der Erlösung
weckenden Bedürfnisse in ihrem ganzen Umfang sich bewusst zu
werden. Es ba*uht mit Einem Worte alles, was das Christenthum
als ReKgim im absoluten Sinn ist, darauf, dass der Mensch sich
als sittliches Sid)jekt weiss. Ware nicht das sittliche Bewusstseiii
des Menschen in allen jenen Beziehungen, welche ihm seine tie-
fere Bedeutung geben, schon zu seiner vollen Entwicklung ge-
kommen, so hätte auch das Christenthum nicht mit dem ihm eigeth-
Ihfimlichen Charakter einer acht sittlichen Religion in die Mensch-
heit eintreten können. Zum sittlichen Subjekt ist aber der Mensch
erst dadurch geworden, dass überhaupt der Subjektsbegriff, das
Princip der Subjektivität, in ihm zum Bewusstsein gekommei^ ist.
Ist nun eben diess die epochemachende Bedeutung des Sokrates ^>,
die Einkehr des Subjekts in sieh, das Insichgehen des Menschen,
die Zurückziehung des Geistes aus der Aussenwelt in das Innere
der Subjektivität, um in dem Inhalt des begrifflichen Denkens das
an sich Wahre und Wirkliche anzuschauen, und ebenso auf dem
praktischen Gebiet durch die Zvirückfährung der Tugend auf das
Wissen, die Forderung der moralischen Selbsterkenntniss, die Ver-
tiefixng des sittlichen Bewusstseins in sich, in der Innern Selbst-
gewissheit des Subjekts die Norm des Handelns zu haben, so sehen
wir von diesem Punkte aus in den auf das allgemeine Wesen
' 1) Miah vergldche meine Schrift: das Christliche des PIstonismtts, oder
Sojorates imd ChriätB«. Tfibingen »1837* S. %0 t ,
Die gHechiMhe PhflosopUl«. 18
der Dinge gerichteten Erkenntnisstheorien des Piaio mid Ari-
stoteles, in den ethischen Systemen der Stoiker nnd Epikureer
nnd in den weiter an sie sich anschliessenden Richtungen der
Skepsis und des Eklekticismus eine Reihe von Entwicklungsmo-
menten vor uns, in welchen das praktische Interesse immer mehr
das Uebergewicht über das theoretische erhielt, und die sitt«
liehe Natur des Menschen unter demselben Gesichtspunkt, ans
welchem auch das Christenthum sie auffassen muss, zürn Haupt-*
gegfenstand der denkenden Retrachtung gemacht wurde. Am un-
mittelbarsten und angelegentlichsten beschäftigten sich die beiden
Systeme der Stoiker und der Epikureer mit der sittlichen Auf-
gabe des Menschen und den Redingungen, unter welchen sie er-
reicht wird. Alle jene so vielfach erörterten Fragen über die Idee
des Guten oder das höchste Gut, das Yerhältniss der Tugend und
der Glückseligkeit, den Werth des sittlichen Handehui^ u. s. w. sind
nur der ethische Ausdruck für dieselbe Hauptfrage, welche das
Christenthum von seinem religiösen Standpunkt aus dem Menscheii
stellt So entgegengesetat die Richtungen waren, welche die beiden
Systenie nahmen, so diente doch ihr Gegensatz nur um so mehr
dazu, das sittliche Rewusstsein zu wecken und nach allen Seiten
80 zu erweitem und auszubilden, dass dadurch der Roden vor-
bereitet wurde, auf welchem das Christenthum seine höhere sit^
fich-religiöse Aufgabe realisiren konnte. Mag auch der Stoicis-
mus durch die Strenge und Reinheit seiner sittlichen Grundsitze
den unbedingten Vorzug vor demEpikureismus zu verdienen schei-
nen, so ist dagegen auch bei dem letztem mit Recht anerkannt
worden 0) dass er, indem er den Menschen von der Aussenwelt
in sich selbst zurückführte und in der schönen Menschlichkeit
eines in sich befriedigten gebildeten Gemüths das höchste Glück
suchen lehrte, in semer weicheren Weise so gut wie der Stoicis-
mas in seiner strengereij, zur Entwicklung und Verbreitung enteil
freien und universellen Sittlichkeit beigetragen hat Reide Systeme
gingen von demselben leitenden Gedanken der nacharistotelischeii
Nrilosophie aus, derFdrderung, dass sich das Subjekt in sein reines
Selbstbewusstsein zurückziehe, um in diesem seine unbedingte
1) Man Tgl. ZsLCtiB, die Philosophie der Griechen 5> 1« Tflbiogeii
1852. S. S63 f.
14 Erster Absclmitt Der Eintritt des Christenthoms.
Befriedigung zu finden , indem aber das eine die Bestimmung und
die Glückseligkeit des Menschen allein in der Unterordnung des
Einzekien unter die Vernunft und das Gesetz des Ganzen in der
Tugend, das andere in der Unabhängigkeit des Individuums von
lUem Aeussem und in dem Bewusstsein dieser Unabhängigkeit^
in der Ungestörtheit des individuellen Lebens, in der Schmerz«*
losigkeit fand, und so beide nur auf entgegengesetzten Wegen auf
dasselbe Ziel hinstrebten, die Freiheit des Selbstbewusstseins,
stellten sie sich ebendamit auf einen mit dem religiösen Grundbe-
wusstsein des Christenthums sehr contrastirenden Standpunkt Das
Ideal des stoischen Weisen ist dem Christenthum ebenso fremd,
wie das des epikureischen, und. das gleiche Bestreben der beiden
Systeme, den Menschen frei auf sich selbst zu stellen, und in
der Unendlichkeit seines denkenden Selbstbewusstseins von dem
Aenssern schlechthin unabhängig zu machen, steht in beiden in
demselben Gegensatz zu dem Abhängigkeitsgefühl des Christen-
thums. Wenn aber selbst schon der Stoiker sich genöthigt sah,
von der Höhe seines sittlichen Idealismus herabzusteigen, und in
der Rücksicht auf das praktische Bedürfniss seine Schranke an-^
zuerkennen, so darf man ja nur dem weiteren Gange, welchen
die griechische Philosophie von jenen Systemen zu der Skepsis,
als einer neuen Form ihrer Entwicklung, nahm, folgen, um zu
sehe», wie jene Schrankenlosigkeit des Bewusstseins zuletzt nur
dahin führte, dass man durch den Widerspruch so entgegenge-
setzter, sich gegenseitig aufhebender Richtungen der Schranken
seines Wissens sich bewusst wurde, und durch den völligen Ver-
zicht auf das Wissen sich in sich selbst zurückzog. Und da nun
auch das sich in sich selbst zurückziehende Subjekt in seiner ab-
strakten, auf sich selbst beruhenden Subjektivität sich nicht so
schlechthin unthätig verhalten konnte, dass es sich nicht dem
Bineft oder dem. Andern als dem Wahrscheinlichem zuwandte,
80 ging aus der Skepsis selbst wieder die eklektische Richtung
iKTVor, als diejenige Denkweise, welche nicht nur durch die Ai|s-
wahl des Bebten aus dem Vorhandenen und die Lostrennung des
Einzelnen. aus der Consequenz des Systems das Sphroife und EiU'*
seitige der früheren Standpunkte milderte, sondern sich auch dazu
^gnetOf daß religiöse Interesse mit dem praktischen zu verknü-
pfen. Der Eklekticismus, wie er in der Zeit um die Erscheinung
Die griechische Philosophie. 15
des ChristenUiums die am meisten verbreitete Denkweise war,
bildete sich eu einer Popularphilosophie und natürlichen Theologie
aus, die in den Schriften der Hauptvertreter dieser Richtung,
eines Cicero, Seneca, Epiktet, Marc-Aurel, so viele dem Christen-
tham verwandte Elemente enthält, dass wir in ihren Ansichten
und Lehren nicht nur die bewährtesten und dem praktischen Inter*-
esse am meisten entsprechenden Resultate aller früheren Unter-
suchungen vor uns haben, sondern auch schon ganz auf dem
Boden einer christlichen Religions- und Sittenlehre zu stehen glau-
ben und nicht selten noch besonders durch den christlich Jaulen-
den Inhalt einzelner Sätze überrascht werden. Der feste Punkte
von welchem diese eklektische Ansicht ausging, die für die ver-
schiedenen Meinungen, die sie zu prüfen hatte, auch einen Maassr^
stftfo der Entscheidung haben musste, ist bei Cicero namentlioh,
dem bekanntesten und populärsten dieser Eklektiker, das un-
mittelbare Bewusstsein, die innere Selbstgewissheit , das natürr^
liehe Wahrheitsgefühl oder das angeborene Wissen. Die Keime
der Sittlichkeit sind uns angeboren, die Natur hat unserem Geiste
nicht blos eine sittliche Anlage, sondern auch die sittlichen Grund-:
hegriSe selbst vor aller Unterweisung als ursprüngliches Mitgift
verliehen, hur die Entwicklung dieser angeborenen Begriffe liegt
uns ob. Je näher der Einzelne noch der Natur steht, um so rei-
ner wird er diese selbst in sich abspiegeln, wir lernen von den
Kindern, was der Natur gemäss ist Auf dem gleichen Grunde
ruht der Glaube an die Gottheit: vermöge der Gottverwandtschaft
des menschUcben Geistes ist das Gottesbewusstsein unmittelbar
mit dem Selbstbewusstsein gegeben , der Mensch darf sich nur
seines Ursprungs erinnern , um zu seinem Schöpfer geführt ztt
werden. Die Natur selbst belehrt uns daher über das Dasein
Gottes, und der stäriiste Beweis für diese Wahrheit ist ihre allf-
gemeine Anerkennung 0* Wie klar sehen wir schon in dieseii
wenigen Sätzen die Grundzüge einer natürlichen Theologie., die
in der Folge innerhalb des Christenthums selbst auf acht chrjstr-
lichem Grunde sich weiter fortbaute« Ist das Selbstbewusstseiii
unmittelbar auch das Gottesbewusstsein, so ist diese Ansicht hie««,
mit schon auf dem Wege, in letzter Beziehung auch ihr Ursprung-*
1) Vgl. ZjELhWt a. «• 0« &. $71 fr
16 Erster Absohnitt Der Eintritt dei ChfUtenthami.
liches Wissen als ein Mos gegebenes zu betrachten , und in dem
unmittelbaren Bewusstsein aus einer hohem, über dem endlichen
Subjekt stehenden Erkenntnissquelle die Offenbarung der Gottheit
zu empfangen. Ist doch in der Folge selbst der Neuplatonismus,
in welchem der Begriff einer solchen Offenbarung seine höchste,
freilich nur spekulative, Vollendung erhielt, aus demselben Ek-
lekticismus hervorgegangen.
Nehmen wir alle diese Momente zusammen, so ergibt sich
uns aus ihnen, wie das Christenthum, auch von dieser Seite be-
trachtet, auf einem Punkte in die allgemeine Entwicklungsgeschichte
der Menschheit eintrat, auf welchem wir von selbst auf einen
sehr beziehungsreichen Zusammenhang zurückgewiesen werden.
Es ist derjenige Punkt, auf welchem in der heidnischen Welt das
sittliche Bewusstsein sich schon in seiner tiefern Bedeutung auf-
geschlossen hatte und das Geistigste und praktisch Wichtigste,
was die griechische Philosophie als Resultat der ganzen Reihe ihrer
ethischen Bestrebungen aus sich hervorgebracht hatte, der we-
sentliche Inhalt des allgemeinen Zeitbewusstseins geworden war.
Es Stand als allgemein anerkannte Wahrheit fest, dass der Mensch
ein sittliches, unter eine bestimmte sittliche Lebensaufgabe ge-
stelltes Subjekt sei. Das Christenthum ist selbst der Hauptpunkt,
in welchem die verschiedenen, dasselbe Ziel verfolgenden Rich^
tungen zusammentreffen, um in ihm ihren festbestimmten Begriff
und inhaltsreichsten Ausdruck zu erhalten. Es ist diess die der
heidnischen Welt zugekehrte Seite des Christenthums, auf wel-
cher es sich uns in seinem weltgeschichtlichen Zusammenhang dar-
stellt, da es aber als die absolute Religion auf gleiche Weise die
Einheit der beiden andern Religionen ist, so ist auch die andere
gegen das Judenthum hin liegende Seite in Betracht zu ziehen,
um zu sehen, wie es auch von dieser Seite alles in sich begreift,
was eine höhere geistige Bedeutung gewonnen hatte.
-Zu dem Judenthum, auf dessen Boden das Christenthum selbst
hervortrat, steht es in einem weit engeren und unmittelbareren
Yerhältniss. Es will selbst nur das vergeistigte Judenthum sein,
nnd geht mit den tiefsten Wurzeln seines Ursprungs in den Bo-
den der alttestamentlichen Religion zurück. Wie im Heidenthum
in der griechischen Philosophie der Inhalt des sittlichen Bewusst-
seins sich bis zu der Stufe entwickelt hat, auf welcher das Chri-
Dm JadMithnm. 17
stenthum selbst sich mit ihm zusammenschliessen konnte, so theilt
es mit dem Judenthum dasselbe religiöse Interesse. Der speci-
fische Vorzug des Judenthums vor allen Religionsformen des Hei-
deidiains ist sein reiner, monotheistisch geläuterter Gottesbegriff,
welcher seit der ältesten Zeit die wesentliche Grundlage der alt-
testamentlichen Religion war. In seinem Gottesbewusstsein weiss
ach daher das Christenthum vor allem mit dem Judenthum Eins,
der Gott des Alten Testaments ist auch der Gott des Neuen, und
dies, was das Alte Testament über die wesentliche Verschieden-
heit Gottes von der Welt, die absolute Erhabenheit und Heilig-
keit seines Wesens lehrt, ist auch ein wesentlicher Bcstandtheil
der christlichen Lehre. Aber der alttestamentliche Gottesbegriff
hat auf der andern Seite auch ein so acht nationales Gepräge,
dass der ganze damit zusammenhängende und daraus hervorge-
gangene Partikularismus in dem entschiedensten Gegensatz zum
Christenthum steht. Von allem Einseitigen und Mangelhaften dieser
Art, von allem, was nur dem beschränkten Gesichtskreis der jü-
dischen Theokratie angehört, oder noch den anthropomorphischen
und anthropopathischcn Charakter der alterthümlichen Anschau-
ungsweise an sich trägt, musste der alttestamentliche Gottesbegriff
erst befreit und geläutert werden, wenn er für das Christenthum
auf seinem universellen und absoluten Standpunkt die adäquate
Form des religiösen Bewusstseins sein sollte. Der Gang, welchen
die Geschichte des jüdischen Volkes nahm, brachte es von selbst
mit sich, dass, wie überhaupt die religiösen Vorstellungen auf
verschiedene Weise sich modificirten, so auch das religiöse Be-
wusstsein in seiner fortschreitenden Entwicklung allmählig sich
erweiterte und vergeistigte, auf der andern Seite hatten aber die
Schicksale des Volkes auch die Folge, dass es nur um so mehr
an seinem beschränkten Partikularisinus , seinen nationalen Vor-
urtheilen und überlieferten Satzungen festhielt. Zu einer durch-
greifenden Veränderung kam es in dieser Beziehung erst unter
den Verhältnissen, in welchen die Juden in den nach Alexander
des Grossen Tode entstandenen Reichen, namentlich in Aegypten
und in einer Stadt, wie Alexandrien, sich befanden. Hier erfolgte
zuerst jene Umgestaltung des Judenthums, durch welche es aus
den Schranken seiner nationalen und politischen Abgeschlossen-
heit heraustrat, und sich dem Einfluss neuer ihm ursprünglich
B^tuti die drei ersten Jalirh. ^
r
l
iS Erster Abschnitt. Der Eintritt des Ghristentinuns.
fremder und widerstreitender Ideen öffnete 0* War schon durch
die Zerstreuung der Juden unter auswärtige Völker ein neues Mit-
telglied entstanden, das durch die Verschmelzung des Judenthums
mit griechischer Sitte und Bildung, die die natürliche Folge hie-
ven war, für den allgemeinen geistigen und religiösen Entwick-
lungsgang sehr wichtig werden musste, so erlangte der auf die-
sem Wege entstandene Hellenismus dadurch vollends seine grosse
weltgeschichtliche Bedeutung, dass aus ihm in der griechisch-
jüdischen Philosophie, wie sie in Alexandrien sich bildete, eine
ganz neue Form des Bewusstseins hervorging. Je kräftiger die
Juden an einem solchen Orte von den Einwirkungen des grie-
chischen Geistes berührt wurden, um so weniger konnten sie dem
Reize widerstehen, sich mit den Ideen und Lehren der griechi-
schen Philosophie genauer bekannt zu machen. Schon das Inter-
esse, das dabei zu Grunde lag, hätte ohne ein Hinausgehen über
den Standpunkt des reinen Judenthums nicht entstehen können,
je tiefer sie aber durch die fortgehende Beschäftigung mit der
jgriechischen Philosophie in sie hineingezogen wurden, um so
grösser musste mehr und mehr der Conflikt werden, in welchen
sie mit ihrem national religiösen Bewusstsein kamen. Auf der
einen Seite konnten sie sich des Interesses, das die neuen Ideen
für sie gewonnen hatten, nicht mehr entschlagen, auf der andern
behauptete aber auch der väterliche Glaube sein altes unveräus-
serliches Recht. Dieser Widerspruch musste daher irgendwie aus-
geglichen werden. Die Vermittlerin desselben wurde, wie bekannt
ist, die allegorische Schrifterklärung. Da nach der Ansicht, welche
der Jude von seinen Religionsschriften hatte, nichts wahr sein
konnte, was nicht auch schon in ihnen enthalten war, so mussten
sie auch die Quelle der neuen Ideen sein, die man in sich auf-
genommen hatte, und es kam nur darauf an, den rechten Schlüssel
zur Auslegung der Schriften des Alten Testaments zu haben, so
konnte man dieselben Ideen , die man , ohne sich dessen bewusst
zu sein, in sie hineingelegt hatte, aus ihnen auch wieder heraus-
erklären. Auf diese Weise entstand eine ganz neue Form des Ju-
1) Vgl. Georoi, die neuesten Gegensätze in Auffassung der alexandri-
nischen Religionsphilosophie, insbesondere des jüdischen Alexandrinismns
in nigen's Zeitschrift für hist. Theologie. 1859. H. 5. und 4.
Die «lexaiidrinisolte Religions-Philoioplue. 19
denthnms. Während man nur das Alte festzuhalten glaubte, hatte
man an die Stelle des Alten etwas ganz Neues gesetzt, und die
Schriften des Alten Testaments, die auch das Neue enthalten soll-
ten, waren dadurch die blosse Form für einen Inhalt geworden,
welcher weit über sie hinausging. Der eigenthümliche Charakter
dieses alexandrinischenJudenthums bestand darin, dass die Schran-
ken des alten jüdischen Partikularismus so weit durchbrochen und
aufgehoben wurden , als diess überhaupt möglich war, ohne den
Standpunkt der alttestamentlichen Religion völlig aufzugeben, die
Lehren derselben erhielten eine vielfach modificirte, im Allgemei-
nen freiere und geistigere Gestalt, es kamen neue Ideen hinzu,
die aus einer ganz andern als der jüdischen Weltanschauung ge-
nommen waren, und insbesondere wurde der alttästamentliche
GottesbegrifT weit über alles dasjenige hinausgerückt, was blos
der beschrankten Sphäre der jüdischen Theokratie angehörte. Die
grosse Bedeutung, welche die alexandrinische Religionsphilosophie
auf der höchsten Stufe ihrer Ausbildung, auf welcher sie uns in
den Schriften Philo's erscheint, in der Folge für die christliche
Theologie erhielt, ist der deutlichste Beweis für die nahe Ver-
wandtschaft der ihr zu Grunde liegenden Denkweise mit dem Geiste
des Christenthums, hier haben wir ihr blos in dem Kreise weiter
nachzugehen, in welchem sie mit dem Christenthum auf dem Bo-
den seines Ursprungs in die nächste Berührung kam. Von diesem
Gesichtspunkt aus sind die beiden Sekten der Therapeuten und
Essener, insbesondere die letztern, eine sehr beachtenswerthe
Erscheinung. Wie die Therapeuten das Mittelglied zwischen dem
griechisch-alexandrinischen Judenthum und den palästinensischen
Essenern sind, so gehören die letztern selbst, ungeachtet der so
nahen Beziehung, in welcher sie zu den ägyptischen Therapeuten
stehen, mit den Sekten zusammen, in welche sich das palästinen-
sische Judenthum theilte, als diejenige Form desselben, in wel-
cher die griechisch-alexandrinische Anschauungsweise auch für
den palästinensischen Juden das Interesse einer tief religiösen Le-
bensansicht gewonnen hatte. Eben diess setzt sie auch in eine
sehr nahQ Beziehung zum Christenthum. So wenig auch daran zu
denken ist, dass das Christenthum selbst seinen Ursprung aus
dem Essäismus genommen habe, so wenig lässt sich doch ver-
kennen, dass die religiöse Lebensansicht der Essener mit dem
2»
iO Erster Abselmitt. Der Eintritt des ChristenihiimB.
nrsprünglichen Geiste des Christenthums weit näher verwandt ist,
als alles dasjenige, was den unterscheidenden Sektencharakter der
Pharisäer und Sadducäer ausmacht. Wenn sie auch auf äussere
Gebräuche grossen Werth legten, so waren sie doch weder in
den Satzungen und Traditionen des pharisäischen Judenthums, noch
in der Aeusserlichkeit des levitischen Tempelcultus befangen, ihre
Religiosität hatte einen geistigern und innerlichem Charakter und
eine durchaus praktische Richtung. Ihre höchste Lebensaufgabe
war, sich über das Materielle und Sinnliche zu erheben, und ihr
ganzes Thun zu einer steten Uebung alles dessen zu machen, was
sie diesem Einen Ziele zuführen konnte. Als Seelenärzte, wie sie
ihr Name Essener bezeichnete, wollten sie von allen Mitteln Ge-
brauch machen, die dazu geeignet schienen, der Seele ihr ge-
sundes, heilkräftiges Leben zu verleihen, und einen für die Ein-
flüsse und Offenbarungen der höhern Welt stets ofi^enen Sinn zu er-
halten. Neben Anderem, was uns an den Geist des Urchristenthums
erirmern kann, wie das Verbot des Eides, der Eifer in der Uebung
der Pflichten der Menschenliebe, die Gemeinschaft der Güter, ist
ein besonders charakteristischer Zug der Grundsatz der freiwil-
ligen Armuth, eine Ansicht von der Armuth, welcher zufolge sie
lieber arm in dieser Welt leben und in ihr so wenig als möglich
besitzen wollten, um desto reicher an Gütern der künftigen Welt
zu werden ^), derselbe Armuthssinn, um dessen willen das Chri-
stenthum seine ersten Jünger als Arme im Geiste selig preist
Ist mit Recht anzunehmen, dass der Essäismus auch in solchen,
in welchen er nicht gerade mit allen jenen Zügen ausgeprägt war,
mit welchen die Sekte der Essener geschildert wird, seine Freunde
und Anhänger hatte, dass er überhaupt eine weitverbreitete Denk-
weise und eine mit verschiedenen Modifikationen bald mehr bald
weniger streng geübte Lebensansicht war, dass vom essenischen
Geiste alle diejenigen mehr oder minder berührt waren, die in
der allgemeinen Grundrichtung einer vom Aeussern in das Innere
gekehrten Religiosität unter sich zusammen stimmten, so ist ge-
1) Vgl. meine Comment. de Ebionitarum orlgine et doctrina ab Esse-
nis repetenda 1831, und die daselbst S. 30 aus Philo, Quod über sit q. v.
ed. Mang. Vol. II. S. 457 de vita eontempl. S. 473 und Josephus de bello
jud. 2| 8i 3. angefahrten Beweisstellen, auch Dähne, die jüd.-alex. Reli-
gionsphilosophie I. S. 476 f.
Der Essäigmas. Sl
wiss der Essäismus einer der geistigsten Berührungspunkte zwi-
schen dem Judenthum und Christenthum. Und wie nahe liegen
die so verwandten Erscheinungen des religiösen Lebens auch äus-
serlich zusammen, da die Essener in denselben jüdischen Grenz-
landem einer mit Heiden vermischten Bevölkerung, in welchen
das Christenthum seine Predigt von der Seligkeit der Armen er-
schallen liess, ihre Wohnsitze hatten! Wo konnte das den Armen
gepredigte Evangelium empfänglichere Herzen treffen , als in die-
sen Stillen im Lande, deren Frömmigkeit so manche der Grund-
stimmung, aus welcher das Christenthum selbst hervorging, ver-
wandte Elemente in sich schloss?
So laufen demnach alle diese verschiedenen, von so verschie-
denen Punkten ausgehenden Richtungen immer wieder in demsel-
ben Hauptpunkte zusammen, und das Christenthum erscheint, in
seinen weltgeschichtlichen Zusammenhang hineingestellt, als die
natürliche Einheit aller dieser Elemente, die bei aller Verschie-
denheit und Mannigfaltigkeit einem und demselben Entwicklungs-
^nge angehören, welcher, je weiter er allmählig fortschreitet,
and immer schärfer alles von sich ausscheidet, was nur das Ge-
präge des Partikulären und Subjektiven an sich trägt, zuletzt
seinen Ausgangspunkt nur da haben kann, wo der Ursprung des
Christenthums liegt Wie sollte also das Christenthum selbst nur
als eine rein übernatürliche Erscheinung anzusehen sein, als ein
schlechthiniges Wunder, das ohne alle natürliche Vermittlung in
die Weltgeschichte hereingekommen ist, und eben desswegen aus
keinem geschichtlichen Zusammenhang begriffen werden kann,
wenn uns doch überall, wohin wir uns auch wenden, so viele
Anknüpfungs- und Berührungspunkte begegnen, in welchen es
mit der ganzen Entwicklungsgeschichte der Menschheit auPs In-
nigste zusammenhängt? Es enthält nichts, was nicht auch durch
eine ihm vorangehende Reihe von Ursachen und Wirkungen be-
dingt wäre, nichts, was nicht längst auf verschiedenen Wegen
vorbereitet und der Stufe der Entwicklung entgegen geführt wor-
den ist, auf welcher es uns im Christenthum erscheint, nichts,
was nicht, sei es in dieser oder jener Form, auch zuvor schon
als ein Resultat des vernünftigen Denkens, als ein Bedürfniss des
menschlichen Herzens, als eine Forderung des sittlichen Bewusst-
seins sich geltend gemacht hätte. Wie kann man sich demnach
SS Erster Abschnitt Das tlrobristenthum.
wundern, dass das, was längst auf so verschiedene Weise das
Ziel alles vernünftigen Strebens war, und dem mehr und mehr sich
entwickelnden Bewusstsein der Menschheit als sein wesentlichster
Inhalt mit innerer Nothwendigkeit sich aufdrang, endlich auch in
der Form, in welcher es im Christenthum hervortrat, seinen ein-
fachsten, reinsten und natürlichsten Ausdruck gefunden hat?
Allein am Christenthum selbst sind ja sehr verschiedene Seiten
seines Wesens zu unterscheiden, die nicht unter denselben Ge-
sichtspunkt gestellt werden können. Es fragt sich daher, ob das
Gesagte von dem Christenthum in seinem ganzen Umfang gilt, oder
nur von einer bestimmten Seite desselben , ob gerade von dem-
jenigen, was wir als den eigentlichen Kern und substanziellen Mit-
telpunkt desselben betrachten müssen. Betrachtet man das Chri-
stenthum aus dem bisher erörterten Gesichtspunkt, so versteht sich
freilich von selbst, dass man sich vor allem an diejenige Seite des-
selben hält, auf welcher alle jene Anknüpfungs- und Berührungs-
punkte liegen, die es in eine so nahe und innige Beziehung zu der
ganzen vorangehenden Entwicklungsgeschichte der Menschheit
setzen. Aber macht denn das, was auf dieser Seite liegt, auch das
ursprüngliche und substanzielle Wesen des Christenthums aus, ist
es nicht das blos Secundäre und Untergeordnete ? Kann man über-
haupt von dem Wesen und Inhalt des Christenthums reden, ohpe
zum Hauptgegenstand der Betrachtung vor allem die Person seines
Stifters zu machen, und den eigenthümlichen Charakter des Chri-
stenthums eben darin zu erkennen, dass es alles, was es ist, einzig
nur durch die Person seines Stifters ist, so dass es demnach sehr
gleichgültig wäre, das Christenthum seinem Wesen und Inhalt nach
aus dem Gesichtspunkt seines weltgeschichtlichen Zusammenhangs
aufzufassen, da ja seine ganze Bedeutung durch die Persönlichkeit
seines Stifters so bedingt ist, dass die geschichtliche Betrachtung
nur von ihr ausgehen kann ?
Diese Frage führt uns auf die Quellen der evangelischen Ge-
schichte zurück, und auf den Unterschied, welcher den neuesten
kritischen Untersuchungen zufolge unter ihnen gemacht werden
muss 0* Die Quellen der evangelischen Geschichte sind die vier
1) Man vergleiche meine Schrift: Kritische Untersuchungen über die
kanonischen Evangelien. Tüb. 1847. Köstlin, der Ursprung und die Kom-
position der synoptischen Evangelien. Stuttg. 1853'
Die Erangelieii.
Evangelien , aber die grosse Frage ist, in welches Verhältniss man
das vierte zu den drei ersten setzt Man darf es sich nicht ver-
bergen, dass die ganze Auffassungsweise des Christenthums eine
wesentlich verschiedene ist, je nachdem man entweder die durch-
gangige Uebereinstimmung der vier Evangelien voraussetzt, oder
die Differenzen, welche zwischen dem johanneischen Evangelium
und den drei synoptischen stattfinden, als einen Widerspruch aner-
kennt, welcher auf dem geschichtlichen Wege nicht gelöst werden
kann O- Nimmt man an, dass die vier Evangelien harmonisch zu-
sammenstimmen, so ist die absolute Bedeutung, welche das johan-
neische Evangelium der Person Jesu gibt, so schlechthin bestim-
mend für die ganze Auffassung der evangelischen Geschichte, dass
man im Christenthum , als der Thatsache der Menschwerdung des
ewigen Logos, nur ein Wunder im höchsten absoluten Sinne sehen
kann, das Menschliche verschwindet im Göttlichen, das Naturliche
im Uebematurlichen, und bei allen Differenzen zwischen den drei
ersten Evangelien und dem vierten kann die entscheidende Aukto-
ritat nur auf die Seite des letztern fallen. Hiemit ist nun aber die
d^eschichtliche Auffassung der evangelischen Geschichte aufgege-
i) Die Hauptfi'age, um welche es sich hier handelt, ist nicht die Authen-
tie des johanneischen Evangeliums, wer auch das Evangelium geschrieben
haben mag, der Apostel Johannes oder ein Anderer, es lässt sich die evi-
dente Thatsache nicht läugnen, dass die evangelische Geschichte selbst im
vierten Evangelium eine wesentlich andere ist, als in den drei ersten. Da
man nur die Wahl hat, diese geschichtliche Differenz entweder anzuerkennen
oder zu läugnen, so ist hier der Punkt, von welchem zwei so wesentlich
verschiedene Richtungen ausgehen, dass sich ihre Divergenz auf die ganze
Auffassung der Kirchengesohichte erstreckt. Wer über jene Differenz dog-
matisch hinwegsieht, wird auch die Geschichte der Kirche überhaupt mit
ganz andern Augen betrachten, als wer ohne ein solches Interesse überhaupt
den Grundsatz hat, das geschichtlich Gegebene aus dem rein geschicht-
lichen Gesichtspunkt zu betrachten. Was übrigens die Frage über den Ver-
fasser betrifft, so fahre man nur fort, das bekannte kritische Dilemma in
Betreff des johanneischen Ursprungs des Evangeliums und der Apokalypse
in der Weise zu schärfen, wie diess von Lücke in der neuen Auflage seiner
Umleitung in die Offenbarung des Johannes 1852. S. 659 — 744. mit allem
Recht geschehen ist, so wird keine Sophistik es hindern können, dass nicht
bei unbefangener Abwägung der äussern Zeugnisse für den johanneischen
Ursprung der beiden Bchriften das entschiedene Uebergewicht auf die Seite
der Apokalypse fällt.
94 Erster Absdhnltt. Das Urcbristenthum.
ben, das Wunder ist so überwiegend und übergreifend, dass man
in ihr nirgends auf einem festen historischen Boden steht; dazu
kommt, dass, um nur dem Einen Evangelium das Recht seines ab-
soluten Wunders zu lassen, die historische Glaubwürdigkeit der
drei andern Evangelien so herabgesetzt werden muss , dass sie im
Grunde gar nicht mehr als historische Quelle gelten können. Aus
allen diesen Schwierigkeiten ist nur dadurch herauszukommen,
dass man sich überzeugt, das johanneische Evangelium stehe über-
haupt in einem ganz andern Yerhältniss zu den drei andern, als
man gewöhnlich annimmt. Kann ein Evangelium, wie das johan-N
neische in seinem Unterschied von den synoptischen und seinem
ganzen Geist und Charakter nach ist, unmöglich für eine rein ge-
schichtliche Darstellung auch nur in dem Sinne gehalten werden,
in welchem es die synoptischen Evangelien sind, so kann man sich
bei allen Differenzen der evangelischen Geschichte nur auf die
Seite der letztern stellen. Dadurch erhält man erst, während die
Gleichstellung des Johannes mit den Synoptikern nur dazu dienen
kann, durch den von der einen Seite wie von der andern mit dem-
selben Recht erhobenen Widerspruch das Ganze der evangelischen
Geschichte in Frage zu stellen, eine festere geschichtliche Basis,
nur muss auch auf ihr der Kreis der kritischen Geschichtsbetrach-
tung noch enger gezogen werden. Nach den Ergebnissen der
neuesten Untersuchungen über das Yerhältniss der Evangelien zu
einander können auch die Synoptiker nicht schlechthin einander
gleichgestellt werden. Da das Markusevangelium in einem solchen
Abhängigkeits-Yerhältniss zu den beiden andern steht, dass wir in
ihm keine selbstständige Quelle annehmen können 0? dem Lukas-
evangelium aber der Paulinismus seines Yerfassers gleichfalls das
Gepräge einer eigenthümlichen Darstellung aufgedrückt hat, so ist
es nur das Matthäusevangelium, auf das wir als die relativ ächteste
und glaubwürdigste Quelle der evangelischen Geschichte zurück-
geführt werden. Fassen wir aber den Inhalt des Matthäusevange-
liums selbst näher in's Auge, so können wir auch in ihm wieder
verschiedene Bestandtheile unterscheiden, den Lehrinhalt und die
1) Man vergleiche meine Schrift: Das Markusevangeliam nach seinem
Ursprung und Charakter. Tüb. 185i. Theol. Jahrb. 1853. S. 54 f. Köstlin
a. a. 0. S. 310 f.
'.X.
Die Eyangelien. S5
rein geschichtliche Erzählung. Wie schon die alte Tradition von
Matthaus meldet, er habe die Ao/^or, die Ausspräche und Reden Jesu,
den Hebräern in hebräischer Sprache schriftlich verfasst, so machen
auch in unserem griechischen Matthäusevangelium die Lehrvor-
trage und Reden Jesu, wie vor allem schon an der die ganze öffent-
liche Wirksamkeit Jesu so bedeutungsvoll eröffnenden Bergrede
zusehen ist, so sehr den überwiegenden Inhalt, die eigentliche
Substanz des EvangeUums aus, dass wir daraus mit Recht schliessen
können, welches Gewicht von Anfang an darauf gelegt wurde, das
Leben und die ganze Erscheinung Jesu unter diesem Gesichtspunkt
aufzufassen. Und der Inhalt dieser Aussprüche und Reden ist nicht
Kunächst das, was eine andere ihrem ganzen Charakter nach
wesentlich verschieden erscheinende Darstellung zur principiellen
Voraussetzung auch der Lehre macht, die Person Jesu selbst und
ihre übermenschliche Würde, sondern das menschlich Nahe, das
das sittlich religiöse Bewusstsein unmittelbar Ansprechende, die
einfache Antwort auf die zuerst sich aufdringende Frage, wie der
Mensch gesinnt sein muss, und was er zu thun hat, um in das Reich
Gottes zu kommen. Es soll hiemit nicht gesagt werden, dass die
Person Jesu nicht auch im Matthäusevangelium zu ihrer vollen Be-
deutung kommt, dass nicht selbst schon die Bergrede sie in der-
selben hindurchblicken lässt, gleichwohl aber steht das Persönliche
in der ganzen Umgebung der Bergrede gleichsam noch im Hinter-
grund der Scene, es ist nicht sowohl die Person, die der Rede ihre
Bedeutung gibt, als vielmehr das Inhaltsschwere der Rede, das die
Person selbst erst in ihrem wahren Licht erscheinen lässt, es ist die
Sache selbst, die hier spricht, die innere, unmittelbar an die Herzen
der Menschen dringende Macht der Wahrheit, die sich hier in ihrer
weltgeschichtlichen Bedeutung ankündigt.
Worin besteht nun aber dieses Unmittelbare und Ursprüng-
liche, dieses Principielle des Christenthums, wie es sowohl in der
Bergrede, als auch in den Parabeln und dem übrigen Lehrinhalt des
Matthäusevangeiiums ausgesprochen ist? Es lässt sich kurz in fol-
gende Hauptmomente zusammenfassen.
Tiefer und umfassender können wir nirgends in den innersten
Hittelpunkt der Grundanschauung und Grundstimmung hinein-
blicken, aus welcher das Christenthum hervorgegangen ist, als in
den Makarismen der Bergrede. Was spricht sich in allen jenen
86 Erster Absolinitt. Das Urchristenthum.
Seligsprechungen der Armen im Geiste , der Traurigen, der Sanft-
müthigen, der nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden,
der am Herzen Reinen, der Friedfertigen, der um der Gerechtigkeit
willen Verfolgten anders aus, als ein vom tiefsten Gefühl des
Druckes der Endlichkeit und aller Widersprüche der Gegenwart
durchdrungenes, aber in diesem Gefühl über alles Endliche und
Beschrankte weit übergreifendes, unendlich erhabenes religiöses
Bewusstsein? Der prägnanteste Ausdruck dieses urchristlichen
Bewusstseins ist die Armuth der mit Recht an der Spitze aller Selig-
gepriesenen stehenden Armen im Geiste ^). Unter diesen Armen
im Geiste darf man aber nicht nach der gewöhnlichen Erklärung
dieses Ausdrucks blos solche verstehen, die im Bewusstsein ihrer
geistigen Bedürfnisse sich innerlich arm und leer fühlen. Zum vol-
len Begriff dieser Armuth gehört wesentlich auch die äussere, leib-
liche Armuth, über welche man nicht hinwegsehen darf, da nicht
nur Lukas in der Parallelstelle 6, 20. statt der nrwxot tm nvevfiar^
des Matthäus schlechthin von den ntoaxot spricht, sondern auch der
Geschichte zufolge das Evangelium seine ersten Bekenner vorzugs-
weise nur im Kreise der Armen gewann. Geht man davon aus, so
ist diese Armuth im Geiste eine solche Armuth, welche geistig be-
trachtet das gerade Gegentheil dessen bedeutet, was sie äusserlich
zu sein scheint. Indem diese Armen das , was sie als Arme sind,
auch gern und willig sind , mit ihrem eigenen freien Willen nichts
anders sein wollen, als sie sind, gilt ihnen ihre Armuth als ein
Zeichen und Beweis davon, dass sie, wenn auch äusserlich arm,
doch nicht an sich arm sind, dass sie eben desswegen, weil sie hier
die Armen, nichts Habenden sind, um so gewisser dort das Gegen-
theil dessen sein werden, was sie hier sind. Sie sind die Armen,
die nichts haben und doch alles haben. Sie haben nichts, weil sie
als leiblich Arme nichts von allem demjenigen haben, was zum Be-
sitz in dieser Welt gehört, und alles, was sie in der künftigen Welt
als ihr Eigenthum betrachten dürfen, für sie etwas blos Künftiges
ist. In diesem Nichtshaben ist das Element ihres Seins und Lebens
nur die Sehnsucht und das Verlangen nach dem, was sie nicht
haben, aber in diesem Sehnen und Verlangen haben sie an sich
schon alles, was der Gegenstand ihres Sehnens und Verlangens ist
1) Man vgl. meine krit. Untersnchongen S. 447 f.
Das ursprüngliche christliche Bewusstsein. j^
Sie sind als die nichts Habenden die alles Habenden, ihre Annuth
ist ihr Reichthum, das Himmelreich ist schon jetzt ihr eigenstes
Eigenthum, weil sie, so gewiss sie hier nichts haben, so gewiss
dort aUes haben. In diesem Kontrast des Habens und Nichthabens,
der Annuth und des Reichthums, der Erde und des Himmels, der
Gegenwart und der Zukunft hat das christliche Bewusstsein seine
reinste Idealitat als die ideale Einheit aller dem zeitlichen Bewusst-
sein sich aufdringenden Gegensätze. Alles, was das entwickeltste
dogmatische Bewusstsein umfassen kann, ist darin schon begriffen,
und doch hat es seine ganze Bedeutung nur darin, dass es noch die
amnittelbare Einheit aller Gegensätze ist. Alle jene Makarismen,
80 verschieden sie lauten, sind immer nur ein anderer Ausdruck
für dieselbe ursprüngliche Grundanschauung und Grundstimmung
des christlichen Bewusstseins. Es ist das den Gegensatz von Sünde
und Gnade an sich schon in sich begreifende , aber noch unent-
wickelte reine Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit, das als solches
audi schon alle Realität der Erlösung in sich hat. Je unmittelbarer
alle Gegensätze noch in ihrer Einheit zusammengehalten sind, um
so inhaltsreicher und kräftiger ist dieses ursprüngliche Bewusst-
sem, es ist nicht blos das intensivste Selbstbewusstsein, sondern
auch das übergreifendste Weltbewusstsein , wie es Jesus selbst in
den unmittelbar auf die Makarismen folgenden Worten ausspricht,
wenn er seine Jünger das Salz der Erde nennt, das nie- kraftlos
werden darf, wenn es nicht der Welt an der sie zusammenhaltenden,
and sie vor aller Verderbniss bewahrenden substanziellen Kraft
fehlen soll, das Licht der Welt, das nicht unter den Scheffel ge-
stellt werden darf, sondern vor aller Welt leuchten muss, damit
man die guten Werke derer, die ihr Licht leuchten lassen, sehe
und den Vater im Himmel preise.
Wie die Makarismen der Bergrede das, was der Christ in
seinem innersten Selbstbewusstsein ist, als das an sich Seiende auf
absolute Weise aussprechen, so gibt sich das Ursprüngliche und
PrincipieUe des Christenthums in der Form des absoluten sittlichen
Sollens sowohl in dem antithetischen, gegen die Pharisäer gerich-
teten Theile der Bergrede, als auch in dem weiteren Inhalt der-
selben kund, in welchem Jesus auf die Reinheit und Lauterkeit der
Gesinnung, die nicht blos in der äussern That, sondern in der in-
nem Gesinnung bestehende Sittlichkeit und den jede willkürliche
28 Erster Absolmitt. Das Urohristenthtim.
Ausnahme und Beschrankung, jeden falschen heuchlerischen
Schein, jede Halbheit und Getheiltheit ausschliessenden sittlichen
Ernst der Gesetzesbefolgung mit allem Nachdruck dringt. Es fragt
sich jedoch , . wiefern das Christenthum hiemit ein neues Princip
aufgestellt hat? Wenn Jesus selbst mit der Erklärung auftrat, er
sei nicht gekommen, Gesetz und Propheten aufzulösen, sondern zu
erfüllen, so scheint er sich selbst in ein rein affirmatives Verhältniss
zum A. T. gesetzt zu haben, und man kann sagen 0? der ganze
Unterschied zwischen der Lehre Jesu und dem Gesetz oder A. T.
sei nur quantitativ, nicht qualitativ zu nehmen. Es werde kein
neues Princip aufgestellt, sondern es werden nur die schon im Ge-
setz enthaltenen sittlichen Bestimmungen auf die ganze Sphäre des
sittlichen Gebiets bezogen, das unter ihren Gesichtspunkt zu stellen
ist. Es werde dem Gesetz nur zurückgegeben, was ihm nie hätte
entzogen werden sollen, die Erweiterung und Verallgemeinerung,
deren es an sich fähig ist, werde ausdrücklich auch ausgesprochen.
Diese Auffassung der Bergrede wird 'dadurch unterstützt, da^ es
immer nur einzelne Gebote sind, von welchen die Rede ist, um
ihnen die dem ursprünglichen Sinn des Gesetzes oder dem sitt-
lichen Bewusstsein entsprechende Bedeutung zu geben. Das All-
gemeine wird so zwar nie als solches in seiner abstrakten Allge-
meinheit ausgesprochen, wenn aber die einzelnen Bestimmungen,
in welchen die Erfüllung des Gesetzes besteht, immer wieder dar-
auf zurückkommen, dass dem Aeussern das Innere, der blossen
That als solcher die Gesinnung als das gegenübergestellt wird, was
allein dem Thun des Menschen seinen wahren sittlichen Werth gibt,
so ist diess ein vom Mosaismus wesentlich verschiedenes neues
Princip, schon sofern das, was das Gesetz zwar auch enthält, aber
nur an sich, nun auch ausdrücklich zur Hauptsache gemacht und
als Princip des Sittlichen ausgesprochen wird. Die quantitative Er-
weiterung wird von selbst zum qualitativen Gegensatz, es wird dem
Aeussern das Innere, der That die Gesinnung, dem Buchstaben der
Geist entgegengesetzt. Diess ist das wesentliche Grundprincip des
Ghristenthums , und in diesem Dringen auf die Gesinnung als das
Eine, worin der absolute sittliche Werth des Menschen besteht, ist
1) Man vgl. ßiTscHL, die Entstehung der altkatholischen Kirche. Bonn
1850. S. 27 f.
Das unprüngliche chmüiohe Princip. 89
es ein wesentlich Neues. Schliesst schon auf diese Weise das affir-
mative Yerhältniss, in das sich Jesus zum Gesetz setzte, auch das
Gegentheil in sich, den Gegensatz zum Gesetz, so begreift man
noch weit weniger, wie Jesus sogar sagen kann, es solle auch nicht
das Geringste vom Gesetz, keines seiner kleinsten Gebote aufge-
hoben werden. Wie konnte er diess sagen, wenn doch bald genug
das gerade Gegentheil hie von geschehen ist, sogar das ganze Ge-
setz für aufgehoben erklärt wurde, wie konnte er die fortdauernde
Gültigkeit aller und jeder Gesetzesbestimmungen behaupten, wenn
man auch nur an das Gebot der Beschneidung denkt? Da sich
nicht denken lässt, Jesus selbst sei sich so wenig des Princips und
Geistes seiner Lehre bewusst gewesen , so hat man nur die Wahl,
entweder seine Worte so ausschliessUch vom sittlichen Inhalt des
Gesetzes zu verstehen , dass das Ritualgesetz eigentlich gar nicht
dabei in Betracht kam, oder anzunehmen, dass sie erst in der Folge
diese strenger judaistisch lautende Fassung erhalten haben. Allein
nicht Mos zu dem A. T. verhielt sich Jesus so affirmativ als mög-
lich, selbst den Zusätzen der Pharisäer zum Gesetz und ihren Tra-
ditionen trat er nicht so entgegen, dass er zum offenen Bruch mit
ihnen aufgefordert hätte. Wenn er sich auch über ihre Uebertrei-
bungen hinwegsetzte, und gegen sie das an sich Vernünftige als
ein unveräusserliches und unwidersprechliches Recht geltend
machte, wie bei seinen als eine Sabbathsverletzung erscheinenden
Handlungen Matth. 12, 1 — 14., wenn er Zumuthungen ablehnte,
wie die Matth. 9, 14. 15, 1., so wurden sie doch auch von ihm als
die gesetzlich berechtigten Nachfolger des Moses anerkannt , sie
und die Schriftgelehrten sind es, die auf der Kathedra, dem Lehr-
end Gesetzgeberstuhl des Moses sitzen, und das Volk ist verpflichtet,
wenn auch nicht ihrem Beispiele, doch ihren Geboten zu folgen,
selbst die kleinlichen Vorschriften der pharisäischen Genauigkeit
der Gesetzesbefolgung werden von Jesus nicht geradezu verworfen,
MatÜL 23, 1 f. 23. Allein nichts desto weniger erklärte er ihre
Satzungen für schwere unerträgliche Lasten, deren Druck auf dem
Volke zu lassen demnach auch nicht seine Absicht sein konnte,
Matth. 23, 3. , und im Gegensatz gegen sie sprach er davon , dass
jede Pflanze, die sein himmlischer Vater nicht gepflanzt habe, mit
der Wurzel ausgerissen werde, Matth. 15, 13. Darauf war ja auch
seine Thätigkeit vorzugsweise gerichtet, wenn er die Bekämpfung
80 Erster Absohnitt. Das Urohriitentham.
des pharisäischen Wesens bei jeder Gelegenheit, die sich ihm dar-
bot, zu einer seiner wichtigsten Aufgaben machte. Bedenkt man,
welcher principielle Gegensatz schon dadurch gegeben war, so
begreift man, wie er, auch ohne ihn in seiner Allgemeinheit auszu-
sprechen, und bestimmte Folgerungen aus ihm abzuleiten, alles,
was er in sich schloss, und was von selbst aus ihm hervorgehen
musste, der weitern Entwicklung des Geistes seiner Lehre über-
lassen konnte. Wie sehr er selbst nicht blos des principiellen Ge-
gensatzes, sondern auch dessen, was er nothwendig zur Folge
haben musste, sich bewusst war, beweist der Ausspruch Matth.
9, 16., in welchem er nicht blos die Unverträglichkeit des Geistes
der neuen Lehre mit dem der alten erklärte , sondern auch noch
besonders das zu verstehen gab, dass, wenn auch er selbst noch so
viel möglich an die alten traditionellen Formen sich hielt, somit
auch den neuen Wein in die alten Schläuche legte, er diess doch
nur mit dem bestimmten Bewusstsein that, der neue Inhalt werde
bald genug die alte Form zerbrechen. Was aber dem neuen Prin-
cip den die alten Formen zerbrechenden, über alles übergreifenden
Inhalt gibt, worin anders könnte es bestehen, als in dem Zurück-
gehen auf das Innere der Gesinnung, auf alles dasjenige, was sich
in dem ganzen Bewusstsein des Menschen als das an sich Seiende,
als sein absoluter Inhalt ausspricht? Wie die Gesinnung rein und
lauter, von aller Selbstsucht frei sein soll, wie sie allein die Wurzel
ist, aus welcher das Gute als Frucht hervorgehen kann, so soll das
Bewusstsein des Menschen überhaupt auf das Eme, worin es seinen
absoluten Inhalt erkennt, gerichtet sein. Diess ist der durch die
ganze Bergrede hindurchgehende Grundgedanke, und je bedeu-
tungsvoller einzelne Ausspräche uns aus ihr entgegentreten, um so
unmittelbarer stellt sich uns in ihnen immer wieder jener absolute
Inhalt des christlichen Bewusstseins dar. Er schliesst, wie diess
der Ausspruch Matth. 6, 19—24. verlangt, jede Halbheit und Ge-
iheiltheit, jede Trennung und Schranke von sich aus, er gibt auch
allein der Forderung Matth. 7, 12., in welcher man schon so oft die
Bedeutung eines Princips der christlichen Sittenlehre finden wollte,
ihre principielle Bedeutung. Ist sich der Christ seines absoluten
Standpunkts bewusst , so muss er auch im Stande sein , von sich,
seinem eigenen Ich zu abstrahiren, und sich mit allen Andern so
Eins zu wissen, dass er jeden als ein mit ihm selbst gleichberech-
Das ursprüiigliche ohrisüiohe Prinoip. 91
tigtes Subjekt betrachtet Eben diess ist auch der Sinn, wenn Jesus
von jener Forderung sagt, sie sei der Hauptinhalt des Gesetzes und
der Propheten, oder gleichbedeutend mit dem alttestamentlichen
Gebot, den Nächsten zu lieben, wie sich selbst Liebt man den
Nächsten, wie sich selbst, so muss man auch alles Egoistische,
Subjektive, Partikuläre fallen lassen, über die Vielheit der ein-
zelnen Subjekte, deren jedes dasselbe ist, was wir sind, stellt
sich von selbst die Objektivität des Allgemeinen, in welchem alles
Partikuläre und Subjektive aufgehoben ist, und dieses Allgemeine
ist die Form des Handelns, vermöge welcher man gegen Andere
dasselbe thut, was man wünscht, dass Andere gegen uns thun,
das sittlich Gute ist somit das, was für alle gleich recht und gut
ist, oder für alle das gleiche Object ihres Handelns sein kann.
Es spricht sich also auch darin die Eigenthümlichkeit des christ-
lichen Princips aus, sich über das Aeussere, Zufällige, Partikuläre
zum Allgemeinen, Unbedingten, an sich Seienden zu erheben,
und den sittlichen Werth des Menschen nur in das zu setzen, was
seinen absoluten Werth und Inhalt in sich selbst hat Dieselbe
Energie des Bewusstseins, die das substanzielle Wesen der Sitt-
Gchkeit nur in dem innersten Kern der Gesinnung erfassen kann,
macht sich in der Forderung geltend, das individuelle Ich zum
allgemeinen, zum Ich der ganzen, in allen einzelnen Individuen
mit sich selbst identischen Menschheit aufzuheben. Von dieser
Forderung unterscheidet sich jenes Gebot nur dadurch, dass sie
in ihm auf ihren einfachsten practischen Ausdruck gebracht ist
In dem sittlichen Bewusstsein spricht sich demnach der ab-
solnte Inhalt des christlichen Princips aus. Was dem Menschen
seinen höchsten sittlichen Werth gibt, ist nur die Reinheit einer
über das Endliche, Partikuläre, rein Subjective sich erhebenden
acht sittlichen Gesinnung. Das Sittliche der Gesinnung ist aber
auch der bestimmende Maasstab für das Verhältniss des Menschen
zu Gott Dasselbe, was ihm seinen höchsten sittlichen Werth gibt,
setzt ihn auch in das adäquate, der Idee Gottes entsprechende
Verhältniss zu Gott Die höchste Aufgabe des sittlichen Bewusst-
seins wird, wenn der Mensch in seinem Verhältniss zu Gott be-
trachtet wird, zu der Forderung, vollkommen zu sein wie Gott
vollkommen ist, Matth. 5, 48. In dieser Forderung ist das Ab-
solute des christlichen Princips am unmittelbarsten ausgesprochen.
39 Enter Absclmitt. Dfts UrohristeiithaiiL
Das Christenthum hat für die Vollkommenheit des Menschen kei-
nen andern Maasstab als den absoluten der Vollkommenheit Gottes.
Ist der Mensch so vollkommen wie Gott, so steht er in dieser ab-
soluten Vollkommenheit in dem adäquaten Verhaltniss zu Gott,
das durch den BegrrifF der Gerechtigkeit bezeichnet wird. Die
Gerechtigkeit in diesem Sinne ist die absolute Bedingung, um in
das Reich Gottes zu kommen. In dem Zusammenhang, in welchem
in der Bergrede von der Gerechtigkeit die Rede ist, kann unter
ihr nur die vollkommene Erfüllung des Gesetzes verstanden wer-
den, aber freilich nur in dem Sinne, in welchem Jesus überhaupt
von der fortdauernden Gültigkeit des Gesetzes spricht. Fragt
man, wie der Mensch diese Gerechtigkeit erlangen kann, so ist
das Eigenthümliche der Lehre Jesu, dass sie einfach voraussetzt,
das Gesetz könne erfüllt, der Wille Gottes auf der Erde wie im
Himmel vollbracht und dadurch die Gerechtigkeit erlangt werden,
die den Menschen in das adäquate Verhaltniss zu Gott setzt. Dass
aber dazu wesentlich auch eine Vergebung von Seiten Gottes ge-
hört, durch welche das Mangelhafte des menschlichen Thuns aus-
geglichen und ergänzt wird, erhellt schon aus dem Gebet des Herrn,
in welchem die Vergebung der Schuld Gegenstand einer eigenen
Bitte ist. Ohne dass also dem Menschen auch Fehler und Sünden
vergeben werden, kann er nicht in das dem Willen Gottes ent-
sprechende Verhaltniss kommen^ und wenn überhaupt die Lehre
Jesu ihrem Princip zufolge den sittlichen Werth des Menschen
nicht nach dem äussern Thun, sondern nur nach der Gesinnung
bestimmt, so kann sie auch die Gerechtigkeit, in welcher das dem
Willen Gottes adäquate Verhalten des Menschen besteht, nur in
die Gesinnung setzen, mit welcher er seines eigenen Willens sich
völlig entaussert, und sich unbedingt dem Willen Gottes hingibt.
Darauf bezieht sich die hauptsachlich in den Parabeln enthaltene
Lehre vom Reiche Gottes.
In dem Reiche Gottes wird der Wille Gottes, dessen Erfüll-
lung die absolute Forderung für jeden Einzelnen ist, die gemein-
same Aufgabe einer bestimmten Gemeinschaft, in welcher alle
zusammen, je enger sie unter sich verbunden sind, den durch
den Willen Gottes gesetzten Zweck um so vollkommener in sich
verwirklichen sollen. Das Gemeinsame, das zum Wesen der Re-
ligion gehört, ist auch das Wesentliche bei dem Reiche Gottes.
I
Die Lehre vom Keiöhe Gottes. Ü
In der Lehre Jesu ist der alttestamentliche Begriff der Theokratie
so vergeistigt, dass alles, was sich auf das Verhältniss des Men-
schen zum Reiche Gottes bezieht, nur auf sittlichen Bedingungen
beruht Ja so sehr ist das Sittliche das allein Bedingende, dass
von allem demjenigen, wodurch in der Folge die Aufnahme des
Menschen in das Reich Gottes oder seine Gemeinschaft mit Gott
auf objective Weise vermittelt gedacht wurde, noch nicht die Rede
ist, sondern es wird einfach vorausgesetzt, dass es nur von dem
Menschen selbst, seinem eigenen Wollen, seiner sittlichen Em-
pfänglichkeit abhänge, an allem, was das Reich Gottes ihm dar-
bietet, Theil zu nehmen. Wie klar und anschaulich ist diese ein-
fache Wahrheit in der Parabel vom Sdmann dargelegt! Was die
Menschen für das Reich Gottes fähig macht, ist das Wort, der
Inbegriff aller Lehren und Vorschriften, durch deren Befolgung
der "VJTille Gottes von den Menschen verwirklicht wird. Das Wort
ist dem Menschen gegeben, man kann es hören und verstehen,
aber es kommt alles darauf an, wie es von den Menschen auf-
genommen wird. Und was zeigt nun die gewöhnliche Erfahrung?
Dass, wie der ausgestreute Same nicht aufgehen und Frucht tragen
kann, wenn er nicht in den dazu geeigneten Boden kommt, so
aich die subjcctive Beschaffenheit der Menschen in Beziehung auf
das Wort Gottes eine sehr verschiedene ist So wenige aber es
sein mögen, welche das Wort mit dem rechten Sinn in sich auf-
nehmen, so ist es doch immer nur die Schuld des Menschen selbst,
wemi das Wort in ihm nicht wirkt, was es an sich wirken kann,
die Ursache liegt nur in dem Mangel an Empfänglichkeit, welcher,
ohne dass sonst etwas dabei nöthig ist, schlechthin nur durch
dea Willen des Menschen selbst gehoben werden kann. So ein-
fach ist das Verhältniss des Menschen zu Gott Es liegt nur an
ihm selbst, in das Reich Gottes zu kommen, an seinem eigenen
Vrillen, seiner eigenen natürlichen Befähigung und Empfänglich-
keit Ebendarum kann das ganze Verhältniss des Menschen zum
Rmch Gottes nur als ein sittliches gedacht werden, und es kommt
daher vor allem nur darauf an, dass der Mensch diess anerkennt,
Qid nicht ineint, es sei die Theihiahme an dem Reiche Gottes
dmrch irgend etwas bedingt, was nicht rein sittlicher Natur ist
IKe erste Fordemng^ die an ihn gemacht wird, kann daher nur
diese sein, dass er sich alles dessen entschlägt, was ihm einen
34 Erster Absohnitt. Bas UrdaUtenthmki.
blos äussern Anspruch auf das Reich Gottes geben würde, das)
er somit nur in sich selbst zurückgeht, und nur in sich selbst,
in der Beschaffenheit seines Innern, in seinem sittlichen Bewussl-
sein seiner Fähigkeit für das Reich Gottes sich bewusst wird.
Je mehr er sich alles dessen entäussert, was ihn in ein blos äus-
seres Yerhältniss zu dem Reiche Gottes, setzen würde, und sich
mit diesem anspruchslosen, rein in sich selbst zurückgehenden
Sinn dem Reiche Gottes gegenüberstellt, um so gewisser kann seine
Empfänglichkeit für dasselbe eben nur darin bestehen, dass er
sich rein empfangend zu dem verhält, was es Jhm geben wüL
Diess ist es, was Jesus allen Ansprüchen, wie sie die Juden nach
ihren herrschenden Vorstellungen vom Reiche Gottes zu machen
pflegten, in dem Ausspruch entgegen hält Matth. 18, 3.: wenn
ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht
in das Himmelreich kommen. Man wird, wie die Kinder sind,
wenn man ohne für sich selbst etwas sein zu wollen, in dem rein
natürlichen Yerhältniss bleibt, das nur das Bewusstsein der Ab-
hängigkeit und Bedürftigkeit erwecken kann. Je weniger man in
sich selbst das hat, was man haben soll, um so reiner ist das Ver-
langen nach dem, was nur das Reich Gottes geben kann, und um
so mehr wird man es daher auch als das erkennen, was den höchii
sten absoluten Werth in sich selbst hat, wie diess durch die Para-
bel von der Einen kostbaren Perle, für welche man alles Andere
hingibt, veranschaulicht ist Matth. 13, 45 f. Unstreitig gehören die
auf das subjektive Verhalten des Menschen zum Reiche Gottes
sich beziehenden, die sittlichen Bedingungen seiner Theilnahme
an demselben darstellenden Parabeln, neben der Bergrede, zu dem
Aechtesten und Ursprünglichsten, das uns aus dem Inhalt der
Lehre Jesu überliefert ist.
Sehen wir alles diess, wovon bisher die Rede war, als den
ursprünglichsten und unmittelbarsten Inhalt der Lehre Jesu an^
so enthält sie nichts, was nicht eine rein sittliche Tendenz hätte,
und nur darauf hinzielte, den Menschen auf sein eigenes sittlich^
religiöses Bewusstsein zurückzuweisen. Er darf sich nur dessen
bewusst werden, was sich in seinem eigenen Bewusstsein als sein»
höchste sittliche Aufgabe ausspricht, so kann er sie auch durch
sich selbst verwirklichen. Das Christenthum ist so betrachtet,
in den ursprünglichsten Elementen seines Wesens eine rein sitt^
Der aUUiohe Ghnindeluurakter dei CSiristeiithimiB. ^
liehe Religion, sein höchster eigenthümlichster Vorzug ist eben
diess, dass es einen durchaus sittlichen, in dem sittlichen Bewusst-
sein des Menschen wnrzehiden Charakter an sich tragt Selbst der
Glaube an die Person Jesu tritt hier noch nicht als die wesentliche
Bedingung des neuen Verhältnisses, in das der Mensch durch
Jesus zu Gott kommen soll, in dem Sinne hervor, in welchem er
im johaimeischen Evangelium zur Grundvoraussetzung von allem
Andern gemacht wird. In welches Verhaltniss man auch alles An-
dere, was zum Charakter und Inhalt des Christenthums gehört,
zu jenem Ursprünglichen und Unmittelbaren setzen mag, gewiss
ist doch, dass das rein Sittliche, von welchem es ausging, die un-
wandelbare substanzielle Grundlage geblieben ist, welcher es
lie entruckt werden konnte, ohne seinen wahrsten und eigent-
fichsten Charakter zu verlaugnen, auf welche man daher auch
inmer wieder aus allen Verirrungen eines überspannten Dogma-
tismus zurückgehen musste, wenn so oft die aus ihm gezogenen
Consequenzen den innersten Grund des sittlich-religiösen Lebens
imterwähU hatten. Was gleich anfangs in seiner principiellen Be-
deutung erscheint, unter allen Veränderungen sich gleich bleibt,
ttid den Grund seiner Wahrheit in sich selbst hat, kann auch nur
Star das eigentlich Substanzielle gehalten werden.
Und doch was wäre das Ghristenthum, und was wäre aus
ikm geworden, wenn es nichts weiter wäre, als eine Religions-
nad Sittenlehre in dem bisher entwickelten Sinne? Mag es auch
als sdche der Inbegriff der reinsten und unmittelbarsten Wahr-
heiten sein, die im sittUch-religiösen Bewusstsein sich ausspre-
chen, und sie in der einfachsten und populärsten Weise dem all-
gemeinen Bewusstsein der Menschheit zugänglich gemacht haben,
es fehlte noch die Form zu einer concreten Gestaltung des reli-
giösen Lebens, der feste Mittelpunkt, von welchem aus der Kreis
umer Bekenner zu einer die Herrschaft über die Welt gewin-
Miden Kirche sich zusammenschliessen konnte. Betrachtet man
den Entwicklungsgang des Christenthums , so ist es doch nur die
Person seines Stifters, an welcher seine ganze geschichtliche Be-
toiing hangt Wie bald wäre alles, was das Christenthum Wah-
res und Bedeutungsvolles lehrte, auch nur in die Reihe der längst
Terklungenen Aussprüche der edlen Menschenfreunde und der
denkenden Weisen des Alterthums zurückgestellt worden, wenn
3»
36 finter AlbBclmitt JDas Ürobistenthitni.
seine Lehren nicht im Munde seines Stifters zu Worten des ewi-
gen Lebens geworden wären? Aber auch in Betreff der Person Jesu
selbst fragt sich, was wir als die eigentliche Grundlage ihrer welt-
geschichtlichen Bedeutung anzusehen haben. So grosses Gewicht
wir auch auf den ganzen Eindruck der Persönlichkeit Jesu legen
müssen, so konnte doch auch sie nur von einem schon gegebenen
bestimmten Punkte aus auf das Bewusstsein der Zeit so wirken,
dass aus ihrer individuellen Erscheinung eine weltgeschichtliche
Entwicklung von solchem Umfang und Inhalt hervorging. Hier ist
daher der Ort, wo Christenthum und Judenthum so eng in einan-
der eingreifen, dass das erstere nur aus seinem Zusammenhang
mit dem letzteren begriffen werden kann. Hätte mit Einem Worte
nicht die nationalste Idee des Judenthums, die Messiasidee, mit
der Person Jesu sich so identificirt, dass man in ihm die Erfüllung
der alten Verheissung, den zum Heile des Volks erschienenen
Messias anschaute, wie hätte der Glaube an ihn zu einer welt-
geschichtlichen Macht von solcher Bedeutung werden können?
Durch die Messiasidee erhielt erst der geistige Inhalt des Chri-
stenthums die concrete Form, in welcher er in die Bahn seiner
geschichtlichen Entwicklung eintreten konnte. Die evangelische
Geschichte selbst gibt uns so viele Beweise der grossen nationalen
Bedeutung, welche zur Zeit Jesu die messianischen Erwartungen
nicht blos in einzelnen glaubigen Gemüthem, sondern in dem ge-
meinsamen Glauben des Volks hatten. Je grösser das Missverhält-
niss war, in welchem der Zustand des Volks, wie er in der Ge-
genwart war, zu der theokratischen Idee stand, welche der gan-
zen Geschichte des jüdischen Volks zu Grunde liegt, mit um so
grösserem Interesse blickte man in die Vergangenheit zurück, in
welcher auf Einem Punkte wenigstens, wenn auch nur für kurze
Zeit, das theokratische Ideal sich verwirklicht zu haben schien,
und je mehr von diesem Punkte aus alles in der Wirklichkeit sich
ganz anders gestaltet hatte, als es der Idee nach sein sollte, mit
um so grösserer Zuversicht erwartete man von der näheren oder
ferneren Zukunft, was eine so lange Vergangenheit noch unerfüllt
gelassen und jedes Geschlecht dem folgenden nur als Gegenstand
der Sehnsucht und einer den Vätern gegebenen Verheissung über-
liefert hatte. Es gehört zum eigenthümlichen Charakter des Ju-
denthums, dass es durch den fortgehenden, immer stärker her-*^
Die Person Jesa und die Mesdaaidee. 37
vortretenden Widersprach der Idee und der Wirklichkeit in sei-
nem Glauben an einen noch kommenden Messias vorzugsweise
nur zu einer Religion der Zukunft wurde. Nichts von höherer
Bedeutung konnte daher auf dem Boden der jüdischen Volks- und
Religionsgeschichte sich ereignen, was nicht entweder mit der
Hessiasidee sich verknüpfte, oder durch sie eingeleitet wurde.
Dadurch war auch dem Christenthum der Weg vorgezeichnet,
welchen es zu nehmen hatte. Die synoptische Darstellung der
evangelischen Geschichte führt Jesus mit allen Wundern ein, die
ihn als den längst verheissenen nun aber erschienenen Messias
und als den Sohn Gottes nach jüdischer Vorstellungsweise der
Welt verkündigen sollten« Auf dem Standpunkt der kritischen
Betrachtung kann man nur fragen, wie in ihm selbst die Messia-
nitat seiner Bestimmung zu einer feststehenden Thatsache seines
Bewusstseins wurde. Drei Momente der evangelischen Geschichte
sind es, die in dieser Beziehung besondere Beachtung verdienen,
der Name des viog t5 dv&Qoina , mit welchem sich Jesus selbst
bezeichnete, die Gruppe der Erzählungen, welche das Bekennt-
oiss des Petrus, die Scene der Verklärung, und die beginnende
Todesverkündigung bilden, und sein Auftreten in Jerusalem. Den
Namen des vlog tS av9QoinH gebraucht Jesus selbst auf eine so
eigenthümliche Weise von sich, dass man nur annehmen kann,
er habe mit jenem Namen, wie man auch seine Bedeutung ge-
nauer bestimmen mag, irgend eine Beziehung auf die Messiasidee
ausdrücken wollen. Klarer liegt eine solche in ^em zweiten Mo-
ment Folgt man der evangelischen Geschichte bis zu dem Punkt,
auf welchem uns jene in einer so engen sowohl äussern als innem
Beziehung zu einander stehenden Erzählungen begegnen, so sieht
man deutlich, dass hier in dem Entwicklungsgange der Sache Jesu
eme entscheidende Wendung erfolgte. Es ist jetzt eine für ihn
selbst und für die Jünger ausgesprochene Thatsache des Bewusst-
seins, dass er der Messias ist 0- Wie diess in jenem Zeitpunkt
auch nur noch eines bestätigenden Zeugnisses bedurfte, bleibt
freilich völlig unbegreiflich, wenn alle jene so augenscheinlichen
Beweise der Messianität Jesu der evangelischen Geschichte zu-
folge schon vorangegangen waren, nur um so grössere geschicht-
1) Vgl. Theologisohe Jahrbücher 1853« S. 77 t
38 Enter Absobnitt Das Urolirittenthiim.
liehe Bedeutung hat es aber, wenn selbst in einer solchen
Darstellung, wie die synoptische ist, solche Data einer erst in
der Folge zur festen Thatsache gewordenen Ueberzeugung sich
erhalten konnten. Den unzweideutigsten Beweis seines messiani-
sehen Bewusstseins gibt jedoch , auch abgesehen von der Scene
des Einzugs, sein Auftreten in Jerusalem. Wenn er nach lin-
gerem ununterbrochenen Wirken in Galiläa ^), nach allen Erfah-
rungen, welche er über die Aufnahme seiner Lehre bei dem Volke,
und über ihren Widerstand bei den Gegnern, mit welchen er
schon damals in Berührung kam , gemacht hatte , den Entschluss
fasste, sich aus Galiläa nach Judäa zu begeben und in der Haupt-
stadt selbst zu erscheinen, am Sitze der Machthaber, zu deren
herrschendem System seine ganze bisherige Wirksamkeit in dem
entschiedensten Gegensatz stand, so kann dieser so folgenreiche
Schritt nur aus der Ueberzeugung der Nothwendigkeit hervorge-
gangen sein, dass seine zur Entscheidung reife Sache sich jetzt
auch wirklich entscheiden müsse, durch die Annahme oder Ver-
werfung seiner Lehre und Person, die thatsächliche Erklärung
der ganzen Nation, ob sie bei ihrem traditionellen, das sinnliche
Gepräge des jüdischen Partikularismus an sich tragenden Messias-
glauben bleiben, oder einen solchen Messias anerkennen wolle,
wie er war und durch sein ganzes Leben und Wirken sich be-
thätigt hatte. Diess war die Frage, auf welche nur die Antwort
folgen konnte, die er längst sich selbst mit aller Selbstgewissheit
seines Bewusstseins gegeben hatte.
Noch nie war, was der äussern Erscheinung nach nur Un-
tergang und Vernichtung zu sein schien, so sehr der entschei-
1) Die Dauer dieser Wirksamkeit gehört auch unter die Ungewissen
Punkte des in seinen äussern Umrissen so wenig bekannten Lebens Jesu.
Die gewöhnliche Annahme einer dreijährigen Lehrthätigkeit gründet sich
nur auf die Zahl der johanneischen Festreisen und hängt somit mit der jo-
hanneischen Frage zusammen. Nach der weit überwiegenden Tradition der
alten Kirche lehrte Jesus nur ein Jahr, aber dieses Eine Jahr ist dßr iv&-^
avTos %vQi» SsHTos des Propheten Es. 6ty 2. vgl* Luk. 4| 19. sUbo yieUeicht
nur eine dogmatische Voraussetzung. Vgl. Hiloenfeld, die clementinischen
Becognitionen und Homilien 1848* B. 160 f* Kritische Untersuchungen über
die Evangelien Justin*s 1850. S. 337* Meine kritischen Untersuchungen über
die kanonischen EvangfilieQ S. 363 (»
Tod und Anfentehvig Jen. 39
dimgr8¥oIl8te Sieg und Durchbrach zum Leben, wie im Tode Jesu.
War bisher noch die Möglichkeit vorhanden, dass der Glaube an
den Messias das vermiUeLdde Band zwischen ihm' und dem Volke
wurde, das Volk ihn als den anerkannte, welcher als der Ge-
genstand der nationalen Erwartung kommen sollte, und der Wi-
derspruch zwischen seiner Messiasidee und dem judischen Mes-
siasglauben auf fnedlichem Wege sich ausglich, so war jetzt sein
Tod der Tollendete Bruch zwischen ihm und dem Judenthum. Ein
Tod, wie der seinige, machte es filr den Juden, so lange er Jude
blieb, zur absoluten Unmöglichkeit, an ihn als seinen Messias zu
glauben. Wer nach einem solchen Tode an ihn als den Messias
glaubte, musste schon seiner Messiasvorstellung alles abgestreift
haben, was sie noch jüdisch-fleischliches an sich hatte, ein Mes-
sias, dessen Tod alles vernichtete, was der Jude von seinem Mes-
sias hoffte, ein dem Leben im Fleische abgestorbener Messias war
nicht mehr ein XQiarog itara Gagna (2 Cor. 5, 16.), wie der
Messias des jüdischen Nationalglaubens. Was konnte aber über-
haupt ein dem Tode anheimgefallener Messias selbst dem treue-
sten Anhanger der Sache Jesu noch sein ? Es war hier nur ent-
weder das Eine oder das Andere möglich, entweder musste in
seinem Tode auch der Glaube an ihn erlöschen, oder es musste
dieser Glaube, wenn er fest und stark genug war, nothwendig
auch die Schranke des Todes durchbrechen und vom Tode zum
Leben hindurchdringen. Nur das Wunder der Auferstehung konnte
die Zweifel zerstreuen, welche den Glauben selbst in die ewige
Nacht des Todes Verstössen zu müssen schienen. Was die Auf-
erstehung an sich ist, liegt ausserhalb des Kreises der geschicht-
lichen Untersuchung. Die geschichtliche Betrachtung hat sich nur
daran zu halten, dass für den Glauben der Jünger die Auferste-
hung Jesu zur festesten und unumstösslichsten Gewissheit gewor-
den ist In diesem Glauben hat erst das Christenthum den festen
Grund seiner geschichtlichen Entwicklung gewonnen. Was für
die Geschichte die nothwendige Voraussetzung für alles Folgende
ist, ist nicht sowohl das Faktische der Auferstehung Jesu selbst
als vielmehr der Glaube an dasselbe. Wie man auch die Aufer-
stehung Jesu betrachten mag, als ein objektiv geschehenes Wun-
der, oder als ein subjektiv psychologisches, sofern, wenn man
auch die Möglichkeit eines solchen voraussetzt, doch keine psy-
40 Enter AlMebnitt Dm Urdhiittentlnim.
chologische Analyse in den innern geistigen Prozess eindringmi
kann, durch welchen im Bewusstsein der Jünger ihr Unglaube
bei dem Tode ^esu zu dem Glauben an seine Auferstehung ge-
worden ist, wir können doch immer nur durch das Bewusstsein
der Jünger hindurch zu dem gelangen, was für sie Gegenstand
ihres Glaubens war, und können somit auch nur dabei stehen blei-
ben, dass für sie, was auch das Vermittehide dabei gewesen sein
mag, die Auferstehung Jesu eine Thatsache ihres Bewusstseins
geworden ist, und alle Realität einer geschichtlichen Thatsache
für sie hatte.
Zweiter Abschnitt.
Das Christenthum als allg^emeinesHeilsprincip,
der Gegensatz des Paülimsmns und Jndaismus,
und seine Ansg^leichimg^ in der Idee der katho-
Rirche.
Zwischen dem Tode Jesu und seiner Auferstehung Uegt ein
so tiefes undurchdringliches Dunkel, dass man nach einem so ge-
waltsam zerrissenen und so wundervoll wieder hergestellten Zu-
sammenhang sich gleichsam auf einen neuen Schauplatz der Ge-
schichte gestellt sieht. Die handelnden Personen sind nun die mit
der Kraft von oben und dem Geiste Gottes ausgerüsteten Jünger
des Herrn, und das mit dem Chrii^tenthum in die Welt einge^e«
tene Princip entwickelt sich in dem ganzen grossartigen Zusam-
menhang der sein geschichtliches Dasein bedingenden Erscheinun-
gen, indem es alle Gegensatze überwindet, welche als hemmende
Schranken seiner über alles übergreifenden Allgemeinheit sich
entgegen stellen.
Es zeugt von grosser Glaubensstarke und einer schon sehr
{[ekräftigten Zuversicht zu der Sache Jesu, dass die Jünger un-
mittelbar nach seinem Tode sich weder ausserhalb Jerusalems zer-
streuten, noch an einem entfernteren Orte sammelten, sondern
in Jerusalem selbst ihren bleibenden Vereinigungspunkt hatten.
h Jerusalem bildete sich die erste christliche Gemeinde, und die
jerasalemische Gemeinde blieb seitdem das Haupt für alle glau-
bigen Anhanger Jesu aus dem Judenthum. Die Nachrichten der
Apostelgeschichte über die erste Jüngergemeinde geben uns nach
den neuesten kritischen Untersuchungen nur ein sehr schwaches
imd unklares Bild, das für die geschichtliche Betrachtung wenig
Sicheres und geschichtlich Zusammenhangendes darbietet AvS
48 Zweiter Ahsohnitt Das Christenthiun als allgem. Heilsprineip«
einem festern geschichtlichen Boden stehen wir erst bei dem Auf-
treten des Stephanus und der durch ihn veranlassten Verfolgung.
Apostelg. Kap. 6 und 7. Zweierlei ist hier besonders beachtens-
werth. Die gegen Stephanus erhobene Anklage, die auffallend
mit demjenigen zusammenstimmt, was Jesus selbst bei seiner Ver-
urtheilung Schuld gegeben wurde, und bei ihm so wenig als bei
Stephanus ein völlig grundloses Vorgeben der falschen Zeugen
gewesen sein kann, zeigt schon den Keim eines Gegensatzes, des-
sen weitere Entwicklung nur der Paulinismus sein konnte. Die
geistigere Gottesverehrung, welche Stephanus der Aeusserlichkeit
des bestehenden Tempelcultus entgegensetzte, musste über das
Judenthum hinausführen, und sein ganzes Auftreten hat schon den
Charakter einer Opposition, welche in ihm den Vorläufer des Apo-
r
stels Paulus erblicken lässt. Der in Stephanus zuerst hervortre-
tende Gegensatz gegen das Judenthum scheint aber, was hier noch
weiter bemerkt zu werden verdient, auch schon die jerusalemische
Gemeinde selbst in zwei verschiedene Richtungen getheilt zu ha-
ben. Stephanus war ein Hellenist, und es kann nicht für zufällig
gehalten werden, dass er gerade als Hellenist diese freiere Rich-
tung hatte. Was wir schon an ihm sehen, dass zu der ältesten
Gemeinde in Jerusalem auch Hellenisten gehörten, wird auch
durch die ausdrückliche Angabe der Apostelgeschichte C^, 4. 11,
19 f.) bestätigt Als durch die Verfolgung, bei welcher Stephanns
als Märtyrer fiel^ die sämmtlichen Mitglieder der Gremeinde sich
nach Jndäa und Samarien zerstreuten, kam nicht nur durch diese
Flüchtlinge das Christenthum nach Samarien, in die Seestädte und
weiterhin nach Cypem und Antiochien, sondern es thaten auch
einige von ihnen, Cyprier und Cyrenäer, somit Hellenisten, den
weitem wichtigen Schritt in Antiochien, dass sie das Evangelium
den Heiden verkündigten, und Antiochien wurde nun ebenso der
Sitz der ersten Gemeinde der Heidenchristen, wie Jerusalem die
Muttergemeinde der Judenchristen war. Da nicht wahrscheinlich
ist, dass, wie die Apostelgeschichte C^, 1.) sagt, nur die Apostel
es waren, welche bei jener Verfolgung in Jerusalem zurückblie-
ben, da die Verfolgung selbst, wie aus ihrem Anlass zu schliessen
ist, nicht sowohl der Gemeinde im Ganzen gegolten zu haben
scheint, als vielmehr nur den Hellenisten, welche die freiere, dem
Judenthum feindlich entgegentretende Richtung des Stephanus
Btephanng. Panliu. 48
baften, so gibt die Geschichte des Stephanus den deutlichen Be-
weis, dass die jernsalemische Gemeinde ursprünglich zwei ver-
schiedene Bestandtheile in sich begriff, Hebräer und Hellenisten,
welche nun auch dusserlich von einander getrennt wurden. Die
Gemeinde in Jerusalem bestand seitdem aus blossen Hebräern,
die HellenisteQi aber waren schon damals weit verbreitet und nur
dieselbe freiere Richtung, die in Stephanus zuerst sich aussprach,
kann es gewesen sein, welcher zufolge der Hellenismus auch
schon das Heidenchristenthum aus sich hervorgehen Hess. Doch
ist es erst der Apostel Paulus, in welchem dasselbe im Kreise der-
selben Erscheinungen, deren Mittelpunkt der ürmärtyrer Stepha-
nus ist, seinen eigentlichen Herold und seine principielle Begrän-^
dnng erhielt
Was wir hier vorzugsweise in's Auge fassen, ist nicht die Be-
kehrung des Apostels, die nur Gegenstand einer specielleren Un-
tersuchung sein kann, noch seine Missionsthätigkeit, die als be-
kannt vorauszusetzen ist, sondern nur die epochemachende Bedeu-
tung, die er in der Entwicklungsgeschichte der christlichen Kirche
hat 0- Erst im Paulinismus ist es mit Einem Worte zum Bruche
des chrisflichen Bewusstseins mit dem Judenthum gekommen. Man
Terstehe diess jedoch nicht so, wie wenn damit gesagt werden
sollte, der eigentliche Stifter des Christenthums, als eines princi-
piell Neuen, sei erst Paulus geworden, das ursprungliche Christen-
thmn aber nichts anders gewesen, als der rein innerjüdische Glaube
an die Messianität Jesu. Was an sich und thatsächlich schon vor-
handen ist, tritt erst dann in seiner bestimmten concreten Gestalt
kervor, wenn die äussern Verhältnisse die nöthigende Veranlassung
geben , sich des in ihm enthaltenen principiellen Gegensatzes be-
wusst zu werden. Wie konnte die Frage über die Nothwendigkeit
der Beschneidung auch bei den Christen, so lange sie noch keine
praktische Bedeutung hatte , für Jesus selbst dieselbe Wichtigkeit
kaben, wie für Paulus, oder wie lässt sich aus solchen Aussprüchen ti
Jesu, wie Matth. 10, 5. 15, 24., selbst wenn sie ursprünglich so
lauteten, wie wir sie bei Matthäus lesen, schliessen, dass der pau-
Knische Universalismus nicht schon ursprünglich zum wesentlichen
1) Man vergleiehe meine Schrift: Paulus , der Apostel Jesu Christi.
S<äa Ldbea vmd Wkken, seine Briefe und seine Lehre. Stattg. 18I5.
44 Zweiter Abscknitt. Das Ohristenthmn all aUgem. Heilsprinoip«
Charakter des Christenthums gehörte? Wofern also nur kein un-
mittelbarer Widerspruch mit der ursprünglichen Lehre Jesu vor-
ausgesetzt wird, kann uns nichts hindern, die epochemachende Be-
deutung des Apostels in ihrem vollen Umfang anzuerkennen, und
ihn als denjenigen zu betrachten, durch welchen erst der princi-
pielle Gegensatz des Christenthums zum Judenthum für das Christ-'
liehe Bewusstsein festgestellt wurde. So bald man einmal des Un-
terschiedes zwischen Judenthum und Christenthum sich so weit
bewusst geworden war, dass man die Identität beider nicht mehr
schlechthin voraussetzte, konnte der Unterschied beider nur da-
durch fixirt werden, dass dem Judenthum ausdrücklich das abge-
sprochen wurde, was das Christenthum vor allem als seinen eigen-
thümlichsten Vorzug geltend machen musste, wenn es überhaupt
etwas Anderes, vom Judenthum wesentlich Verschiedenes sein
sollte. Es musste somit jetzt als höchster Grundsatz gelten, dass
man nur durch das Christenthum, nicht das Judenthum in das be-
seligende Verhältniss kommen könne , in welchem der Mensch zu
Gott stehen soll. Und da das Judenthum das, wodurch es das Ver-
hältniss des Menschen zu Gott vermittelte, in nationale Institute,
wie namentlich die Beschneidung war, setzte, so war kein Grund
vorhanden, nachdem das Judenthum den Anspruch nicht mehr
machen konnte, eine Beseligungsanstalt in dem Sinne zu sein, ifi
welchem es bisher dafür galt, den an jene Institute geknüpften
Partikularismus für diejenigen festzuhalten, die nun im Christen-
thum das finden sollten, was ihnen das Judenthum nicht gewähren
konnte. Der jüdische Partikularismus musste sich von selbst zum
christlichen Universalismus aufheben, und das Eine wie das Andere
wurde jetzt nicht mehr stillschweigend vorausgesetzt, sondern es
machte sich als der offen ausgesprochene principielle Unterschied
in seiner praktischen Bedeutung geltend. Je grösser der Um-
schwung war, welcher in dem religiösen Bewusstsein des Apostels
bei seiner Bekehrung erfolgte, um so entscheidender mussten auch
gleich anfangs die beiden, seinen eigenthümlichen Standpunkt be-
stimmenden Momente hervortreten. Er lässt uns selbst in diesen
innem Process seines religiösen Bewusstseins hineinsehen, wenn
er GaL 1, 16. von sich sagt, es habe Gott gefallen, seinen Sohn in
ihm zu offenbaren, damit er ihn zum Gegenstand seiner evange-
lischen Verkündigung bei den Heiden mache. Was kann er unter
Der Panlinigmiu, 46
dieser Offenbarang des Sohnes anders yerstanden haben , als vor
allem die ihm enr festen Ueberzeugung gewordene Gewissheit, da«s
Jesus ungeachtet seines Todes am Kreuze der Messias sei? Und
wie hatte er, der überall sogleich zur letzten Spitze vordringende
Apostel, nur bei dieser negativen Ansicht vom Tode Jesu stehen
Ueiben können? Ja, so wenig schien er ihm ein Hindemiss der
Anerkennung seiner Hessianität zu sein , dass er damit unmittelbar
den Gedanken verband, er sei gerade um seines Todes willen als
Sohn Gottes und Christus zu betrachten, sofern er, dem Judenthum
abgestorben, nun selbst aufhörte, ein Xgifnog xatd ud^na, ein
nationaljüdischer Messias zu sein, und in die gleiche allgemein
menschliche Beziehung zu allen Völkern trat, zu welchen ohne
Unterschied dieselbe Predigt des Evangeliums gelangen sollte. In
ihm, als dem Heidenapostel, offenbarte Gott so seinen Sohn. Nicht
Mos darauf aber kam es an, sich auf diesen Standpunkt mit dem
Tollen Bewnsstsein seines principiellen Gegensatzes zu stellen, er
musste auch gerechtfertigt werden, und die geschichtliche Bedeu-
tung des Apostels besteht ebensosehr auch darin, dass er, wozu er
gerade in so hohem Grade befähigt war , sich auch dialektisch mit
dem Judenthum auseinanderzusetzen wusste. Um das Judenthum
an seiner schwächsten Seite anzugreifen, hält sich der Apostel an
den Begriff des Gesetzes. Es gehört zum Wesen des Gesetzes,
dass es aus unendlich vielen einzelnen Geboten und Verboten be-
steht, deren jedes nach der Strenge des Buchstabens befolgt wer-
den soll. Da es nun aber schlechthin unmöglich ist, alles und jedes,
was im Gesetz enthalten ist, zu beobachten, so bleibt jeder, der auf
dem Wege des Gesetzes selig werden will, fortgehend unter dem
Flach des Gesetzes, und das Gesetz kann so überhaupt keine An-
stalt zur Beseligung sein, oder es ist nicht möglich , durch das ge-
setzliche Thun, die Werke des Gesetzes, die immer nur in einzel-
nen, in ihrer Gesammtheit nie dem Gesetz entsprechenden Hand-
lungen bestehen, in das adäquate Verhältniss zu Gott zu kommen
(6aL 3, 10 f.). Man sollte nun freilich erwarten, der Apostel werde
auch darauf Rücksicht genommen haben, dass in der Religionsver-
fassnng des A. T. selbst die ganze Opferanstalt die Bestimmung
hatte, das Mangelhafte, das die Gesetzesbeobachtung zurückliess,
zn ergänzen, allein ohne diese Lücke !n seiner Argumentation wei-
ter zu beachten, sieht er nur in dem Tode Jesu die Möglichkeit der
46 Zweiter Abschnitt. Das Christenthnin als aUgem. Heilsprineip.
Befreiung von dem Fluch des Gesetzes. Es ist daher hier der Ort,
wo die Lehre vom Tode Jesu mit allen sowohl objektiven als sub-
jektiven Beziehungen, die er ihm gibt, in den Lehrbegriff des Apo-
stels eingreift. Objektiv betrachtet ist der Tod Jesu eine Veran-
staltung Gottes zur Versöhnung mit ihm, die unter den Gesichts-
punkt einer freien Gnade von Seiten Gottes gestellt werden muss,
zu welcher sich der Mensch. nur empfangend verhalten kann, und
zwar kann er, da der Vermittler dieser Gnade Christus ist, sofern
er sich selbst für die Sünden der Menschen hingegeben hat , sie
nur dadurch sich aneignen , dass er sich Christus als dem Einen,
der die Stelle aller Andern vertritt, mit seiner ganzen Subjektivität
hingibt und sich zur Einheit mit ihm zusammenschliesst Diese
subjektive Einheit mit Christus, ist der Glaube, welcher auf dieser
subjektiven Seite dieselbe Stelle in der christlichen Heilsordnung
einnimmt, welche in der alttestamentlichen die Werke des Gesetzes
haben, und es tritt daher dem Hauptsatz, in welchem der Apo-
stel das Wesen der letztem ausspricht, dass der Mensch gerecht-
fertigt wird durch die Werke des Gesetzes, als Antithese gegen-
über der Hauptsatz der chrisUichen Heilsordnung, dass er gerecht-
fertigt wird durch den Glauben. Hiemit ist der Gegensatz
zwischen dem Gesetz und dem Evangelium am unmittelbarsten
ausgesprochen. Das Gesetz steht in seinem negativen Verhaltniss
zu der Rechtfertigung so tief unter dem Evangelium, dass man so-
gar fragen muss, was überhaupt das Gesetz noch ist, wenn es das
so wenig zu leisten vermag, was die wesentiiche Aufgabe jeder
Religionsanstalt sein muss? Zu dieser Frage sieht sich der Apostel
selbst um so mehr veranlasst, da er unter dem Gesetz nicht die
ganze Religionsverfassung des A. T. versteht, sondern nur den
Mosaismus. Da nun dem Gesetz schon etwas Anderes voranging,
so. kann man nicht einmal sagen, die Rechtfertigung durch den
Glauben sei etwas Neues, erst durch das Christenthum Eingeführtes.
Der rechtfertigende Glaube der Christen ist derselbe Glaube, wel-
cher schon dem Abraham als Gerechtigkeit angerechnet wurde.
Wenn also vor dem Gesetz ein ganz anderer Weg der Heilsord-
nung war, und nach dem Gesetz wieder ein anderer ist, wie kam
das Gesetz auf solche Weise dazwischen hinein, und was ist es
überhaupt? Der Apostel setzt das Gesetz in doppelter Beziehung
aufs Tiefste dadurch herab, dass er es nicht nur als etwas Pro-
Der PanliniBmiu. 47
visorisches , blos interimistisch Geltendes betrachtet, sondern ihm
sogar geradezu nur den Zweck zuschreibt, die Sündhaftigkeit her-
vorzurufen und zu mehren, die Sünde, nachdem sie einmal eine
herrschende Macht in der Welt geworden war, zu ihrer vollen
concreten Erscheinung zu bringen. Es hängt diess mit der allge-
meinen Weltanschauung des Apostels zusammen, welcher zufolge
die ganze Geschichte der Menschheit in zwei grosse wesentlich
von einander verschiedene Perioden sich theilt, welche wie Sünde
und Gnade, Gesetz und Glaube, Knechtschaft und Freiheit, oder
noch umfassender wie Adam und Christus, der erste und der zweite
Adam, und in letzter Beziehung wie Tod und Leben sich zu ein-
ander verhalten. Gesetz und Sünde stehen daher in einer sehr
engen Beziehung zu einander. Wenn auch das Gesetz die Sünde
nicht unmittelbar hervorbringt, so ist es doch die mittelbare Ur-
sache derselben. Das Gesetz enthält die Verbote, deren Ueber-
tretungen die Sünden sind. Je mehr also verboten ist, um so mehr
wird auch übertreten und gesündigt Aber nicht blos dieses quan-
titative Yerhältniss findet zwischen dem Gesetz und der Sünde statt,
so dass in demselben Yerhältniss, in welchem das Gesetz mit der
ganzen Strenge seiner Gebote und Verbote sich geltend macht, auch
die Sünde zunimmt, sondern auch qualitativ entsteht die Sünde
erst durch das Gesetz. Man weiss erst durch das Gesetz, was
öl>eriiaupt die Sünde ist, dass sie das Gegentheil dessen ist, was
das Gesetz vorschreibt, indem, wo kein Bewusstsein der lieber-
tretung ist, auch keine Sünde ist, was die Sünde ist, ist sie we-
sentlich durch das Gesetz, sie erhält ihre intensivste Bedeutung^
erst durch das Gesetz, so dass der Apostel geradezu sagen kann,
das Princip der Sünde, das was sie wesentlich zu dem macht, was
sie ist, ist das Gesetz Cl C!or. 15, 56> Am Gesetz und durch du»
Gesetz erwacht erst die Sünde, ohne das Gesetz ist die Sünde
todt Erst wenn man weiss, was man thun oder nicht thun dar{^
regt sich die Sunde, sie erwacht aus dem noch schlummernden
Bewusstsein, man wird sich der Möglichkeit bewusst, etwas zu
thun, was man nicht thun soll, und mit dem Bewusstsein des Ver-
botenen kommt auch die Lust, das Verbotene zu thun. Wenn also
auch das Gesetz an sich heilig, das Gebot heilig, gerecht und gut
ist, so bewirkt es doch das gerade Gegentheil dessen, was e»
seiner geistigen Natur nach wirken sollte, es ist nicht vermögend
48 Zweiter Absohnitt. Das Christentliitm all aUgem. HeUfprineip.
lebendig zu machen, sondern hat nur den Tod zur Folge. G^öm 7,
5—13. 6al. 3, 210 Vermittelt aber ist diese Wirkung des Ge-
setzes, oder dieses Verbdltniss zwischen Gesetz und Sünde durch
das Fleisch, die leibliche Natur des Menschen, die der eigentliche
Sitz der Wirksamkeit der Sünde ist, und schon in Adam, welche
von Anfang an irdischer, psychischer, sinnlicher Natur war Ci«Cor*
15, 470, sind Fleisch und Sünde durch ein so unzertrennliches
Band mit einander verknüpft, dass die ganze mit Adam begin-
nende Periode, welche in ihrem weitem Verlauf zur Periode des
Gesetzes wurde, nur als die Periode bezeichnet werden kann, in
welcher das Princip des Fleisches, der Sünde, des Todes zu seiner
vollkommenen Herrschaft kam. Fasst man diese Periode in dem
Begriff des Gesetzes in ihrem eigentlichen Princip auf, so stellt
sich der den Charakter des Gesetzes, mit allem, was zu ihm ge-
hört, an sich tragenden alttestamentlichen Religionsverfassung die
christliche als eine ganz andere, wesentlich neue, von ihr prin-*
cipiell verschiedene gegenüber. Es ist überhaupt erst der Apostel
Paulus , welcher das Christenthum mit dem bestimmten Bewusst-
sein, dass es eine Ka&pi^ diaütJKti ist, von der naXuM unterschie-
den, und diesen Unterschied auf seinen festbestimmten Begriff ge-
bracht hat Alle Gegensätze, welche sich von den hier in Be-
tracht kommenden Begriffen aus ergeben, sollen nur dazu dienen,
den Unterschied der beiden dia^tinai in der ganzen Weite eines
tiefeingreifenden Gegensatzes darzustellen. Das Judenthum steht
so tief unter dem Christenthum, dass es sich zu ihm nur wie der
Buchstabe zum Gesetz, das Princip des Todes zum Princip des
Lebens, das Vergängliche zum Bleibenden verhält Nur darin
hatte schon das Gesetz eine den Gegensatz ausgleichende und ver-
mittelnde Tendenz in sich, dass es, wie der Apostel sagt, Gal. 3,
24, ein na&daycayog iig XQiotov war, die vorchristliche Menschheit
unter seine Obhut nahm, um sie in der Gefangenschaft unter der
Macht der Sünde so zusammen zu halten, dass durch die innere
Nothwendigkeit glaubiger Hinwendung zu Gott die dem Gesetze
vorangehende Verheissung sich verwirklichen musste. Dieselbe
Weltanschauung, welche die ganze Geschichte der Menschheit in
zwei so entgegengesetzte Perioden theilt, kann sie auch nur in
ein solches Verhältniss zu einander setzen, dass die eine die noth«
wendige Voraussetzung der andern ^ und diese selbst die durch
Der Paaliniimtiiu 40
jene bedingte Folge ist, somit die erste durch die innere Not-
wendigkeit des allgemeinen Entwicklungsgangs in die zweite über-
geht Die Gnade kann nicht mächtig werden, ehe die Sünde in
ihrem ganzen Umfang sich entwickelt hat, auf die Periode der
Knechtschaft und Unmündigkeit folgt die der Freiheit und Mün-
digkeit, auf die Gebundenheit an die Natur und die Abhängigkeit
von den arohifla^ den besonders am Himmel waltenden Naturmäch-
ten, das durch den Geist des Sohnes geweckte geistige Bewusst^
sein der Kindschaft Gottes, oder mit Einem Wort auf die Natur-
und Gesetzesreligion die Geistesreligion.
Denkt man sich den Apostel mit dieser umfassenden inhaltsrei-
chen Entwicklung seines christlichen Bewusstseins nicht blos dem
Judenthum, sondern auch der jerusalemischen Christengemeinde ge-
genüber, wie weit erhob sich sein freier universeller Blick über den
beschränkten Partikularismus des jüdischen und des judaisirenden
Standpunkts, und wie kann man sich wundem, dass eine solche De-
gradation des Judenthums, die mit seinem hohen Anspruch so sehr
contrastirte und ihm so wenig liess, was ihm noch einen wahrhaft
religiösen Werth geben konnte, den grossten Anstoss erregte I
Dadurch war nun schon ein Gegensatz hervorgetreten, welcher die
christliche Gemeinde selbst in zwei Parteien trennte, deren divergi-
rende Ansichten nothwendig in Conflikt mit einander kommen muss-
ten. Es geschah diess zuerst bei der praktischen Frage über die
Beschneidung der Heidenchristen.
Nachdem Paulus schon längere Zeit als Heidenapostel ge-
wirkt und mehrere heidenchristliche Gemeinden gestiftet hatte,
erregte die neue Erscheinung, dass es nun auch Heidenchristen
gab, welche ohne die Beschneidung dasselbe sein wollten, wie
die Judenchristen, grosses Bedenken bei der jerusalemischen Ge-
meinde, und man konnte um so weniger dazu schweigen, da die
einmal begonnene Heidenbekehrung durch die Thätigkeit der Hei-
denapostel in kurzer Zeit noch mehr in's Grosse zu gehen schien.
Es kamen, wie Paulus selbst erzählt Gal. 2, 1 f., Mitglieder der
jerusalemischen Gemeinde nach Antiochien. Der Apostel nennt
sie falsche Brüder, Eindringlmge, welche die Freiheit, die man
in Antiochien hatte, die Lossagung vom Gesetz, zu welcher man
ia seinem christlichen Bewusstsein sich berechtigt glaubte, arg-
wöhnisch belauerten. Paulus und Bamabas sahen sich dadurch
Banr, die drti entoa Jahrh. 4
50 Zweiter Absclinitt. Das Chxiitenthiim «li allgem. Heilipriiieip.
veranlasst, sich selbst nach Jerusalem zu begeben, um die Frage,
um welche es sich dabei handelte, gegen die dortigen Apostel
zur Sprache zu bringen, und das Recht ihres Heidenevangeliums
zu vertheidigen. Der Hauptpunkt betraf die Beschneidung. Liesi
man sie auch nur bei den Heidenchristen fallen, so war es um
das absolute Recht des Judenthums geschehen. Darum nahmen
Paulus und Bamabas auch den Titus mit sich, um an ihm, dem
unbesehnittenen, gleichsam recht handgreiflich die Kraft ihres
Widerstands gegen das jerusalemische Ansinnen zu erproben.
Dass nun aber die Gegner, mit welchen es jene beiden bei dieser
für die Sache des Christenthums so wichtigen Verhandlung zu Je-
rusalem zu thun hatten, nicht die altern Apostel selbst war^n, son-
dern nur einzelne extreme Judaisten, ist eine Behauptung, welche,
so oft sie auch wiederholt wird 0? den klaren Sinn der Worte
des Apostels und seine ganze Darstellung zu sehr gegen sich hat,
als dass ihr jemand beistimmen könnte, der. nicht das besondere
Interesse hat, der authentischen, den unmittelbaren Eindruck der
Wahrheit machenden, durchaus klaren Erzählung des Apostels einen
Bericht vorzuziehen, welcher so wenig mit ihr zusammenstimmt
1) Wie diess z. B. neaestens vonLECHLEB geschehen ist in der Schrift:
Das apostolische und das nachapostolische Zeitalter mit Bücksicht auf
Unterschied und Einheit zwischen Paulus und den übrigen Aposteln, zwi-
schen Heidenchristen und Judenchristen. Gekrönte Preisschrift ron der
TBTLEB*schen theologischen Gesellschaft für das Jahr 1848« Haarlem 1851*
Bei der Beantwortung einer in einer bestimmten Richtung gegebenen Preis-
aufgabe darf man voraus keine sehr unbefangene Untersuchung erwarten.
Aber auch abgesehen davon fehlt es dem bald an diesen, bald an jenen
Gewährsmann sich haltenden Verfasser gar zu sehr an einer selbststAndigen
Forschung und einer lebendigen Geschiohtsanschauung. Man findet daher
zwar keine ,,abentheuerliche" Behauptungen, wofür der Verfasser so gern
die Ansichten seiner Gegner hält, sieht aber dagegen um so treuer die
Maxime befolgt, dass man am sichersten geht, wenn man die einander gegen-
überstehenden Ansichten für Einseitigkeiten erklärt, zwischen welchen natür-
lich die Wahrheit immer in der Mitte liegt. So wird auch über Gal. f.
und Apostelgesch. 15. nur das Grewöhnliche wiederholt. Wie wenig damit
gesagt ist, fällt um so mehr in die Augen, wenn man mit der Erörterung
des Verfassers nun auch die von Zelleb in der Abhandlung über die Apo-
stelgeschichte, ihre Composition und ihren Charakter, mit Rücksicht auf die
neuem Bearbeitungen dieses Gegenstandes in den theol. Jahrb. 1849. S. 433 f*
zusammenhält.
Die Frage über die BeBoimeidung. 61
nnd die so sichtbare Tendenz hat, die Sache in ein schiefes Uchl
zu stellen. Man bedenke nur, wie Paulus mit den so absieht^
Vch auf den subjektiven Standpunkt der Gegner sich beziehenden
Ausdrücken ol ionSpTig, donSpTtg ilpal t$, ol SoxSpttg atvlo^
ilpti$, die dltem Apostel als die Auktoritit der von ihm bestrit-
tenen Ansicht bezeichnet, mit welchem Bewusstsein der Selbst^
stdndigkeit seuier Stellung er gerade dem Apostel Petrus gegen-
übertrat C2, 7 f.) , und welches Resultat die- ganze Verhandlung
hatte. Wenn auch die drei Hauptrepräsentanten der jerusalemi-
schen Gemeinde dem Paulus und Barnabas den Handschlag der
Gemeinschaft gaben, so bestand ja die Vereinigung nur in der
Anerkennung, dass jeder der beiden Theile das Recht habe, sei-
nen eigenen, von dem der Andern geschiedenen, unabhängigen
Weg zu gehen. Es gab also jetzt ein doppeltes Evangelium , ein
Evangelium der Beschneidung und eui Evangelium der Vorhaut,
eine Judenmission und eine Heidenmission, beide sollten unab-
hängig und selbststandig neben einander fortgehen, ohne sich zu
durchkreuzen, und nur die Wohlthötigkeit gegen die Armen der
Urgemeinde sollte das die Heidenchristen mit den Judenchristen
verknäpfende Band sein. So entschieden traten die beiderseitigen
Standpunkte einander gegenüber, die unerschütterliche Festigkeit,
mit welcher der Apostel Paulus in keinem seine Grundsätze ver-
letzenden Punkte auch nur einen Augenblick sich wankend machen
liess, um sich dem an ihn gemachten Ansinnen zu fügen, und die
Zähigkeit, mit welcher die älteren Apostel an ihrem Judaismus
festhielten 0* In der langen Zeit der vierzehn seit der Bekehrung
des Apostels Paulus verflossenen Jahre CGal. 2, 1.) hatten sie noch
so wenig einen Schritt gethan, um über ihren jüdischen Partiku-
larismus hinwegzukommen, dass sie auch jetzt noch den Grund-
satz der Beschneidung in seiner schlechthinigen Unbedingtheit für
die messianische Gemeinschaft geltend machten, und wenn sie auch
mit Rücksicht auf den gesegneten Erfolg der Heidenbekehrung
und den zwingenden Gründen der paulinischen Dialektik gegen-
über gegen den ungehinderten Fortgang der Heidenmission nichts
eiumwenden vermochten, so war doch auch diess im Grunde nur
i) Vgl. HiLesHFBLD, der Gelaterbiief übersetzt in seinen gesohichtli-
cben Besiflhongen mtemioht und erkUrt 1859. B. 118 f*
4»
5il Zweiter At>8ohmtt t>a« Christenttiiim ab «llgem. Beiliq^oip.
eine Concession, welcher es an einem innern Haltpunkt in ihrem
religiösen Bewusstsein fehlte. Ueberhaupt waren beide TheUe in
eine solche Stellung zu einander gekommen, die sie bald über die
gezogene Grenzlinie hinausführen musste. Diess zeigte sich schon
bei dem Auftritt in Antiochien zwischen Petrus und Paulus, bei
welchem auf den kaum gegebenen brüderlichen Handschlag eine
sehr offene Erklärung ganz entgegengesetzter Art folgte. Durch
das zweideutige Benehmen des Petrus, welcher in Antiochien zu*
erst mit den Heidenchristen zusammen ass, hierauf aber um boU
eher willen, die von Jacobus her gekommen waren und ihm schon
durch ihre Gegenwart die Auktorität der in Jerusalem geltende
Grundsätze vor Augen stellten, die bisherige Tischgemeinschaft
mit den Heidenchristen wieder aufhob und durch diese Absonde-
rung der Judenchristen von den Heidenchristen faktisch erklärte,
dass er die gleiche Berechtigung der letztern mit den erstem nicht
mehr anerkenne, sah sich der Heidenapostel in seinen Grundsä-
tzen so tief verletzt, dass er dem Haupte der altem Apostel vor.
versammelter Gemeinde sehr nachdrücklich entgegen trat und ihm
den innern Widersprach vorhielt, durch welchen er sich selbst
vemrtheilt hatte. Sah man hier an dem Apostel Petms, dass man
auf dem Standpunkt der jerusalemischen Uebereinkunft nur die
Wahl hatte, entweder den Unterschied zwischen Judenchristen
und Heidenchristen völlig aufzuheben, oder auch darin Jude zn,
bleiben, dass man den Heidenchristen keine sie den Judenchri-
sten gleichstellende Berechtigung zugestand, so that auf der an-
dern Seite auch Paulus einen Schritt, welcher weitere Folgen nach
sich ziehen musste. Der Inconsequenz des Petms hielt Paulus die
reine Consequenz des christlichen Princips entgegen, und leitete
aus dem Behehmen desselben die mit scharfer Dialektik gezogene
Folgerung ab, dass er Christus geradezu zu einem Diener der
Sünde mache. Wenn es sich nemltch so verhielte, dass die Recht-
fertigung durch Christus nicht völlig genügte, dass auch, wer sie
sucht, noch als Sünder erfunden wird QnXs Sünder in dem Sinne^
in welchem der Heide im Unterschied von dem Juden ein afia^
roiAoV /§ i&patp ist V. 15.), so hat ein solcher im Glauben anOiri«
stus etwas gethan oder zu thun unterlassen, woraus er sich selbst
ein Gewissen machen muss, was er demnach nur für eine Sünde
halten kann, und die Veranlassung zu dieser Sünde ist sein Glaube.
Petras und Paulus. Die beiden Parteien. 58
an Christus oder Christas. Beide Theile standen somit schon in
einem solchen Verhdltniss einander gegenüber, dass jeder von
beiden nach seiner Ansicht vom Christenthum über das Christen-
thum des Andern nur ein verneinendes Urtheil fällen konnte, und
der persönliche Zusammenstoss der beiden Apostel -war so stark
gfewesen, dass die Wirkungen desselben nur sehr nachhaltig sein
i[onnten. Es begegnet uns in den sämmtlichen Briefen des Apo-
stels auch nicht die geringste Andeutung darüber, dass der da-
mals so iief zerrissene Zusammenhang mit Petrus und den altem
Aposteln durch eine nähere gegenseitige Berührung wieder her-
gestellt worden ist, die Apostelgeschichte geht über die Scene
in Antiochien mit einem so absichtlichen Stillschweigen hinweg,
dass wir daraus deutlich genug schliessen können, wie wenig die
Erinnerung daran zu ihrer versöhnlichen Tendenz passte, und
selbst noch aus einer erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahr-
hunderts geschriebenen Schrift, den pseudoclementinischen Ho-
müien, ist zu sehen, wie wenig die Judenchristen auch damals
noch das harte, über ihren Apostelfürsten ausgesprochene Wort
dem Apostel Paulus hatten vergessen können 0-
Beide Parteien hatten seit dem Conflikt in Antiochien ihre
bestimmte Stellung genommen. Während der Apostel Paulus mit
der ganzen Schärfe seiner Dialektik darauf hinarbeitete, das Gesetz
dialektisch sich durch sich selbst vernichten zu lassen ^, schlu-
rfen dagegen die Judaisten den praktischen Weg einer Reaktion
gfegen den paulinischen Antinoraismus ein. Wie schon gleich an-
fangs, sobald die Frage über die Beschneidung in Bewegung ge-
kommen war, Ankömmlinge aus der jerusalemischen Gemeinde
wiederholt mit einer offenbar reaktionären Tendenz erschienen
(Gal. 2, 4. 12.), so begegnen uns nun auch in den von Paulus
1) Hom. i7» 19. Aach dio kirchliche Sage, welche die Apostel wie-
der znsammenbrachte, Iftsst erst am Ende nach einer langen Zelt der Tren-
nimg die gegenseitige Anerkennung zu Stande kommen. Post tanta tem-
pora, hiess es in der Praedicatio Pauli in der Stelle, welche sich in der
Cyprian^s Werken angehängten Schrift de rebaptismate erhalten hat (Cypr.
Opp. ed. Balms. S. 365- Q Petmm et Paulum post conlationem evangelii in
Jemsalem et mutuam cogitationem et altercationem et i^rum agendamm dispo-
sitionem postremo in ürbe, quasi tnnc primnm, inyicem sibi esse cognitos.
3) *JByw yci(f ^«a vofui ¥0(i^ dni&avw, QaL 3, 19«
M Zweiter AbtohnStt Dm Christenthiim als «ngem« HeiU^rindp.
gestifteten heidenchristlichen Gemeinden Judaisten derselben Arti
welche es sich zum besonderen Geschäft machten, das paulinische
Christenthnm in Miskredit zu bringen, und was der Apostel Pau-
lus ohne das Gesetz und im Gegensatz gegen das Gesetz gebaut
hatte, zu zerstören, um es auf der Grundlage des Gesetzes wieder
aufzubauen. Den ersten thatsichlichen Beweis dieser systemati-
schen Opposition gegen den Apostel Paulus haben wir in dea
eben aus dieser Veranlassung wenige Jahre nach dem Auftritt in
Antiochien, nachdem der Apostel indess seine zweite Mission«-
reise gemacht hatte, geschriebenen Brief an die Galater, dessen
ganze Anlage und Tendenz davon zeugt, wie wichtig er die Sache
nahm, und wie sehr er in ihr die volle Bedeutung eines Principien-
streits erkannte. Aus diesem Grunde ging er sogar auf die Epoche
seiner Bekehrung zum Christenthnm zurück, um sein ganzes Vw-
haltniss zu Christus und den altem Aposteln auseinander zu setzen,
und durch eine rein objektive Darstellung den unwidersprechli-
chen Beweis davon zu geben, mit welcher Entschiedenheit sowohl
als mit welchem Erfolg er das selbstständige Recht seines Evan-
geliums von Anfang an auf verschiedene Weise geltend gemacht
habe. Die Gegner, welche in den galatischen Gemeinden gegen
ihn aufgetreten waren, waren ein neues Glied der Opposition,
mit welcher er bisher zu kämpfen hatte. Sie hatten die Gewissen
der galatischen Christen durch die Behauptung verwirrt, dass das
Werk ihrer Seligkeit ohne die Beobachtung des Gesetzes auf einea
ganz falschen Grund gebaut sei, und schon waren die Galater
nahe daran, von der Lehre des Apostels ieibzufallen und das ganze
Joch des Gesetzes, selbst die Beschneidung (S^ 2.), sich aufw-
iegen zu lassen. Solchen Eindruck machten jene Judaisten selbst
auf eine grösstentheils aus Heidenchristen bestehende Gemeinde,
welche nach der Versicherung des Apostels sein Evangelium der
Freiheit vom Gesetz mit so lebhaftem Interesse und so warmer
persönlicher Liebe zu ihm selbst aufgenommen hatte C4, 12 f.>
In keinem andern Briefe kann man in die ernste Bedeutung des
immer weiter um sich greifenden Kampfes und in die auf beiden
Seiten stattfindenden religiösen Motive tiefer hineinsehen. Mach-
ten die Judaisten aiß das absolute Recht des Judenthums geltend,
dass ohne Gesetz und Beschneidung niemand selig werden könne,
so stellte dagegen Paulus die Antithese auf, dass, wer sich:be-
I>ie Jadaürtiflcheii Gegner. JU(
schneiden lasse, keinen Nutzen von Christas habe CS, 2.)- Wie man
nach jenen umsonst ein Christ ist, wenn man nicht auch Jude ist,
so ist man nach dem Apostel umsonst ein Christ, wenn man als
Christ zugleich Jude sein will, und da man nicht Jude sein kann,
ohne dass man mit der Beschneidung die Verpflichtung auf sich
nimmt, das ganze Cresetz in allen seinen Einzelnheiten zu erfüllen,
80 entwickelt sich von diesem Punkte aus die die Gesetzesreligion
durch ihren Innern Widerspruch aufhebende Dialektik des Apo-
stels. Worauf anders konnte er aber den dltern Aposteln gegen-
über, als den unmittelbaren Vertretern der von Christus überlie-
ferten Lehre, seine Behauptung stützen, als auf die unmittelbare
Selbstgewissheit seines Bewusstseins und die innere Konsequenz
seiner Dialektik? Es spricht sich daher schon im Galaterbrief das
Bewusstsein aus, dass seine apostolische Auktoritat selbst auf dem
Spiele stehe, wenn es ihm nicht gelinge, das christliche Prinzip in
seinem reinen absoluten Begriff zu behaupten. Behaupten aber
JLonnte er es nur, wenn er das Recht hatte, sich den altem Apo-
steln ^Ibst als Apostel gegenüberzustellen. Worauf beruhte also
seine apostolische Berechtigung, und wie konnten, wenn er allein
der wahre Apostel Jesu Christi zu sein behauptete, die altem
Apostel das gleiche Recht für sich in Ansprach nehmen? Der
über die Nothwendigkeit der Beschneidung und die fortdauemde
Gültigkeit des Gesetzes entstandene Streit musste daher der Natur
der Sache nach nothwendig weiter führen.
Welchen Erfolg auch der Brief des Apostels an die Galater und
seme Bestreitung der Gegner in den galatischen Gemeinden gehabt
haben mag, es ist nur die weitere Entwicklung desselben Streits,
wenn wir nicht lange nachher auf einem anderen Punkte seines apo-
stolischen Wirkungskreises Gegnem begegnen, welche dasselbe Op-
positionsinteresse gegen ihn verfolgten. Hatte der Apostel ohne
Zweifel schon in der ersten Zeit seines in die Jahre 54 — 57
fallenden Aufenthalts in Ephesus den Brief an die Galater ge-
schrieben , so fällt in das Ende desselben die Abfassung unseres
ersten Briefs an die Korinthier, aus Veranlassung von Nachrichten,
welchen zufolge er auch in dieser Gemeinde ähnliche Erfahmn-
gen zu machen hatte, wie in den galatischen. Judaistische Leh-
rer hatten auch hier Eingang gefunden und den Glauben an das
Evangelium des Apostels wankend gemacht Es waren Spalton-
66 Zweiter Absolinitt. Dm Chiistenthiun all «llgem. HeUsprinoip«
gen und Parteien entsenden , deren Hauptgegensatz auf eine Par-
tei zurückzuführen ist, welche unter dem Namen des Apostels
Petrus, obgleich Petrus selbst nie in Korinth gewesen zu sein
scheint, den an den Grundsätzen des paulinischen Christentbums
treu festhaltenden Mitgliedern der korinthischen Gemeinde ach
entgegenstellte. Unter den verschiedenen Parteiinteressen, welche
die Gemeinde in verschiedenen Richtungen bewegten, trat der
Hauptgegenstand des Streits nicht so unmittelbar hervor, wie in
den galatischen Gemeinden, Gesetz und Beschneidung standen nicht
mehr als Hauptfrage voran, es ist wenigstens in den beiden Brie-
fen an die Korinthier hiervon nicht die Rede , sondern der Streit
war nun schon zu der Frage fortgeschritten, auf welche mannotb-
wendig zuletzt kommen musste, welche Auktoritat überhaupt ein
Apostel anzusprechen habe, welcher in keinem Falle auf demselben
Wege, wie die altern Apostel, Apostel geworden war, und daher
den Zweifel so nahe legte, ob er überhaupt mit Recht als ein wah-
rer und ächter Apostel anzusehen sei ? Obgleich der Apostel erst
am Ende des zweiten Briefes auf die unmittelbare Erörterung die-
ses wichtigsten Fragepunkts übergeht, so ist doch leicht wahr-
zunehmen, wie er ihn durch den ganzen Inhalt der beiden Briefe
nicht aus dem Auge verliert, und jede Gelegenheit ergreift, das,
was er noch in seinem persönlichsten Interesse zu sagen hatte, so
vorzubereiten und zu motiviren, dass er seinen Gegnern mit dem
ganzen Gewicht einer schlagenden Entgegnung entgegen^eten
konnte. Dass auch er Apostel sei, so gut wie irgend ein anderer,
und in keinem Punkte den übergrossen Aposteln nachstehe, deren
Auktoritat man ihm entgegenhielt, behauptet er mit allem Nach-
druck, und wenn er auch von dem äussern Vorzug des nationalen
Judenthums nur ironisch sprechen kann , um auch darin mit seinen
Gegnern sich zu messen , so sind es dagegen um so reellere Be-
weise, auf welche er sich stützt Es sind die thatsächlichen Er-
folge, die er in dem immer mehr sich erweiternden Wirkungs-
kreise seines Evangeliums aufzuweisen hat, alle jene leidensvollen
Erfahrungen, in welchen er sich als einen Diener Christi erprobte,
es sind endlich auch die Gesichte und Offenbarungen des Herrn,
deren er sich rühmen konnte. Auch diesen letztem Punkt konnte
der Apostel, nachdem einmal die Frage über seinen apostolischen
Beruf auf diese Spitze gestellt war, nicht unerwähnt lassen
Die jadaistisohen Gkgner. 5T
Mochte er auch den offen vor Augen liegenden Erfolg seiner
Missionsüiatigkeit mit dem vollsten Recht für sich geltend machen,
so verstand sich doch von selbst, dass ein Apostel Jesu Christi nur
sein konnte, wer von Christus selbst berufen war. Wie er schon
im ersten Brief Cd, 1.) mit besonderer Emphase hervorhob, dass er,
wie er Apostel sei, so auch den Herrn gesehen habe, so sollten
auch die Gesichte und Offenbarungen des Herrn , von welchen er
am Schlüsse des zweiten Briefes spricht, ein Zeugniss seines apo-
stolischen Berufs seui, und für ihn dieselbe Bedeutung haben,
welche für die älteren Apostel ihre unmittelbare Berufung durch
Jesus selbst wahrend seines irdischen Lebens hatte. Es war dies
für den Apostel selbst der unmittelbarste und überzeugendste
Beweis seiner apostolischen Berufung, aber auch das Subjectivste,
was er für sich geltend machen konnte, es waren Ekstasen, innere
Anschauungen, Thatsachen des Bewusstseins, welche für niemand
dieselbe objective Realität haben konnten, wie für den, der das
unmittelbare Subjekt derselben war. Es ist daher nichts natür-
licher, als dass Gegner, welche vor allem die Wahrheit der Lehre
des Apostels nicht zugeben konnten, auch die Voraussetzung, auf
welcher sie beruhte , nicht gelten Hessen , und hauptsachlich auch
anf diesen Punkt ihre Angriffe richteten , auf welchem der Apostel
selbst um so empfindlicher verletzt werden musste, je weniger er
Sich selbst verbergen konnte, in welcher eigenthümlichsten Lage
er gerade auf diesem Puncto den Gegnern gegenüber sich be-
fand. Die Aufregung und Gereiztheit, welche er hier besonders
gegen sie an den Tag legt, ist so hauptsächlich auch als die
Aeusserung der Gemüthsunruhe anzusehen , in welche ihn das an
sich Unmögliche versetzte, objektiv zu beweisen, was rein subjec-
ti?er Natur war, und diese Unmöglichkeit machte sich ihm gerade
da am meisten fühlbar, wo es sich um sein eigenstes persönliches
Interesse handelte. Aber auch die Sache der Gegner erscheint
von diesem Gesichtspunkt aus in einem andern Licht, als man sie
(fewöhnlich nimmt, wenn man sie nur nach der so ungünstigen
Schäderung beurtheilt, welche der Apostel von seinen Geg-
nern macht Mag auch menschliche Leidenschaft und Partei-
sacht noch so viel Unlauteres in ihre Opposition gegen den
Apostel eingemischt haben ^ warum soll das Unrecht nur auf ihrer
Seite sein, wenn me dem Anspruch sich widersetzten, mit wel-
A8 Zweiter Abgchnitt. Das Chiutendiiira als allgem. Heil^riiieap.
ehern Paulus nicht Mos zam Apostel berufen zu sein behaoptete,
sondern anch, konsecpienter Weise, seine apostolische Auktori-
tdt sogar über die der sammtlichen altem Apostel steUte?
Stützte er sich auf die innere Selbstgewissheit seiner Bemfdng
durch Christus und seines apostolischen Bewusstseins, so standen
dagegen sie auf dem geschichtlichen Boden ihres thatsichlichen
Zusammenhangs mit Christus. Es steht so überhaupt Princip gegen
Princip , und erst die weitere Entwickelung konnte darüber ent-
scheiden, welches der beiden Principien eine über das andere
übergreifende Macht gewinnen werde. Zunächst jedoch bilden die
gegen die Person des Apostels selbst und seine apostolische Auk-
toritdt gerichteten Angriffe eine neue sehr bemerkenswerthe
Epoche des gegensätzlichen Verhältnisses, in welchem nun Judais«-
mus und Paulinismus zu einander standen. Der hohe Ernst, mit
welchem der Apostel diese Gegner bestreitet, zeugt von selbst von
ihrer Bedeutung. Wir würden uns eine irrige Vorstellung von
ihnen machen , wenn wir in ihnen nur eine isolirte Erscheinung,
die eigenmächtige Willkür einzelner Individuen sehen wollten, die
nur aus zufälligen persönlichen Motiven darauf ausgegangen wä-
ren, in den Wirkungskreis des Apostels störend und hemmend
einzugreifen. Es erhellt aus allem, welche mächtige Partei sie
hinter sich hatten, und welches Recht sie zu haben glaubten, als
die Organe und Emissäre derselben aufzutreten. Es war nicht blos
der an die Spitze ihrer Bestrebungen gestellte Name des Apostels
Petrus , welcher ihre Tendenz bezeichnete und ihre Sache als die
gemeinsame aller Judenchristen erscheinen lassen sollte, sie hattmi
auch, wie vnr von dem Apostel selbst erfahren C2 Cor. 3, 1.), Em-
pfehlungsbriefe mitgebracht, welche über ihren Parteizusammmi-
hang keinen Zweifel lassen können. Von wem anders konnten le-
gitimirende Briefe dieser Art ausgestellt werden, als von sol-
chen, deren Ansehen in der Muttergemeinde gross genug war, um
auch auswärts allgemein anerkannt zu werden? Sie sind ein neuer
Beweis des wachsenden Parteiinteresses, der gegensätzlichen
Stellung der beiden Parteien, der Bestrebungen, mit welchen sie
auf demselben Boden einander entgegentraten, zugleich aber auch
eine neue Form, in welcher der Unterschied der beiden Principien,
welche hier im Streit mit einander waren, zu seiner äusseren Er-
scheinung kam. Dem äusseren Auctoritätsprincip , . auf welchem
Die TenMmliehen Sehritte des Apestehu 89
eine solche Legitimation beruhte, konnte der Apostel in letzter
Beziehung nichts anders entgegensetzen als die Autonomie seines
Selbsthewusstseins, wie er diess in derselben Stelle thut, in welcher
er Ton diesen Empfehlungsbriefen seiner Gegner spricht (2 Cor.
3, 1-180^).
Zu einer so bestimmten Form hatte demnach der Gegensatz
d^ beiden Parteien schon zu der Zeit sich ausgebildet, als der
Apostel Paulus seine beiden Briefe an die Korinthler schrieb«
Was konnte aus so divergirenden Richtungen zuletzt anders her-
Torgehen als eine TöUige Trennung? Machte der Judaismus es
sich zur Aufgabe, alles gleichsam wieder rückgangig zu machen,
worin der Paulinismus über den ursprünglichen Standpunkt des
Judenthums hinausgegangen war , so schien dagegen der Paulinis*
mus kein anderes Ziel yor sich zu haben , als die Ablösung des
Christenthums von allen Beziehungen , welche es tnit dem Juden-
thom Terknüpfken. Allein auf der einen wie auf der andern Seite
war auch wieder etwas, was so extremen Gegensätzen entgegen-
wirkte. Was half es dem Judaismus , gegen den paulinischen Uni-
versalismus zu protestiren, wenn es doch einmal eine heidenchrist-
Kche Gremeinschaft in dem weiten Umfang gab, in welchem sie
schon existirte? Es konnte nur darauf ankommen, den paulinischen
Universalismus in einer Form anzuerkennen, durch welche man
dem Princip des Judaismus so wenig als möglich vergab. Auf der
andern Seite konnte auch Paulus in seinem Antinomismus und An-
tijudaismus nicht so weit gehen, dass nicht er selbst auch das In-
teresse gehabt hätte, so weit es möglich war, wieder einzulenken,
und statt mit dem Judenthum nur zu brechen, sich in ein versöhn-
licheres Verhältniss zu ihm zu setzen. Fassen wir zunächst diese
letztere Seite ins Auge , so kommt in dieser Beziehung ein wei-
terer Fortschritt des Paulinismus in Betracht, welcher sich durch
zweierlei zu erkennen gibt, was in dieselbe Lebensperiode des
Apostels fiUlt , und. wie «s ausserlich zusammengehört, so auch in-
nerlich zusammenhängt, der Brief an die Römer und die letzte
Reise nach Jerusalem. Den Brief an die Römer schrieb der Apo-
stel ohne Zweifel während seines letzten Aufenthalts in Korinth und
1) Man vergL meine Beitrftge mr Erklttnmg der Connthierbriefe in den
ihtfA. Jabffoüolieni 1S60. 8. 165 t
00 Zweiter Absohnitt. Das Chriitenihiun alt allgem. Heilflpriiioip.
in derselben Zeit beschäftigte er sich damit, das in Ausf&hmng zn
bringen, was der Zweck seiner letzten Reise nach Jerusalem war.
Wer den Brief an die Römer nur aus dem dogmatischen
Gesichtspunkt auffasst, aus welchem man ihn gewöhnlich zu be*
trachten pflegt, sieht freilich nicht, wie er hieher gehört, wer aber
seinen innem Zusammenhang und das ihm zu Grunde liegende Mo-
tiv tiefer zu durchschauen weiss, dem wird nicht entgehen können,
dass das dogmatische Interesse des Briefs zu einem andern mir
wie das Mittel zum Zweck sich verhält Die innerste Tendenz des
Briefs liegt in dem dem Apostel fühlbar gewordenen Bedürfiiiss,
dem Judenthum und Judaismus, welche bisher in ihm nur ihren er-
klärtesten Gegner und Widersacher gehabt zu haben schienen,
nun auch wieder die Hand zum Frieden zu bieten, seine Volksge-
nossen über die Stellung zu beruhigen und aufzuklären, in welche
sie zur heidenchristlichen Welt gekommen waren, und ihren BKck
aus der Gegenwart in die Zukunft zu richten. Schon diess ist m
dieser Hinsicht sehr bedeutungsvoll, dass es gerade die römische
Gemeinde ist, an welche der Apostel mit einem solchen Schreiben
sich wendet Die Gremeinde war nicht vom Apostel selbst gestif-
tet, aber auch von keinem der andern Apostel, sie war von selbst
entstanden in Folge des vielfachen Verkehrs , in welchem die in
Rom so zahlreichen Juden mit Judäa und Jerusalem standen O9 Ae
war nicht einmal eine grösstentheils heidenchristliche, sonders
vielmehr wesentlich eine judenchristliche Gemeinde. Wenn auch
noch immer die gewöhnliche Meinung ist, die römischen Christen,
an welche der Apostel Paulus schrieb , können nur Heidenchristen
gewesen sein, so zeugt doch die ganze Tendenz und der Haupt-
zweck des Briefs zu klar davon, dass er mit Judenchristeh zu Ann
hatte, als dass diess länger bestritten werden könnte. Als eine
Gemeinde, welche, obgleich grösstentheils aus Judenchristen be-
stehend, doch in keinem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältniss
zu der jerusalemischen stand, und sowohl durch ihren christlichen
1) Zum deutlichen Beweis, welchen innem Trieb der Mittheilong und
Fortpflanzung das Ghristenthum selbst hatte. Man darf daher auch in die-
ser Beziehung der unmittelbaren persönlichen Thätigkeit der Apostel nicht
zu viel zuschreiben. In Ländern, wohin uns keine apostolische Spur lei-
tet, wie namentlich im nördlichen Afrika und in Spanien, scheint es schon
sehr früh eine grosse Zahl christlicher Gemeinden gegeben au haben.
Det Brief an die Bömer. 61
Glauben, als auch die Zahl ihrer Mitglieder und ihre Stellung in
der Hauptstadt des Reichs schon damals eine grosse Bedeutung in
der christlichen Welt erlangt hatte CRöm. 1, 8), hatte sie gleich-
sam eine vermittelnde Stellung zwischen dem Apostel und seinen
judenchristlichen Gegnern. Der Apostel hatte diese Gemeinde
schon längst ins Auge gefasst, um sich in eine nähere Beziehung
zu ihr zu setzen Cl? 13), er konnte bei ihr eine weit bessere Auf-
nahme erwarten als bei den jerusalemischen Judenchristen, er
hatte sogar schon als Heidenapostel an die , wenn auch an sich ju-
denchristliche, doch auswärtige, unter Heiden in Rom selbst le-
bende Gemeinde, eine gewisse Ansprache C^, 13). Es ist daher
sehr natürlich, dass der Apostel in einem Briefe an diese Gemeinde
die versöhnlichen Gesinnungen aussprach, welche er gegen seine
Gegner aus dem Judenthum hegte. Von einer vjersöhnlichen Ten*-
lenz seines Briefs kann aber freilich nur in dem Sinne die Rede
sein, in welchem auch das versöhnlich ist, was auf die Ueberzeu-
pmg des Gegners zu wirken, ihn über das Irrige seiner Ansich-
ten und Behauptungen zu belehren und seine falschen Vorurtheile
tu zerstören sucht In diesem Sinne ist der Römerbrief um so
versöhnlicher, je gründlicher er alles widerlegt, was das Juden-
thum den Heiden gegenüber abs sein absolutes Recht geltend
macht, je durchgreifender er ihm auch die letzte Stütze seines
Partikularismus entzieht Welcher Vorzug kann den Juden vor den
Heiden noch übrig bleiben, wenn Heiden und Juden ohne Unter-
schied der gleichen Sündhaftigkeit und Strafbarkeit unterliegen,
und der Satz, dass kein Mensch vor Gott gerecht sei, so schlecht-
hin allgemein gilt, dass darauf nur der Hauptsatz gebaut werden
kann, mit dessen Ausführung der Apostel 3, 21 den positiven
Theil des ersten Hauptabschnitts beginnt, dass die Gerechtigkeit
vor Gott, ohne das Gesetz, durch den Glauben an den Versöh-
nnngstod Jesu ertheilt werde. Ist durch die ganze dogmatische
Entwicklung des Apostels in den acht ersten Kapiteln seines Briefs
dem jüdischen Partikularismus die letzte Wurzel seiner Berechti-
gung abgeschnitten, so hat der Apostel nun erst reinen Boden ge-
wonnen, um in dem für seinen Zweck wichtigsten Abschnitt Kap«
9—11 seinen Universalismus gegen alles zu rechtfertigen, was ihm
noch in dem religiösen Bewusstsein der Juden und Judenchristen
entgegenstand. Hing man auch nicht mehr mit der alten Zähigkeit
68 Zweiter Absclinitt. Dm Chriitenthnm «li allgem. HeU^rineip.
an Gesetz und Beschneidung , setzte man sich sogar über die Be-
denken und Einwendungen hinweg, mit welchen man bisher die
apostolische Berufung und Auktorität des Apostels angesehmi
hatte, so blieb doch immer noch etwas zurück, worüber man nch
nicht so leicht beruhigen konnte. Welches Missverhältniss sleDle
sich, seitdem die Heidenbekehrung so sehr ins Grosse ging md
immer weiter sich erstreckte, in der heidnischen und jüdischM
Welt vor Augen? Wie sollte man es sich erklären, dass einem so
grossen Theile des jüdischen Volkes, das doch von Alters her das
erwdhlte Volk Gottes und der Gegenstand aller göttlichen Ver-
heissungen war, das in Christus erschienene Heil nicht wirklich
zu Theil werde, dass dagegen vielmehr die Heiden die vom Volke
Gottes leergelassene Stelle einnahmen? In dieser Frage ist alles»
was der jüdische Partikularismus noch als sein absolutes Recht gel*
tend machen konnte , in seinem reinsten religiösen Interesse auf*
gefasst, und selbst der Apostel hätte sein nationales Gefühl zu sehr
verläugnen müssen, wenn ihn diese Frage nicht in seinem Inner-
sten bewegt hätte und ihm wichtig genug erschienen wäre, um eiie
so viel möglich befriedigende Lösung zu geben. Mit dem voilea
Interesse einer Herzensangelegenheit geht er CKap. 9) auf diesea
praktisch wichtigsten Theil seines Schreibens über. Es kommi^
sagt er zur Beantwortung jener Frage, überhaupt nicht auf die iei^
liehe Abstammung an, sondern nur auf die geistige Kindschaft Got-
tes und die Erwählung durch seine freie Gnade. Wie daher nidrt
alle geborenen Juden zum wahren Volke Gottes gehören, so er-
wählt sich Gott sein Volk auch aus den Heiden, weil die Erthei«
lung des Heils nur ein freies Geschenk der göttlichen Gnade ist
und daher auch der Weg, zum Heil in Christus zu gelangen, nidit
das Gesetz der Gerechtigkeit ist , welchem die Juden nachginge!,
sondern die Gerechtigkeit aus dem Glauben, die den Heiden so gut
offen steht als den Juden. Haben demnach die gebornen Judea
keinen Rechtsanspruch auf das göttliche Heil zu machen, so ist ei
femer auch nur ihre eigene Schuld, dass sie keinen Theil an ihm
haben. Das Heil kann nur durch den Glauben an die Predigt dei
Evangeliums kommen, aber es haben ja nicht alle Juden dem Ev«b«
gelium Gehör und Glauben geschenkt CK. 10). Demungeachtet
bleiben , sagt der Apostel zum Schlüsse , um hiemit noch auf dal
Tröstlichste, das er bieten kann, zu kommen, die dem jüdische«
Der Brief an die B5mer. 08
Volke von Gott gegebenen Verheissungen an ihm nicht absolut un-
nfUlt, imd Gott hat sein Volk nicht auf immer Verstössen. Denn
idcht nur ist schon jetzt durch die Auswahl der Gnade ein Ueber-
rest vorhanden, in denen, die wirklich glauben, sondern es ist auch
die Verstocktheit und Verblendung, in welcher sich noch so viele
braeliten gegen das Evangelium befinden, nur als etwas Vorüber-
Ifehendes anzusehen, es wird einst, da Gott seine Berufung nicht
bereut, noch ganz Israel gerettet werden, "und wenn auch indess
in die Stelle der ungläubigen Juden die glaubigen Heiden getreten
sind, so ist, zur Verherrlichung der göttlichen Gnade in ihrer Be-
ziehung zum Ganzen, was auf der einen Seite Verlust ist, auf der
Hidem Gewinn, und die Eifersucht der Juden auf die den Heiden
a Theil gewordene Gnade kann sie nur reizen, selbst in den Be-
ste dieser Gnade zu kommen CK. ll). Blickt man von diesem
Pinkte aus auf den Gedankengang des Apostels zurück, so kann
nun sich erst in das lebhafte schmerzliche Gefühl versetzen, wel-
ckem der Apostel gleich im Uebergang auf diesen Theil seines
Schreibens einen so rührenden Ausdruck gegeben hat C^, 1 f.>
Mtn fahlt es mit ihm, aus welcher tief innerlichen, ebenso nationa-
iea als religiösen Sympathie mit seinem Volke sein ganzes Schrei-
ben hervorgegangen ist, und begreift es, welche ernste Angele-
fesheit es ihm ist, seine Volksgenossen darüber zu belehren, dass
der Antheil der Heiden am Reiche Gottes keine Verkürzung der
Jiden seL Es ist ihm selbst ein sichtbares Bedürfniss, eine wahre
Herzenssache, sich mit seinen Volks- und Glaubensgenossen zu
verstindigen, auf der festen Grundlage einer unumstösslichen Wahr-
heit sich mit ihnen auszusöhnen, sie nicht mehr blos mitderdialek-
tkchen Schärfe seines Antinomismus, wie noch im Galataterbrief, zu
bdUlmpfen, sondern ihnen innerlich auf allen Wegen des Verstan-
des und des Herzens näher zu kommen, alles, was zwischen ihm
md ihnen noch trennend dazwischen liegt, vollends hinwegzurau-
laen; jeder Hader und Streit, der ihn mit seinen, ihn so tief ver-
lebenden Gegnern und Widersachern entzweite, ist vergessen und
it der grossen Sache seines Volkes verschwunden, für welche ef
lebt, und für welche er, wenn es in der Gegenwart nicht sein kann,
dedi in der Zukunft die befriedigendste Losung in Aussicht stellt.
Wir wissen nicht, welchen Eindruck das Schreiben des Apostels
auf die römische Gemeinde machte, und welche Wirkung es hatte,
64 Zweiter Abscbnitt Dai Christenthtim alt illgenu HeUsprinoip.
es ist aber gewiss keine unberechtigte Annahme, dass ein so be-
dentungSTolier und inhaltschwerer Brief in einer Gemeinde, in
welcher, wie aus dem Briefe selbst zu schliessen ist, schon da-
mals die judenchristlichen und heidenchristlichen Elemente sieh
nicht mehr so abstossend zu einander verhalten konnten, auch da-«
zu beigetragen hat, ihr die freiere ausgleichende und vermittelnde
Richtung zu geben, durch welche in der Folge die römische Ge-
meinde so grosse Bedeutung erlangt hat
Vergegenwärtigen wir uns das lebhafte Interesse, mit wel-
chem der Apostel während seines damaligen Aufenthalts inKorinth
mit solchen Gedanken sich beschäftigte, so kann uns nur in einem
sehr natürlichen Zusammenhang mit denselben eine AngelegeiH*
heit erscheinen, welche gerade damals dem Apostel desswegen
besonders am Herzen lag, weil sie ihm ein sehr geeignetes Mittel
zu sein schien, die Judenchristen und Heidenchristen einander nä-
her zu bringen, und ihn selbst mit der jerusalemischen Gemeinde
zu befreunden 0* Was er im Briefe an die Galater (2^ 10) schon
seit der Verhandlung in Jerusalem als ein auch in der Trennung
bleibendes Band der Einigung nie aus dem Auge verloren zu ha-
ben versichert, die Unterstützung der Armen in Jerusalem, machte
er in der Periode, in welche die beiden Korinthierbriefe faUen,
zum besondem Gegenstand seiner Thätigkeit Man vergl. 1 Kor.
16, 1 f. 2 Kor. K. 8 und 9. Da er nun um dieselbe Zeit mU dem
Gedanken sich trug, nach einer Reihe von Jahren selbst wieder
nach Jerusalem zu reisen, so ist es eine sehr nahe liegende Com-
bination, dass beides in gegenseitiger Beziehung zu einander stand,
dass ihm hauptsächlich um des Zweckes willen, welchen er bei die-
ser Reise hatte, so viel daran gelegen war, eine bedeutende Bei-
steuer für die Christen in Jerusalem zu Stande zu bringen. Zu-
nächst zwar hatte er nur im Sinne , die Beisteuer durch Abgeord-
nete, welche die Korinthier wählen sollten, mit einem von ihm mit-
gegebenen Schreiben an die Christen in Jerusalem zu übersenden.
Wenn jedoch, setzt er hinzu (1 Kor. 16,4), die Sache es austrage,
d. h. wenn die Beisteuer so reichlich ausfalle , dass der Zweck,
welchen er dabei habe, um so gewisser erreicht werden könne,
werden sie mit ihm reisen. Dass der Zweck nicht blos die äussere
1) Tergl. TheoL Jahrb. 1850. S. 176 &
Die letste SeiM des AposteLi nach JenuMlem. 6B
Unterstützung der Armen war, dass er noch ein anderes, mit sei-»
nem apostolischen Beruf enger zusammenhängendes Interesse da-
bei hatte, sagt er selbst sehr bestimmt im zweiten Briefe, 9, 12. f.
Die Uebemahme dieser Dienstleistung sei eine solche, dass sie
nicht blos einem Mangel abhelfe, es sei auch noch ein Ueberschuss
da durch die vielen Danksagungen, welche Gott dafür dargebracht
werden. Die jerusalemischen Christen preisen Gott darüber, dass
sich das Bekenntniss der Heidenchristen so ganz dem Evangelium
Christi unterwerfe, dass sie nichts anders sein wollen, als ächte
Bekenner des Evangeliums Christi. Und wie jene in der Gabe der
letztem die Herzlichkeit ihrer Gemeinschaft mit ihnen anerkennen,
so wende sich auch ihr Herz ihnen zu, indem auch sie in ihrer Für-
bitte für sie ihre Sehnsucht nach ihnen aussprechen , weil sich die
Gnade Gottes auf eine so überschwengUche Weise an ihnen er-
wiesen habe. Es sollte also der Versuch gewagt werden, die noch
immer bestehende Kluft zwischen den Judenchristen und den Hei-
denchristen aufzuheben, dem paulinischen Christenthum die Aner-
kennung zu verschaffen , die man ihm immer noch versagte. Das
Misstrauen und Vorurtheil , das auf judenchristlicher Seite noch
immer stattfand, und seinen Grund nur in den alten Verhältnissen
haben konnte, glaubte der Apostel durch den Eindruck der Lie-
besgabe brechen zu können, welche die heidenchristlichen Ge-
meinden der jerusalemischen zum Beweis ihrer brüderlichen Ein-
heit darbrachten. Er trat bald darauf ohne Zweifel nach seinem
Piane mit der gesammelten Beisteuer die Reise nach Jerusalem an,
wie schmerzlich aber sah er sich daselbst in seiner Hoffnung ge-
tauscht!
Es ist nicht nöthig, die Umstände genauer zu erörtern, unter
welchen der Apostel das bekannte Schicksal in Jerusalem hatte,
nur die Frage hat besonderes Interesse , wer waren die Urheber
der tumultuarischen Auftritte , in welchen der Apostel der Wuth
seiner Gegner nur durch das Einschreiten der römischen Militär-
behörde entrissen werden konnte, waren es Juden oder Juden,-
christen? Es waren Eiferer für das Gesetz, welche in dem Apo-
stel einen Vebertreter des Gesetzes, einen Abtrünnigen , einen er-
klärten Fdnd der Nationalreligion sahen, solche Eiferer waren aber
nicht blos die Juden, sondern ebensosehr die Judenchristen', ja die
letztem noch mehr als die erstern, da bei ihnen die Frage über das
Baar» äto drei entn Jatarlu ^
06 Zweiter AWhnitt. Dai ChriBtentham alg aUgem. fidlsprincip.
Gesetz durch die Heidenmission zur Sache des lebhaftesten Partei-
interesses geworden war. Es blickt daher selbst durch den , den
wahren Thatbestand so viel möglich verhüllenden Bericht der
Apostelgeschichte dieKunde hindurch, dassanden Aeussemngendes
Hasses, dessen Opfer der Apostel wurde , in jedem Fall auch die
Judenchristen keineswegs so unbetheiligt waren, wie man g^
wohnlich meint Unter dem Schutze seines römischen Bürgerrechts
kam der Apostel, nach zweijähriger Haft in Cäsarea, nach Rom, wo
seine Gefangenschaft nach der Angabe der Apostelgeschichte auch
wieder zwei Jahre dauerte, ohne dass wir wissen, wann und wie
sie endete. Es ist uns aus dieser ganzen Zeit, selbst wenn wir die
angeblichen Briefe des Apostels aus seiner römischen Gefangen-
schaft für acht halten, so gut wie nichts Sicheres und Erhebliches
bekannt Das Merkwürdigste ist, dass der Endpunkt jener zwei-
jährigen Periode mit dem Zeitpunkt der grossen neronischen Feu-
ersbrunst und der durch sie veranlassten Christenverfolgung so zu-
sammentrifft, dass nichts wahrschemlicher sein kann, als die Ver-
muthung, der Apostel habe diese verhängnissvolle Periode nicht
überlebt
Bis zu dem Zeitpunkt, in welchem der Apostel vom Schau-
platz der Geschichte verschwindet, haben wir nur Differenzen und
Gegensätze vor uns, zwischen welchen sich noch kein sicherer Weg
der Ausgleichung und Vermittlung zeigt Wenn auch gerade auf
der Seite, von welcher aus der grosse Riss in das, den Juden und
Judenchristen noch gemeinsame religiöse Bewusstsein gekommet
war, zuerst wieder ein gewisses Bedürfniss der Annäherung und
Aussöhnung sich fühlbar machte, so wurde es doch auf der andern
Seite nicht mit dem entsprechenden Erfolg erwiedert Es gab
nur Judenchristen und Heidenchristen mit entgegengesetzten
Richtungen und Interessen, noch keine, beide vereinigende kirchr
liehe Gemeinschaft, und die Geschichte hat noch nichts von. grös-
serer Bedeutung aufzuweisen, was dazu hätte dienen können, die
grosse Kluft, welche seit den Ereignissen in Antiochien zwischen
den beiden Aposteln Petrus und Paulus, als den Häuptern der bei-
den Parteien, sich aufgethan hatte, wieder auszufüllen. Nur in der
römischen Gemeinde müssen, wie schon früher, so nun auch in
Folge des Einflusses , welchen der Apostel Paulus sowohl durch
seinen Brief als auch durch seine persönliche Gegenwart auf sie
Die Gkgensfttze. 67
hatte, Elemente vermittelnder Art gewesen sein, und wie hätte der
MSrtyrertod, mit welchem der grosse Heidenäpostel in jedem Fall,
sei es auf die eine oder die andere Weise , sein Tagewerk in Rom
beendigt hatte , einen andern als versöhnlichen Eindruck für die
Zukunft zurücklassen können! Eine sinnvolle, aber erst längere Zeit
nachher entstandene Sage knüpft an diesen Tod die brüderliche
Einigkeit der beiden Hauptapostel, und es ist daher dieser Punkt
zunächst in der weitem Entwicklungsgeschichte dieser Verhältnisse
zu fixiren, in die Zwischenzeit selbst dagegen, die seit dem Tode
des Apostels Paulus bis dahin verfloss, fällt so Vieles, was in ver-
schiedenen Richtungen seinen Verlauf nahm, dass die geschicht-
liche Entwicklung erst auf einem weitern Wege zu diesem Ziel
gelangen kann.
Die Haupttendenz konnte, wie aus dem Endresultat zu schlies-
sen ist, nur dahin gehen, die beiden einander gegenüber stehen-
den Parteien durch Ausgleichung der Differenzen und Vermittlung
der Gegensätze einander so viel möglich näher zu bringen. Diese
Richtung musste der Natur der Sache nach mehr und mehr die vor-
herrschende und überwiegende werden, um sie aber in ihrem gan-
zen Umfang verfolgen zu können, muss man vor allem die Punkte
ins Auge fassen, auf welchen der vorhandene Gegensatz am wei-
testen auseinander geht. Diess findet am meisten da statt, wo der
Gegensatz seine grösste Schärfe ebendann hat, dassereinbewuss-
ter und absichtlicher ist; je mehr beide Theile noch darauf ausge-
ben, das festzuhalten, was sie von dem Gegner trennt, und sich in
Antithese zu ihm zu setzen, in eiiie um so weitere Feme ist noch
das Ziel der möglichen Vereinigung hinausgerückt Gibt es also,
muss man fragen, auch nach dem Tode des Apostels Paulus Er-
scheinungen, in welchen theils der Paulinismus seine antithetische
Spitze gegen das Judenchristenthum herauskehrt, theils das letztere
gegen den erstem in derselben Opposition beharrt , mit welcher
sieh die Judenchristen schon von Anfang an dem Apostel Paulus
entgegengesetzt hatten?
Nach den Briefen des Apostels Paulus ist die reinste und wich-
tigste Urkunde des Paulinismus das Lukasevangelium , dessen
1) Vergl. meine krit. Unters, über die kan. Evangel. S. 427, meine
Bohrift über das Markasey. B. 191 f. Köstlin Ursprung und Kompos. der
Bynopt Evangel* 6. 133 t KObtlik nimmt keine so scharfe und offene
5*
68 Zweiter Abschnitt. Das Christenthom als allgem. Heilsprinoip.
Entstehung wegen der speciellen Beziehungen auf die Zerstörung
Jerusalems, die sich in ihm finden, in jedem Fall erst in die Zeit
nach dem J. 70 gesetzt werden kann. Es gilt seit der ältesten Zeit
als ein paulinisches Evangelium, aber erst in der neuesten Zeit hat
man den paulinischen Charakter, durch welchen es sich von den
beiden andern synoptischen Evangelien unterscheidet, in seinen
bestimmteren Zügen erkannt. Es hängt dies zwar mit der Frage
über die Komposition des Evangeliums überhaupt so nahe zusam-
men, dass hier nur das Allgemeinste hervorgehoben werden kann,
aber auch schon darin spricht sich die paulinische Tendenz des-
selben unverkennbar aus. Wie die Anlage und Tendenz des Lo-
casevangeliums nur aus seinem Verhältniss zum Matthäusevange-
lium begriffen werden kann, so gibt auch der Judaismus des letz-
tem den besten Maasstab zur Bestimmung seines paulinischen Cha-
rakters. Jesus ist hier nicht blos der jüdische Messias des Mat-
thäusevangeliums, sondern der Erlöser der Menschheit überhaupt,
und in diesem Sinne der Sohn Gottes , und in Gemässheit seiner
universellen Bestimmung ist die ganze Vorstellung von seiner Per-
sönlichkeit, wie sie sich in seinem Thun und Wirken, in seiner
Lehre, in seinen Wundern, insbesondere in seiner Macht über die
Dämonen, überhaupt in seiner ganzen Selbstoffenbarung als eine
übermenschliche bethätigt, eine höhere und umfassendere. Hierin
liegt der Grund, dass das Lukasevangelium in seiner Auffassung
und Darstellung der evangelischen Geschichte schon den entschei-
denden Schritt zu einer Richtung gethan hat, welche in demselben
Verhältniss, in welchem sie über die Anschauungsweise des Mat-
thäusevangeliums hinausgeht, der johanneischen sich nähert. Die
galiläische Wirksamkeit Jesu wird so viel möglich abgekürzt, um
dagegen die auf Judäa und Jerusalem sich beziehende zu erwei-
tern, weit früher als im Matthäusevangelium wird der Tod und die
Auferstehung Jesu als der endliche Ausgang und das entscheidende
Ziel seiner ganzen irdischen Wirksamkeit ins Auge gefasst Qd, 22*
51), der Kampf mit den Gegnern ist entschiedener, offensiver, un-
versöhnlicher, es greift die dämonische Macht, deren Werkzeuge
sie sind , in bestimmten Momenten in den Verlauf der Geschichte
Opposition gegen den Judaismus des Matthäusevangeliums an wie ich, es
scheint mir diess aber ein Mangel seiner Auffassung zu sein*
Das Laoasevangeliam. 09
in C49 13. 10, 18. 22, 3. 53), und sowohl dadurch, als durch wie-
srholte Erklärungen stellt sich die Wahrheit in ihrem vollen
ichte dar, dass das Judenthum überhaupt nicht das wahre und
igentliche Gebiet für die Verwirklichung seines Werkes sei.
leiben wir hier jedoch nur bei dem Hauptpunkt stehen , so gibt
ch der paulinische Universalismus, als die Grundanschaung des
rangeliums, in folgenden Hauptzügen zu erkennen. Es fehlen
cht nur die partikularistisch lautenden Aeusserungen Jesu im
atthäusevangelium 0) sondern es ist auch der christliche Univer-
iKsmus der besondere Gegenstand der Darstellung in mehreren
rzählungen und Parabeln. Wie die Juden das Evangelium ver-
werfen, so sind es dagegen die Heiden, die es mit oflPenem, willigem
inn aufnehmen , und wenn auch Jesus selbst es noch nicht in den
leidnischen Ländern verkündigt hat, so hat er doch im Grunde
chon durch seine Wanderungen in Samaria , wohin ihn das Lu-
usevangelium 9, 52. 17, 11 aus Galiläa übergehen lässt, die Hei-
ienmission eröffnet, und noch überdiess durch die Wahl der sie-
)enzig Jünger seine Bestimmung nicht blos für die zwölf Stämme
Israels, sondern die Gesammtheit der heidnischen Völker ange-
kündigt. Nicht minder gibt das Lukasevangelium seinen paulini-
schen Charakter darin zu erkennen, dass es von einer Identität der
Lehre Jesu mit dem Gesetz und dem A. T. , wi6 sie im Matthäus-
Brangelium behauptet wird , nichts weiss. Den für das Mattbäus-
srangelium so charakteristischen Ausspruch über die Erfüllung des
Sesetzes und seine fortdauernde Gültigkeit hat das Lukasevange-
inm nicht,* was das Hatthäusevangelium von der Unauflöslichkeit
mch der geringsten Theile des Gesetzes sagt, sagt das Lukasevan-
^lium nach der ursprünglichen Lesart 16, 17 *) von den Worten
1) Vergl. KösTLiN a. a. O. S. 178 f.
2) Die Untersachungen über das marcionitische Evangelium, wie sie
on ScHWEOLER theol. Jahrb. 1843 S. 575 f. Nachapost. Zeitalter 1846» 1.
. 360 f* und RiTscHL, das Evangelium Marcions und das kanonische Evan-
elinm des Lukas 1846 wieder aufgenommen worden sind, haben neuestens,
esonders durch die gründlichen Erörterungen, welche zuletzt noch von
OLCKMAB, das Evangelium Marcions 1852 und HiLaEinrELD , das marcioni-
sche Evangelium, theol. Jahrb. 1853 S. 194 f. gegeben worden sind, zu
na Resultat geführt, dass das marcion. £v. neben den absichtlich von
[arcion vorgenommenen Aenderungen in jedem Falle auch Lesarten ent-
ielt, die aller Wahrscheinlichkeit nach für orsprünglioher la halten aind,
70 Zweiter Abscbnitt. Das Chmtenthum als allgem. Heilsprindp.
Jesu, es legt Jesu geradezu die Behauptung in den Mund, dass das
mosaische Gesetz schon mit dem Auftreten des Johannes sein finde
erreicht und seitdem, im Gegensatz zum Gesetz, die Verkündigung
des göttlichen Reichs begonnen habe 16, 16. Dazu kommt sodann
noch, dass es auch über die Persönlichkeit der altern Apostel auf
eine Weise sich äussert, die sich nur daraus erklären lässt, dass
es sie in demselben Yerhältniss in einem ungünstigem Licht er-
scheinen lassen wollte, in welchem dagegen die Auktorität und
apostolische Befähigung des Apostels Paulus gehoben werden
sollte. Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass der für Petrus
so bedeutungsvolle Ausspruch Jesu im Matthäusevangelium, in ivel-
chem er wegen seines Bekenntnisses selig gepriesen, und für den
Felsen erklärt wird, auf welchen die Gemeinde Jesu so gebaut
werden soll, dass die Pforten der Hölle nichts gegen sie vermögen,
für denjenigen, welchem die Schlüssel des Himmelreichs gegeben
sind, mit der Macht zu binden und zu lösen, vom Lukasevangelium,
das freilich einen solchen Primat auf keine Weise anerkennen
konnte, völlig ignorirt wird; ebenso wird die, Matth. 18, 18 den
Zwölf ertheilte Vollmacht, Sünden zu vergeben und nicht zu ver-
geben, mit dem Uebrigen, was damit zusammenhängt, hinwegge-
lassen; aber auch ausserdem stellt es in so vielen Stellen die ersten
Jünger von einer so unvortheilhaften Seite dar , dass dadurch der
Gedanke sehr nahe gelegt werden muss, wenn es keine andern
fähigeren Jünger gegeben habe , so habe es immer noch an den
wahren und rechten Jüngern Jesu gefehlt, an einem solchen Apo-
stel, wie Paulus war 0- D^ ^ii* nicht annehmen können, dass das
als die unsers kanonisohen Textes. Unter die hieher geliörenden Stellen
glaube ich mit gutem Grunde auch die obige Luk. 16) 17 rechnen zu dür-
fen, und halte demnach in Uebereinstimmung mit HiLaENFELD a. a. O. S.
331 f« die Lesart tcjv loyoßv /*& fest.
1) Man vergleiche hierüber meine krit. Unters. S. 435 f- Nach KösT-
LiN a. a. O. S. 200 f« hätte es der Verfasser des Lucasevangeliums keines-
wegs auf die Degradimng der Zwölf abgesehen, nur um die Erhabenheit
der christlichen Offenbarung recht entschieden geltend zu machen, hebe. er
ihre Unfähigkeit zum Yerständniss Jesu so oft hervor, und nur dagegen
trete er auf, dass die Zwölf sich etwa für die einzigen zur Verkündigung
Jesu Berechtigten halten. Wozu aber die neuen Yerkündiger des Evange-
liums, wenn die bisherigen dazu fähig genug waren und die neuen dooh
nur wieder derselben Art waren ? Köstlin glaubt sogar (8. 267^ eben auch
Das Lnkaseyangeliiiin. Tt
Lukasevangelium auf einer reineren historischen Ueberliefernng
beruht, als das Natthäusevangelium und die evangelische Geschichte
da treuer und wahrer darstellt, wo zwischen ihm und den beiden
andern Evangelien so bedeutende Differenzen stattfinden, so kann
tun der 70 Jünger willen ein Petrasevangeliam als Qnelle unseres Lucas
Toraoflsetsen zu müssen. Nor in einer Sobrift, welche die jüdische nnd
niehtjüdisohe Mission nnter verschiedene Jünger vertheilen wollte, nm so-
wohl die ausschliessliche Thätigkeit der Zwölf fär das Volk Israel als die
Sorge für Belehrung der Heidenwelt in gleicher Weise festzuhalten, sei der
ursprüngliche Ort fär die 70 gewesen. Bedenkt man aber, wie sehr den
Jndenchristen, nachdem einmal die Idee der Heidenmission (die Petrus selbst
Gal. 3, 7 fo noch nicht hatte), auch in ihnen erwacht war , daran lag , den
Petrus Bom Heidenapostel zu machen, so ist es gewiss nicht sehr wahr-
scbeinllch, dass die 70 Jünger in einem petrinischen Evangelium zuerst in
die evangelische Tradition eingeführt worden sind. Woher aber auch das
Lukasevangelium seine 70 Jünger haben mag, die Antithese gegen die
Zw5lf springt in jedem Falle C. 10 so klar in die Augen, dass das acht
paulinische Interesse, das dabei zu Grunde liegt, sich nicht verkennen l&sst
Wag hilft es daher mit Köstlin a. a. Orte zu sagen, bei der so sichtba-
ren Auszeichnung der 70 falle nur um so mehr auf, dass so gar wenig von
ihnen berichtet werde, und dass sie lO, 20 eigentlich nur zurückkehren,
nm von Jesu eine ziemlich niederschlagende Ermahnung zur Demuth zu
erhalten. Wie können sie trotz dieser Ermahnung höher gehoben werden,
als durch den Ausspruch, sie sollen sich darüber freuen, dass ihre Namen
im Himmel geschrieben seien (vgl. Apok. 31, 1))? (Gerade diess, dass
80Q8t von ihnen nichts weiter gesagt wird, und dass auch der Ausspruch
Jesu 10, 20 nur den Sinn haben kann, nicht auf das, was sie jetzt gethan
haben, den äusserlich in die Augen fallenden Erfolg ihrer Wirksamkeit komme
ee an, sondern das, was für den Himmel an ihre Namen geknüpft ist, macht
ja nur um so klarer, dass sie die Träger einer Idee sind, die in ihnen erst
nun Bewusstsein kommen sollte, und nur im Paulinismus in seinem Gegen-
satz zum Judaismus realisirt werden konnte. Es ist nicht im Interesse der
BTangelienkritik , bei solchen Stellen , in welchen die (Gegensätze in ihrer
Spitze hervortreten, vor allem an die Ausgleichung der Gegensätze und die
Abstumpfung ihrer Spitze zu denken, besonders wenn es in der Absicht ge-
schieht, dadurch einer neuen Hypothese über die etwaige Quelle eines Evan-
geliums eine scheinbare Stütze zu geben. Solche Stellen sind es vielmehr,
Ton welchen aus erst die minder evidenten ihr wahres Licht erhalten. Auch
Lok. 8y 54 kann ich es nur fQr willkürlich halten, die Apostel von den
navrtty welche Jesus hinausgehen heisst, auszunehmen. Wer bleibt denn
fÖr die TraVrtc noch übrig, wenn nach V. 31 ausser den drei Aposteln
Jemand da war, als die Eltern des Mädchens? Vergl. Köstum a. a. O.
0. 196.
78 Zweiter Abschnitt Das Chiistenthiim «k allgem. Heüsprindp.
es nur aus dem Bestreben hervorgegangen sein, die principielle
Berechtigung des paulinischen Universalismus dadurch nachzuwei-
sen, dass die evangelische Geschichte schon in der Person Jesu
selbst aus diesem Gesichtspunkt aufgefasst wurde. Das Lukas-
evangelium zeugt auf diese Weise, indem es gerade dasjenige so
bestimmt durchblicken lässt, was man in der Folge am meisten zu
verhüllen suchte , die im Paulinismus liegende persönliche Bezie-
hung auf die altern Apostel, die nothwendige Voraussetzung, dass
sie in demselben Verhältniss auf einer niedrigeren Stufe standen als
Paulus, in welchem überhaupt der Paulinismus höher steht als der
Judaismus, von dem kraftigen Selbstbewusstsein , mit welchem der
paulinische Geist auch nach dem Tode des Apostels in seinen treuen
Anhängern fortlebte. Es ist in seiner paulinisirenden Richtung eine
so eigenthümliche Erscheinung, dass auch in der Folge der pauli-
nische Geist, mit je grösserer Energie er hervortrat, nur um so
mehr seinen reinen Ausdruck in diesem Evangelium zu findoi
glaubte. Galt es doch so sehr als das Evangelium des Apostels Pau-
lus, dass Kirchenväter, wie Eusebius CK. G. 3, 4) in den Stellen der
paulinischen Briefe, in welchen der Apostel von seinem Evange-
lium spricht, wie 2 Tim. 2, 7, unter diesem Evangelium geradezu
das Lukasevangelium verstehen zu müssen glaubten.
Keiner aber hat es höher gestellt als Marcion, welcher in der
ältesten Geschichte des Paulinismus nach dem Verfasser des Lukas-
evangeliums der am meisten charakteristische Träger und Vertre-
ter des reinen paulinischen Princips ist. Wie es sich auch mit dem
marcionitischen Evangelium verhalten mag, wenn auch Marcion in
keinem Falle ein Verstümmler und Verfälscher des Lukasevange-
liums in dem Sinne ist, in welchem er den Kirchenvätern dafür galt,
wenn seine Textesform in manchen Stellen ohne Zweifel für die
ächte und ursprüngliche zu halten ist, und auch da, wo er unläug-
bar im Interesse seines Paulinismus und seines gnostischen Systems
sich Abkürzungen und Abänderungen erlaubte, dies anders anzu-
sehen ist, als man es gewöhnlich nimmt, da es nur nach der Ana-
logie des Verhältnisses beurtheilt werden kann, in welchem die Ver-
fasser unserer kanonischen Evangelien zu einander stehen, sofern
jeder folgende Evangelist den nach seiner Ansicht sich immer
gleich bleibenden substanziellen Inhalt der evangelischen Gescluchte
unter einen andern Gesichtspunkt stellte , und in eine andere Form
Maroion. 78
der Darstellnng brachte, so bezeugt doch in jedem Fall auch schon
sein Evangelium die Entschiedenheit und Schärfe seines Paulinis«
mus dadurch, dass er sich in seiner negirenden, antithetischen, kri-*-
tischen Tendenz zu erkennen gibt Es sollte aus dem Inhalt der
evangelischen Geschichte so viel möglich alles ausgeschieden wer-
den, was ein blos jüdisches Gepräge an sich trug, und der Gegen-
satz des Evangeliums zum Gesetz und A.T. in seiner ganzen Weite
hervortreten. Denselben Zweck hatte die von Marcion seinem
Evangelium unter dem Titel Antithesen beigegebene Schrift, welche
schon durch ihren Namen ihre Tendenz deutlich zu erkennen gab.
Sie war eine Gegenüberstellung von Sätzen des A. T. und des Lu-
kasevangeliums , in welchen der Gegensatz des Gesetzes und des
Evangeliums sich unmittelbar vor Augen stellte , zur Einleitung in
sein Evangelium, um den richtigen Gesichtspunkt für dasselbe fest-
zostellen ^). Mit gutem Grunde stellte er, obgleich diess auch mit
Rücksicht auf die Zeitfolge geschehen konnte , in seiner Sammlung
der paulinischen Briefe den Brief an die Galater , als die principa-
lis adversus Judaismum epistola *), voran, und wie ihm Paulus vor-
zugsweise und ausschliesslich als der wahre Apostel galt , so trug
er noch weit weniger als irgend ein anderer Gnostiker Bedenken,
den antiochenischen Apostelstreit als das schlagendste Argument
gegen den Judaismus der altem Apostel aufs Neue in Erinnerung
XU bringen, und die Marcioniten beriefen sich eben darauf zum Be-
weis dafür, dass Marcion durch seine Trennung des Gesetzes und
des Evangeliums nicht sowohl etwas Neues eingeführt, als vielmehr
nur das Ursprüngliche in seiner Reinheit wiederhergestellt habe ^.
Sein gnostischer Dualismus musste ihn in der Antithese gegen das
A. T. noch über den Apostel Paulus hinausfahren. Seine Stellung
zum A. T. erlaubte ihm nicht, von der allegorischen Erklärung
Gebrauch zu machen, da sie ja nur das Mittel sein sollte , das Alte
mit dem Neuen zu verknüpfen und die Gegensatze auszugleichen.
i) Yergl. TertaUian Adr. Marc. 4, 1: Ut fidem instraeret (Maroion
erangelio) dotem qnandam commentatas est illi (antitheses praestmendo 4) 6)
qpQB ex contrarietatom oppositionibas Antitheses cogpominatam et ad sepa-
rationem legis et evangelii coactom. Vrgl. meine Sohrift : Die ehr. Gnosis,
TQMngen 18S5. B. 249 f.
2) Tert Adv. Maro. 5, 2.
3) VergL TertulL Adv. Maro. 1, 20« 5» 2« De prsMor. hnret o. 22«
74 Zweiter Abschnitt. Das Christenthum als allgem. Heilsprinoip.
Diente sie auch dem Apostel Paulus für diesen Zweck, so ist es
dagegen für ihn um so bezeichnender, dass er selbst aus Grund-
satz die Allegorie verwarf 0* So sehr es ihm aber im Interesse
seines Paulinismus darum zu thun war, Gesetz und Evangelion
in der ganzen Weite ihres Unterschieds auseinander zu halten, so
wenig war es seinem Sinne gemäss, auf dem eigentlich evangeli-
schen Boden trennende Unterschiede zuzulassen, und vmr können
auch darin bei Marcion nur die Consequenz des paulinischen, auf
das gemeinsame evangelische Grundbewusstsein zurück gehendea
Universalismus sehen, dass er von einer Absonderung der Kate-
chumenen von den Glaubigen, einer äussern Unterscheidung ver-
schiedener Klassen und Stande, wie sie schon damals die Grund-
lage einer im Geiste der jüdischen Hierarchie sich gestaltenden
Gemeindeverfassung wurde, nichts wissen wollte 0* DerMarcioni-
tismus, wie er sich in allen diesen Zügen ausgeprägt hat, ist die-
jenige Erscheinung der alten Kirche, in welcher der Paulinismus
die grösste Energie seiner antijüdischen Tendenz entwickelte.
Der bedeutende Einfluss, welchen Marcion, wie aus allen Nach-
richten zu schliessen ist, auf die christliche Kirche des zweiten
Jahrhunderts hatte, die weite Verbreitung seiner Anhänger, die
zum Theil eigene Gemeinden bildeten, nicht blos in Rom und Ita-
lien, sondern auch im Orient, selbst noch im vierten und fünften
Jahrhundert '3, lässt sich nur auf das im Marcionitismus wirkende
paulinische Element zurückführen. In demselben Verhältniss, in
welchem der Judaismus sich geltend machte, musste auch der
FauUnismus sich in sich selbst zusammennehmen, und in der Tiefe
seines Selbstbewusstseins sich erfassen, aber freilich konnte die
extreme Richtung, die er im Marcionitismus erhielt, und die Ver-
bindung, in welche er in ihm mit der häretischen Gnosis kam, nur
die Folge haben, dass er mit dem Marcionitismus aus seiner anti«
thetischen Stellung mehr und mehr in eine untergeordnete zurück-
gedrängt wurde.
Ueber die Gegner, mit welchen der Paulinismus auch noch
1) Orig. Comment. in Matth. T. XV. 3: Magniünv ~ tpaatcuiVi firj 3tiv
dkXijyogeiv t^v ygatpi^p,
2) Hieronymus im Gomm. über Gal. zu 6» 6. vgl. Tert. De praescr.
haer. c. 41*
3) Gnoaiö S. 297 f.
Der JadaiBmoB der Apokalypse. 75
nach dem Tode des Apostels Paulus zu kämpfen hatte, gibt uns
Bchon eine der ältesten Schriften des neutestamentUchen Kanons
eine Andeutung, aus welcher weitere Schlüsse zu ziehen sind.
Wer sind die Gegner, welche die Apokalypse in ihren Send«
sehreiben an die sieben kleinasiatischen Gemeinden, unter dem
Namen der Bileamiten oder Nikolaiten und der Anhänger des Weibs
Isabel, besonders in den Gemeinden zu Pergamus und Thyatira,
80 lebhaft bestreitet? Es wird ihnen neben der Hurerei beson-
ders das Essen von Götzenopferfleisch schuldgegeben, Apok. 2,
14. 20. Die Frage, ob das Letztere den Christen erlaubt sei,
war zuerst dem Apostel Paulus von Mitgliedern der koruithischen
Gemeinde vorgelegt worden, und er hatte sie nicht nur nach ihren
verschiedenen Seiten, besonders auch nach Maassgabe der christ-
lichen Freiheit und der aufgeklärteren Ansicht eines paulinischen
Christen untersucht, sondern auch so beantwortet, dass er, wenn
er sie auch in letzter Beziehung verneinte, doch mit einzelnen
Fällen eine Ausnahme machte, in welchen das an sich dem Chri-
stenthum Widerstreitende doch wenigstens in subjektiver Bezie-
hung nicht als Sünde sollte angesehen werden. Es ist sehr wahr-
scheinlich, dass manche paulinische Christen im Bewusstsein ihrer
freieren Ansicht, wie es auch schon in jener Frage der korinthi-
schen Christen sich zu erkennen gibt Cl Cor. 8, 1 f.}, hierin auch
noch weiter gingen, als im Sinne des Apostels lag, und im Ver-
kehr mit Heiden es auch in Ansehung dieses Punkts nicht sehr
streng nahmen. Es konnte so überhaupt das Essen von Götzen-
opferfleiseh in den Augen der gegen den Apostel Paulus feindlich
gesmnten Judenchristen ein unterscheidendes Merkmal des laxe-
ren, dem Heidenthum so befreundeten paulinischen Christenthums
werden. Man könnte daher in den genannten Stellen der Apoka-
lypse eine antithetische Beziehung auf paulinische Christen an-
nehmen, auch ohne dass der an ihnen gerügte Missbrauch ihrer
christlichen Freiheit dem Apostel selbst zur Last fiele. Dass aber
ihr Verfasser auch den Apostel Paulus selbst im Auge hatte als den
Urheber einer Lehre, die die Quelle dieses falschen Christenthums
war, und in ihm einen Lehrer sah, dessen apostolische Auctorität
für ihn keineswegs eine entschiedene Sache war, macht nicht nur
der judaistische Charakter der Apokalypse sehr wahrscheinlich,
sondern es liegt auch als nothwendige Consequenz in der Stelle
76 Zweiter Abtohnitt Dm Christenthnm als allgem. Heilsprinoip.
21, 14, in welcher er von der Zwölfisahl der Apostel in einem
Sinne spricht, durch welchen der Apostel Paulus von selbst ans
der Zahl der Apostel ausgeschlossen ist Wer anders also als der
Heidenapostel mit seinen apostolischen Gehälfen kann gemeint sein,
wenn der Apokalyptiker 2, 2. von der Gemeinde in Ephesus rühmt,
dass sie gegen die, welche sich selbst für Apostel ausgegeben he-
ben, ohne es zu sein, sich nicht gleichgültig verhalten, sondern
sie geprüft und als falsche Apostel erfunden habe? Es ist die«
ein um so gOMichtigeres Zeugniss für die judaistische Reaktioi
gegen das paulinische Christenthum, wenn man die Lokalität be-
denkt, von welcher sie ausging. Die Stadt Ephesus war neben
Korinth der Hauptsitz eines länger dauernden Aufenthalts des Apo-
stels Paulus. Hier hatte sich ihm eine weite Thüre für seine apo-
stolische Wirksamkeit eröfl^iet 1 Cor. 16, 9., und man sollte den-
ken, das paulinische Christenthum sei nirgends fester begründet
gewesen als in den kleinasiatischen Gemeinden, in deren Mitte der
Apostel so lange verweilte. Aber er selbst klagte schon am Ende
seines letzten Aufenthalts über die vielen Widersacher, welche
ihm entgegen treten C^^* si* 0.}. Es waren ohne Zweifel judaisti-
sche Gegner derselben Art, wie die in Korinth, welche hier einen
noch günstigem Boden für ihre Bestrebungen hatten. Nicht lange
nachdem der Apostel Paulus Ephesus und den Schauplatz seiner
Wirksamkeit verlassen hatte, treffen wir den Apostel Johannes
an demselben Orte. In Ephesus oder in der Nähe ist die Apoka-
lypse nach ihrer eigenen Angabe, geschrieben. Die kirchliche
Sage lässt den Apostel eine lange Reihe von Jahren bis zu seinem
Tode im höchsten Alter hier weilen und weitumher den Gemein-
den mit hochverehrter Würde vorstehen. Kirchliche Gebräuche,
welche zum eigenthümlichen Charakter der kleinasiatischen Kirche
gehörten, führte die kirchliche Tradition auf ihn zurück. Ist nun
nach allem, was uns über den Apostel Johannes bekannt ist, nach
der Stellung, welche er schon als einer der Säulenapostel in Je-
rusalem dem Apostel Paulus gegenüber hatte, und nach allen
Zügen, die ihn als Apokalyptiker charakterisiren, so unwahrschein-
lich, dass er hauptsächlich auch in der Absicht seinen Sitz ge-
rade da, wo zuvor Paulus gewesen war, nahm, um von Ephesus
aus als dem Mittelpunkt einer weit sich erstreckenden Wirksamkeit
die Grundsätze des jerusalemischen Christenthums gegen die
PapiaB, Hegesippna. 77
Uebergriffe des paalinischen aufrecht zu erhalten? Je yerhasster
ihm alles heidnische Wesen war, um so mehr musste er auch die
paulinisirenden Gemeinden jener Gegend vor allem darauf ansehen,
wie es in dieser Beziehung bei ihnen stehe, und die Lobsprüche
und Vorwürfe, die er ihnen ertheilt, je nachdem sie in ihrem Eifer
für das reine achte Christenthum wärmer und thätiger, oder lauer
und gleichgültiger sind, erhalten dadurch erst ihre bestimmtere
Bedeutung, wenn wir sie auf solche Verhältnisse beziehen. In
jedem Falle gab es nun in jenem Theile Kleinasiens statt des pau-
linischen Christenthums nur ein johanneisches, und der Name des
Apostels Paulus wird von den hauptsächlich jener Lokalität ange-
liörenden kirchlichen Schriftstellern der zunächst folgenden Pe-
riode entweder gar nicht, oder nur in feindlicher Beziehung ge-
nannt. Papias, welcher so grosses Interesse für die unmittelbaren
Nachfolger der apostolischen Zeit hatte, nennt ohnediess in der
bekannten Stelle weder den Apostel Paulus, noch einen aus
dem paulinischen Kreise, aber auch selbst in Justins so vielfache
Gelegenheit dazu darbietenden Schriften sucht man vergeblich
eine namentliche Erwähnung des Apostels Paulus. Da in dieser
Beziehung kein Zweifel über die damals schon verbreiteten Schrif-
ten sein kann, wie ja auch die Apokalypse des Johannes von ihm
keineswegs vergessen worden ist, so legt das räthselhafte Schwei-
gen über den Apostel Paulus und dessen Briefe die Vermuthung
eines absichtlichen Ignorirens sehr nahe. Der Erste wenigstens^
dorch welchen wir an den Apostel Paulus wieder erinnert werden^
lifist uns auf keine ihm günstige Stimmung schliessen, der um die
Mitte des zweiten Jahrhunderts lebende judenchristliche Schrift-
steller Hegesippus. Wenn* er, freilich ohne den Apostel Paulus
m nennen, die von demselben 1 Cor. 2, 9. gebrauchten Worte für
unwahr und der göttlichen Schrift widerstreitend erklärte, und
Urnen den Ausspruch JesuMatth. 13, 16. entgegensetzte, so sprach
er hiemit eine Ansicht über die apostolische Befähigung des Apo-
stels Paulus aus, vermöge welcher wir ihn zu den erklärtesten
Gepem des Apostels rechnen müssen. Sind nach dem Ausspruch
des Herrn nur die selig zu preisen , welche mit den Augen ge-
sehen und mit den Ohren gehört haben, so kann auch der Apostel
i) fioBebioB K.G. 5» S9.
78 Zweiter Absclmitt. Dm Christenthiim als allgem. HeiUiprinoip.
nicht zu diesen Seligen gehören und somit auch nicht zum Apostel
berufen sein 0* Es stimmt diess auch ganz zu dem uns sonst
bekannten Charakter dieses Vertreters der judenchristlichen Par-
tei, welcher wie ein Bevollmächtigter derselben in den Jahren
150—160 auswärtige Gemeinden bereiste, mit verschiedenen Bi-
schöfen, namentlich in Korinth und Rom, Rücksprache nahm, und
von seiner Reise das befriedigende Resultat zurückbrachte, es
stehe überall so, wie das Gesetz es verkündige, die Propheten
und der Herr 0) woraus in jedem Falle zu schliessen ist, dais
selbst in einer solchen Gemeinde , wie die korinthische war, die
judenchristliche oder petrinische Partei das entschiedene Ueber-
gewicht über die paulinische gewonnen hatte. In einer andern
Stelle desselben uns nur noch aus den bei Eusebius erhaltenen
Fragmenten bekannten Werks scheint zwar Hegesippus die apo*
stolische Zeit als die Periode zu schildern, in welcher die Kirche
noch eine reine und unverdorbene Jungfrau war, und die gotüose
Irrlehre erst von der Zeit an zu datiren, in welcher nach dem Ab-
leben des heiligen Chors der Apostel die Generation ausgestorben
war, welche die göttliche Weisheit mit eigenen Ohren zu hören
gewürdigt war ^, allein bei näherer Betrachtung schliesst die
Stelle es keineswegs aus, dass es auch schon zur Zeit der Apostel
einen Irrlehrer geben konnte, wie der Apostel Paulus nach der
Ansicht dieser Judaisten war. Denn nur das offene Hervortreten
der Irrlehrer mit entblösstem Haupte in der der Predigt der Wahr-
heit entgegen tretenden fälschlich so genannten Gnosis lässt er
nach dem Tode der Apostel erfolgen, wenn es dagegen, wie er
selbst sagt, auch schon zur Zeit der Apostel solche gab, welche
zwar noch im Dunkel der Verborgenheit zu bleiben suchten, aber
doch auch schon damals darauf ausgingen, den gesunden Kanon
der heilbringenden Lehre zu verderben, so scheint damit niemand
anders mehr gemeint zu sein, als der Apostel Paulus, der ja auch
keiner von denen war, welche die göttliche Weisheit mit eigenen
Ohren gehört hatten, und so wenig auch seine Wirksamkeit den
Charakter einer im Verborgenen sich haltenden Irrlehre hatte»
1) Vgl. meine Schrift: PauluÄ ü» 8. W. S. ^U t
2) Eusebius K.G. 4» 22.
l) Ettsehius K.a. 3| 33«
Die Clementineii. 79
SO kann sie doch Hegesippus so bezeichnet haben, weil sie theils
vor der hellstrahlenden Sonne des heiligen Chors der Apostel wie
im Dunkel verschwand, theils erst durch die ans ihr hervorge-
hende g^ostische Irrlehre in ihr wahres Licht gesetzt wurde. Es
ist nur vollends ausgesprochen, was schon aus solchen Andeu-
tangen deutlich genug hindurchblickt, die persönliche Beziehung
auf den Apostel Paulus, wenn von den Ebioniten gemeldet wird,
dass sie ihn für einen Apostaten und Irrlehrer, gehalten, seine
sammtlichen Briefe verworfen und unendlich viel Lästerndes über
ihn gesagt haben 0* In diesem so offenen und entschiedenen Hasse
der Ebioniten gegen den Apostel Paulus sehen wir die äusserste
I Spitze der schon in den Briefen des Apostels sich zeigenden Juden-
I christlichen Antithese gegen ihn, so wenig sich aber der Zusam-
•^ menhang der gewöhnlich nur als Häretiker betrachteten Ebioniten
^ mit den ursprünglichen Judenchristen verkennen lässt, so wenig
st ist auch ihre Ansicht von dem Apostel Paulus nur eine isolirte Er-
^ scheinnng.
B Eine wichtige Quelle für unsere weitere Kenntniss dieser
ei Verhältnisse sind die pseudoclementinischen Schriften, die Homi-
üf lien and Recognitionen *)? in welchen wir mit der Lehre und An-
te
ff 1) IrenttuB Adv. haer. 1, 26. Easebias K.G. 3» 37. Epiphaninfl Haer.
n SO, »5.
t) Das Verliältmss dieser Schriften zu einander und zu einer altem
petrinischen Grundschrift, den Kerygmen oder dem ntj^vy/ia IltvQu ist neue«
■teng zuerst von Hh^genfeld (die clementinischen Recognitionen und Ho-
' Bülien nach ihrem Ursprung und Inhalt 1848), und nach dessen Vorgang
i Ton RiTSCHL (die Entstehung der altkatholischen Kirche S. 15S f.) genauer
f OBtersucht worden. Bo soharfbinnig die kritischen Analysen dieser beiden
Gelehrten zur Erforschung der ursprünglichen BesUndtheile sind, so schei-
Den sich mir doch die Recognitionen auch nach dieser Kritik nur wenig
^a zu eignen, um sichere historische Resultate auf sie zu bauen. Der
i Weit Überwiegende Inhalt trägt gar zu deutlich die Merkmale des späteren
I Unpnmgs an sich, und die bekannte Hand Rufin^s, durch die sie gegangen
I nad, macht sie zu yerdttohtig. Für die interessantere und auch historisoh
wichtigere Schrift halte ich noch immer die Homilien. Mag auch in ihnen
d«8 ursprünglich beiden Schriften Gemeinsame auf eigene Weise modificirt
sein, so sind sie doch den Recognitionen gegenüber eine weit selbststän-
^gere Schrift, und es fehlt uns nicht an ziemlich bestimmten Data, um
^ren Ursprung und dftt gesohichtlichen Kreis, welchem sie angehören, ge«
ttnet la fiadrea.
80 Zweiter Abschnitt. Das Christenthom als allgem. HeÜBprinoip.
sieht einer Partei bekannt werden, die noch um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts und nach derselben den entschiedensten Ge-
gensatz gegen das paulinische Christenthum bildete. Wenn auch
der Apostel Paulus nicht namentlich genannt wird, so ist doch
die Beziehung auf ihn so unverkennbar, dass sich durch das ab-
sichtliche Verschweigen seines Namens die polemische Tendern
dieser Schriften nur um so mehr verräth. In dem den Homilien
voranstehenden Briefe, in welchem Petrus bei der Uebersendung
seiner Predigten an Jacottus, den Bischof von Jerusalem, dem-
selben empfiehlt, sie nicht den Heiden mitzutheilen, sondern nur
den Volksgenossen, welche streng an der Lehre von der Einheit
Gottes festhalten, nach derselben mysteriösen Weise der Ueber-
lieferung, welche Moses bei den siebenzig Nachfolgern auf seinem
Lehrstuhl befolgt habe, sagt Petrus weiter : Wenn diess nicht ge-
schehe , werde ihre Lehre der Wahrheit in viele Meinungen ge-
theilt werden. Diess wisse er nicht blos als Prophet, sondern weil
er schon den Anfang des Uebels sehe. „Denn Einige aus den
Heiden haben die durch mich geschehene gesetzliche Verkündi-
gung verworfen, und die gesetzlose und nichtswürdige Lehre des
feindseligen Menschen angenommen. Und schon zu meinen Leb*
Zeiten haben Einige es unternommen, durch künstliche Deutungen
meine Lehrvorträge in die Aufhebung des Gesetzes umzugestalten,
wie wenn ich selbst nicht so dächte und nicht frei und aufrichtig
so lehrte, was fem sei. Was man hiemit thut, ist nichts anderes,
als dass man dem Gesetze Gottes zuwider handelt, das von Moses
ausgesprochen und von unserem Herrn bezeugt worden ist, wenn
er über seine ewige Dauer sagte : Himmel und Erde werden ver-
gehen, ohne dass ein Jota, ein Pünktchen vom Gesetze verschwin-
det Diess hat er gesagt, damit alles geschehe. Die aber, welche,
ich weiss nicht wie, meinen Sinn kund thun wollen, und die von
mir gehörten Lehrvorträge besser als ich selbst, der ich sie hielt,
zu verstehen meinen, sagen den von mir Unterrichteten, das sei
meine Lehre und Meinung, woran ich auch nicht einmal gedacht
habe. Wenn sie schon zu meinen Lebzeiten solches gegen mich
zu lügen wagen, wie viel mehr wird man erst nach mir wagen ?^
Wer anders könnte der femdselige Mensch, dessen gesetzlose
Lehre unter den Heiden angenommen wird, sein, als der Apostel
Paulus? Eine eigene Erscheinung ist es nun aber, dass er in
1
Simon, der Magier. §i
den Homilien und Recognitionen als der Magier Simon und als Samari-
laner aufgeführt wird. Es ist offenbar derselbe gemeint, wenn Petrus
sagt, vor ihm sei Simon zu den Heiden gekommen, er komme nach
ihm und folge auf ihn, wie das Licht auf die Finstemiss, auf die
Unwissenheit das Wissen, auf die Krankheit die Heilung. So nem-
lich müsse, wie der wahre Prophet gesagt habe, zuerst das fal-
sche Evangelium von einem Irrlehrer kommen, und so nachher,
nach der Zerstörung des heiligen Orts, das wahre Evangelium
heimlich ausgesandt werden zur Widerlegung der künftigen Hd-
resen ^3- Noch deutlicher ist die Beziehung auf den Apostel Pau-
lus, wenn der Apostel Petrus dem Magier Simon entgegenhält:
„Wenn nun auch dir unser Jesus, in einem Gesicht erscheinend, sich
kiind gab und mit dir verkehrte, so hat er, wie mit einem Wider-
sacher zürnend, desswegen durch Gesichte und Träume, oder
- TOch durch äussere Offenbarungen geredet. Kann aber jemand
durch eine Vision zum Lehramt befähigt werden? Und wenn du
sagst, es ist möglich, warum hat der Lehrer ein ganzes Jahr mit
Wachenden beständigen Umgang gehabt? Und wie sollen wir dir
«las glauben, dass er auch dir erschien? Wie kann er dir auch
erschienen sein, da du eine seiner Lehre entgegengesetzte Denk-
weise hast? Wärest du von ihm auch nur in Einer Stunde durch
eine Erscheinung als sein Schüler Apostel geworden, so verkün-
dige seine Lehre, lege seine Aussprüche aus, liebe seine Apostel
ond streite nicht mit mir, der ich mit ihm zusammen war! Denn
fegen mich, der ich ein fester . Felsen bin, das Fundament der
Brche, bist du als Widersacher aufgestanden. Wärest du nicht
ein Widersacher, so >vürdest du nicht mich verläumden und meine
Predigt schmähen, damit ich, wenn ich das sage, was ich von
dem Herrn in seiner eigenen Gegenwart gehört habe, keinen Glau-
ken finde, während doch offenbar ist, dass ich verurtheilt werde
•h der, der Lob verdient Oder, wenn du mich verurtheilt nennst,
io klagst du Gott an, der mir Christus geoffenbart hat, und fährst
gegen den los, der mich wegen dieser Offenbarung selig geprie-
sen hat" *). Es begegnen uns hier dieselben Vorwürfe , welche
Aie Judenchristen von Anfang an dem Apostel Paulus machten.
1) Hom. 2, 17.
l) Hom. 17, 19.
B«ar| 4i« drei enteu J«lirh. ^
8i Zweiter Abschnitt. Das Christenthom als allgem. fieilsprincip.
Den Hauptanstoss erregt auch hier seine Lehre vom Gesetz, dass
sie eine gesetzlose ist, die Heiden nicht zur Beobachtung dessel-
ben verpflichtet, und die Behauptung aufstellt, man könne auch
ohne das Gesetz selig werden. Da nun aber, wer im Widersprach
mit den wahren Aposteln etwas so Falsches lehrt, selbst kein Apo-
stel sein kann, so wird der Hauptangriff auf die Person des Apo-
stels selbst gerichtet, und es wird ihm nicht nur die apostolische
Auctoritat aufs Bestimmteste abgesprochen, sondern principiell
eben das bestritten, worauf er seine Behauptung allein stützen zv
können glaubte. Welche nahe Beziehung hat es auf den Apostel
Paulus, wenn gerade solchen Offenbarungen, wie er sie gehabt J
zu haben behauptete, in Visionen, Ekstasen, Träumen, aller wahre
Werth abgesprochen, und dagegen als der einzige Weg, um zum
Apostelamt zu gelangen, und als das alleinige Kriterium der apo-
stolischen Auctoritat der unmittelbare persönliche Umgang mit
Jesus während der ganzen Zeit seines öffentlichen Lehramts er-
klärt wird? Wird hier doch sogar, zum deutlichen Beweis, wie
wenig die Judenchristen dem Apostel Paulus seinen Conflikt mit
dem Apostel Petrus je vergessen konnten, die antiochenische Scene,
und zwar mit demselben Ausdruck, dessen sich der Apostel Paulos
in Beziehung auf Petrus bediente, wieder in Erinnerung gebracht 0*
Wie aber schon bisher auch da, wo sich die Beziehung auf den
Apostel Paulus kaum verkennen lässt, sein Name von den Gegf-
nern noch nicht ausdrücklich genannt worden ist, so ist es auch
hier nur ein fremder Name, unter welchem er erscheint. Wie
soll man sich aber diese Identificirung des Magiers mit dem Apo-
stel erklären? Unstreitig ist der Magier Simon in der Gestalt, m
welcher er in den pseudoclementinischen Schriften und bei den
Kirchenvätern erscheint, keine geschichtliche Person. Als die
Gnosis in ihren verschiedenen Verzweigungen hervortrat, und die
immer grössere Zahl der Sekten die ursprüngliche Einheit völlig
aufzulösen schien, wurde der Magier Simon, der SamaritaneTi
an die Spitze des weitverbreiteten Stammes gestellt, als der Stamm-
vater, Träger, Inbegriff aller Häresen, und was die Gnosis lA
ihren Hauptmythen an ihren Aeonen geschehen sein Hess, wurde
fitvos UV.
1) Hom. 17y 19: et nareyvwofjtivov ftt k^yns» Qal. 2 t 11: nuMt^yvmQ"
dimon, der Magier. SS
nim die persönliche Geschichte des Magiers Simon, welcher mit
der ihm beigegebenen Helena selbst ein gnostisches Aeonenpaar
bildet Uiemit ist jedoch nichts anderes ausgedrückt, als die An-
seht, welche man vom streng judenchristlichen Standpunkt aus
TOD den entstandenen Häresen hatte, dass alles, was von der ur-
«[H'öiiglichen Lehre abweicht, nur den Charakter der heidnischen
Vielgötterei an sich trägt, und nur in demselben Verhaltniss zu
ihr steht, wie die für heidnisch geltende samaritanische Religion
SD deai reinen Judenthum. In diesem Sinne wird in den Homilien
C2, 220 von dem Magier Simon gesagt, dass er Jerusalem liugne
und dagegen den Berg Garizim aufstelle, und schon von Hege-
rippus werden die Marcioniten, Karpokratianer, Valentinianer,
Bisilidianer, Satomilianer als solche genannt, welche, den Magier
Simon an der Spitze, von den sieben jüdischen Häresen aus, zu
I welchen auch die Samaritaner gehören, als Pseudochriste, Pseu-
• dopropheten, Pseudoapostel die Einheit der Kirche durch ver-
i lerbliche Lehren getheilt haben 0« I^^r Magier Simon wäre dem-
I nach nur der stärkste Ausdruck für den heidnischen, gesetzes-
i feindlichen Charakter der Lehre des Apostels, dasselbe, was
k die Ebioniten sagen wollten , wenn sie von ihm behaupteten , er
"♦ «ei von Geburt kein Jude, sondern ein Grieche oder Heide gewe-
' KD, und von heidnischen Eltern abstammend, erst später ein
•; Proselyt des Judenthums geworden *)• Geht man noch weiter zu-
r rdck, so dürfte die Vermuthung nicht unwahrscheinlich sein, dass
> die ganze Sage von Simon von Anfang an eine polemische Be-~
Behang auf den Apostel Paulus hatte, und man könnte diess nicht
> Mos aus dem stehenden Zug desselben, dass er auf seinen Wan-
derungen zur Verbreitung seiner Lehre zuletzt nach Rom kommt
BBd in Rom am Ziele seines Laufs ist, sondern auch aus der Form
icUiessen, welche sie in der Apostelgeschichte K. 8. hat Simon,
wie er hier geschildert wird, will ja nicht blos einfach den heili-
gen Geist, der den Glaubigen bei der Taufe durch Handauflegung
^rtheilt wurde, empfangen, sondern, was er sich erkaufen will,
iit die Vollmacht, selbst durch Handauflegung den heiligen Geist
>a ertheilen V. 19. Er will also die apostolischen Privilegien sich
1) EQMbiiui K.G. 4U 12.
}) ^j^h. Haer« SO» 16^
6»
84 i^ weiter Abschnitt. Dos Christentlium als allgem. fieilsprineip«
yerschaffen, oder selbst Apostel werden. Diess wäre der falsche,
unlautere Weg, auf welchem nach der Ansicht der Judaisten der
Apostel Paulus das Apostelamt erstrebt haben sollte. Trat er
durch diesen Versuch den altem Aposteln und dem an ihrer Spitze
stehenden Simon Petrus entgegen, um sich ihm zur Seite zu stel-
len, so war er selbst der falsche Simon neben dem wahren, und
der Magier, wie überhaupt das UngötUicbe in der Gestalt des
Magischen dem Göttlichen entgegen tritt. Vgl. Apostelg. 13, 6 f.
Da er als der falsche Apostel auch der Apostat des Judenthums ist
und als solcher für einen Heiden oder Samaritaner gilt, so wäre
hieraus seine. Beziehung zu Samarien zu erklären. In dem Sa-
maritaner ist das Ungöttliche der falschen heidnischen ReligiOB
personificirt, er ist als Simon und als der Magier, in welchen
dämonische Kräfte wirken, selbst der samaritanische Landesgott
Semo, und so der Inbegriff und Träger des ganzen Heidenthums,
das sich in der aus jenem Abfall entsprungenen Gnosis der wah-
ren Religion gegenüber gestellt hat. Der Name Simon liess in
der Folge die ursprüngliche Identität mit dem Apostel Paulus
vergessen, um so mehr aber sah man in ihm den Vater der Gnosis
und aller Häresie. Die grosse Gotteskraft, die er gewesen seia
soll, Apostelg. 8, 10., ist schon der Anknüpfungspunkt für dea
Häresiarchen der Gnosis, welcher nun nicht blos zum Träger der
gnostischen Hauptideen, sondern auch zum gnostischen Urwesen
selbst gemacht wurde 0* Die Hauptsache ist hier jedoch, das0
1) Die Apostelgeschichte nahm also zwar die Simonssage auf, schnitt
aber die Beziehung auf Paulus ab. Vgl. über den Magier Simon die Christ*
liehe Gnosis S. 503 f. Zeller, theologische Jahrbücher 1849 S. 578 ^
Neuestens meint zwar Ritschl a. a. 0. S. 162 f., jetzt erst in den histo-
rischen Kern des Simon durch die Behauptung einzudringen, dass er ein
Antimessias gewesen sei. Daraus erkläre sich leicht, dass er zum Reprä-
sentanten der antichristlichen Gnosis gemacht worden sei. Es beruht diess
jedoch auf einer sehr unhaltbaren Combination , welche Ritbchl mächt,
um das dem Simon gegebene Prädikat 'EaxoU zu erklären. Der Augen-
schein lehre, meint Ritschl, dass das Wort ^EaxiMi nur der etymologiicfae
Reflex des dvaaxf)ati in der Stelle Deut. 18) 15> (Tjf^otptjrtjv in xiup dStl^
tpivp ats f ojc «/i£, dvnoTf^afi aoi xv(jioi 6 ^toe as), xmd mit Rücksicht anf
diese Stelle das Prädikat des Propheten - Messias sei. Wie lässt sich aber
denken , dass ein so zufälliges Wortspiel den in das Wesen der Gnosis so
tief eingreifenden Begriff des ^Eaxoii veranlasst habe? Der Magier heiiflt
als Christus der '£arojs. So wenig aber bei dem gnostischen Christus sn
Simon, der Magier. 85
auch die dem Magier Simon in den 'pseudoclementinischen Schrif-
ten zugetheilte Rolle den schroffen Gegensatz bezeugt, in welchem
die Judenchristen zum Apostel Paulus und zum paulinischen Chri-
stenthum standen. So eigenthümlich auch der ganze Kreis von Vor-
stellungen ist, in welchem die Homilien nach verschiedenen Seil-
ten sich bewegen, der substanzielle Mittelpunkt, in ^velchem alles
znsammenhängt, ist im Gegensatz zum Paulinismus der Judaismus,
wie er hier in dem Satze formulirt ist, dass zwischen der Lehre
Jesu und der Lehre des Moses kein wesentlicher Unterschied sei,
und Goti jeden annehme, der nur an einen von beiden glaubt
Das Christenthum ist nichts anderes als das reformirte und erwei-
terte Judenthum, und da derselbe Magier Simon, in dessen Ge-
stalt der VerfÄssef der Homilien den Apostel Paulus bekämpft,
Yon ihm insbesondere auch zum Träger der marcionitischen Gnosis
'^ gemacht wird, so stellen sich uns in den beiden Hauptpersonen,
^ welche hier im Streite mit einander begriffen sind, in dem Apostel
^ Petrus und dem Magier Simon, zwei völlig verschiedene Richtun-
gen in der ganzen Weite des Gegensatzes dar, in welche das an
sich Eine Christenthum auseinander gegangen war 0-
S die gewöhnlichen jüdischen Messiashegriffe zu denken ist, so wenig enthält
^ auch der Begriff des 'Baruif etwas Messianisches , und es ist durchaus kein
^ Grund vorhanden, von der in den Recognitionen 2, 7. und Homilien 2, 24.
gegebenen Erklärung abzugehen, dass er so heisse, oU Sri orrjaoutvos dsl
*»i aiTt'ttv tf&oga^ , oTorff ro oojuu TTtaeTp , au axtuv. Er ist der' Stehende,
unwandelbar sich gleich Bleibende, in der vergänglichen, ihrem steten Un-
tergang anheimfallenden Welt. Christus heisst der 'Enruti ungefähr in dem-
wlben Sinn, in welchem in den gnostischen Systemen von einem "Ogos,
2rnv(jvs , die Kede ist , und die Elccsaiten ihn als eine colossale , zwischen
Himmel und Erde stehende Gestalt beschrieben (Epiph. Haer. 19, 4.)'
1) Eine gar zu geringe Vorstellung von der geschichtlichen Bedeutung
der Partei, deren Produkt die pseudoclementinischfcn Homilien sind, hat
GiESELEB, wenn er die in ihnen uns vorliegende Erscheinung als eine hä-
retische unter dem Namen des Elkcsaitismus der Clementinen aufführt und
^e Sache sich so vorstellt: Unter den mannigfaltigen Spaltungen der römi-
when Christenheit habe ein philosophisch gebildeter christlicher Römer ge-
gen das Ende des zweiten Jahrhunderts den Gedanken aufgefasst, dass das
üsprflngliche Judenchristenthum bei den' Judenchristen erhalten sein müsse,
wahrscheinlich habe er sie selbst in ihrer Abgeschiedenheit aufgesucht,
^d bei den Elcesaiten , einer ihrer Parteien , einen speculativ durchgebilde-
^ Lehrbegriff gefunden , welcher ihm ganz geeignet schien , sowohl dem
Heidenthom siegreich gegenüber gestellt zu werden, als die Mannig<ig-
S6 Zweiter Abschnitt. Das Christenthnm als allgem. Heilsprinoip«
Die weitere Frage, deren Beantwortung hier vorliegt^ kann
demnach nur sein, wie die beiden, sosehr von einander divergiren-
den Richtungen, ohne deren Ausgleichung das Dasein einer aUes
Extreme von sich abschneidenden und die Gegensätze in sich ver-
einigenden katholischen Kirche sich nicht begreifen lasst, zur ver-
mittehiden Einheit sich zusammengeschlossen haben. Es kanndiess
nicht geschehen sein, ohne dass auf der einen Seite wie auf der
andern von der Strenge des Gegensatzes mehr od^r weniger nach-
gelassen wurde. Die Frage ist nun aber, wie diess geschehen ist,
auf welcher der beiden Seiten vorzugsweise das bewegende Prin-
cip zu dieser Vermittlung lag, und wie sich die andere Seite da^
zu verhielt, und wie überhaupt die verschiedenen, in das Gebiet
dieser Frage gehörenden Erschemungen zu klassificiren sind.
Keine andere Frage ist in der neuesten Zeit Gegenstand so vieler
Erörterungen und so ernster, tief eingehender Untersuchungen
geworden , wie eben diese , bei welcher es sich um den ganzes
Charakter des nachapostolischen Zeitalters in seinem Zusammen-
hang mit dem apostolischen handelt, und nicht blos diejenigmi
erheben Widerspruch, welche überhaupt der neuesten Kritik die
ganze Starrheit und Unlebendigkeit ihres veralteten Standpunkts
entgegensetzen, sondern auch unter denen, welche es anerkennen,
dass nur durch eme scharfer eindringende kritische Auffassung ein
neues Licht in das Dunkel dieser Verhältnisse gebracht werden
kann, findet noch eine bedeutende Verschiedenheit der Ansicht
statt. In der neuesten Zeit hat Schweoler, welcher zuerst die neue
keit der christlichen Sekten zu beseitigen. K.G. 1, 1. S. 279. So zufUUg
und zusammenhangslos entstehen nicht Parteien, die eine so breite geschicht-
liche Grundlage haben. Mag auch in dem System der Homilien noch so
viel individuell Spekulatives sein, die Grundansicht über das Yerhältniss
des Ghristenthums zum Judenthum stimmt zu sehr mit dem ursprünglichen
Judenchristenthum überein, als dass wir nicht berechtigt wären, eine Acht
geschichtliche Tradition anzunehmen. Was in den Philos. Orig. 9» 13 f*
S. 292* von einem Alcibiades aus Apamea in Syrien erzählt wird, dass er
unter Gallistus mit einem angeblich von Elchasai, einem gerechten Manne,
herrührenden Buche nach Rom gekommen sei, um in Gemeinschaft mit
Gallistus eine neue Sündenvergebung zu verkündigen, gehört, da es in eine
spätere Zeit fällt, nicht hieheri. wohl aber ist auch daraus zu sehen, dass
das Elcesaitische , das erst als gnostisches Element mit dem Ebionitismus
sich verbunden haben kann, mit dem ursprünglich Ebionitischen nicht iden-
tificirt werden darf.
Die Yermittlang der Gegensätze 8T
kritische Ansicht mit Gewandtheit und Scharfsinn in einer zusam-
menhängenden Darstellung durch das nachapostolische Zeitalter
durchführte 0, einen sehr entschiedenen Gegner an Ritschl *)
erhalten. Er tadelt an der Aufgabe, wie sie Schwegler bestimmt,
die stufenweise Entwicklung des Ebionitismus zum Katholicismus
zu verfolgen, dass weder vom Ebionitismus noch vom Paulinismus
ein bestimmter Begriff aufgestellt sei. Das Judenchristenthum werde
zu tief herabgesetzt und der Paulinismus zu hoch erhoben , so dass
man nicht begreife, wie beide Richtungen auch nur ausserlich durch
das gemeinsame Bekenntniss zusammengehalten werden. Der
geistige Process, durch welchen in Paulus die Gesetzesreligion
in die Freiheitsreligion, das gebundene und unglückliche Bewusst^
sein in die versöhnte Selbstgewissheit dialektisch umgeschlagen,
erscheine als eine bloss ausserliche Anlehnung an die Geschichte
: Jesu von Nazareth, desshalb sei auch die Gemeinsamkeit in der Ge-
1 schichte des Paulinismus und des Judenchristenthums etwas rein
» Zufalliges. Dieser Auffassung des Grundverhaltnisses beider Rich-
fl tongen des Urchristenthums entspreche die Anwendung eines sehr
i änsserlichen Pragmatismus auf die Geschichte der Versöhnung
b derselben. Wenn in denselben kein innerer, Gemeinschaft bilden-
3 der Trieb erkannt worden sei , so könne die schrittweise eintre-
9 tende Abstumpfung des Gegensatzes nur durch den äussern Zweck
B der Einheit motivirt werden, zu dessen Erreichung die literarischen
Ir Wortführer beider Parteien eine Schroffheit nach der andern auf-
K geben. Dieser Kritik der ScHWEOLERSchen Darstellung gegenüber,
j. lunn Ritschl für die seinige nur den Anspruch einer tiefern, den
i) Das naohapoBtolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner £nt-
wieUang. Tübingen 1846.
3) Die Entstehung der altkatholischen Kirche, Bonn 1850. Gleich-
seitig mit Ritschl hat Köstlin in der Ahh. zur Geschichte des Urchristen-
thums, Theol. Jahrb. 1850. 8. 1 f. an Plancks Abb. über Judenthum und
Ürchristenthum, Theol. Jahrbücher 1817. S. 258 f. sich anschliessend, den
Verlauf und Charakter der zwei ersten Jahrhunderte mit ' Rücksicht auf
ficHWEOLXRS Darstellung zum Gegenstand einer neuen Untersuchung ge-
Diieht, in welcher er gerade mit denjenigen Ergebnissen, auf welche
&T8CHL, Schwegler gegenüber, das grösste Gewicht legt, sich am wenigsten
(inrerstanden erklären konnte, namentlich mit der Behauptung, dass das Ju-
denchristenthum kein Element christlicher Ehitwicklung in sich gehabt habe,
welche Ansicht nur die abstrakte Antithese gegen die ScHWEeLSR^sche sei.
SS Zweiter Absolmitt Das Chriatenthnm als allgeni. Heilsprindp.
innern Zusammenhang der Entwicklung richtiger auffassenden gel-
tend machen. Bei näherer Betrachtung möchte sich jedoch zeigen,
dass der Unterschied der beiden Auffassungen, wenn wir von ein«
zelnen Differenzen absehen, im Ganzen gleichwohl nicht so bt^deu-*
tend ist, als er zu sein scheint. Auch Ritschl geht davon aus, dais
die Entwicklung des nachapostolischen Christenthums im Wesent^
liehen auf das paulinische Princip zurückzuführen isL Statt nun
aber mit Schweolrr die Aussöhnung dadurch zu Stande kommen
zu lassen, dass beide, gegenseitig sich abschwächend, in ein äus-
seres Verhältniss zusammentreten, lässt Ritschl im Paulinismus
selbst eine Veränderung vor sich gehen , weiche auf dasselbe Re-
sultat hinausläuft Der Lehrbegriff des Apostels Paulus, behauptet
Ritschl, biete an sich solche Seiten dar, welche eine einseitige
Entwicklung seines Princips unumgänglich machten. Wenn auch
das Nachlassen der ursprünglichen religiösen Energie unter den
Christen im zweiten Jahrhundert nicht übersehen werden könne,
so könne dennoch die einseitige Entwickelung des paulinischen
Princips nothwendig bedingt sein durch eine Einseitigkeit in der
ursprünglichen Ausprägung durch seinen Urheber. Die Verwir-*
rung der Ansichten über den nachapostolischen Entwicklungsgang
der christlichen Anschauung sei zum grossen Theil dadurch ver-*
schuldet, dass man sich keine Rechenschaft darüber ablegte, dass
und wie die paulinische Richtung über die ursprüngliche Gestalt,
in welcher ihr Urheber sie dogmatisch ausgeprägt hatte, habe hin-
ausgehen müssen , und in eine von ihrem ursprünglichen dogma-
tischen Gepräge sehr abweichende Gestalt gebracht wurde. Als
das reinere Motiv dieser Veränderung sei das Bedürfniss anzuse-
hen, das paulinische Princip zu der Gestalt einer allgemein gültigen
unmittelbaren Lebensnorm zu entwickeln , wozu zwei äussere Mo-
tive mitgewirkt haben, negativ die Schwierigkeit und Unpopulari-
tät der paulinischen Dialektik, positiv der Einfluss der evangelischen
Tradition oder der Lehre Jesu , von welcher ganz unabhängig der
paulinische Lehrbegriff sich gebildet habe 0- Di^ Veränderung,
durch welche der Paulinismus seine ursprüngliche Gestalt verlor,
bestand darin, dass der Glaube nicht mehr der subjective Glaube
an den Versöhnungstod Christi ohne Gesetz war, sondern der Glaube
1) BiTBCHL a. a. 0. S. 2S. 280 !'•
Die Venntttlung der Gegennfttzo. 89
in weiterem Sinne in seiner Beziehung auf Gott, welchem sodann
die Befolgung des göttlichen Willens, oder des Gebotes Christi, als
Mittel der Rechtfertigung, Erlösung und Beseligung im gesetzlichen
Sinne zur Seite trat, und trotz der anfänglichen paulinischen For-
mel ein bedeutendes Uebergcwicht über den Glauben erhielt Es
ist daher nicht mehr von einer Erlösung durch Christi Tod im Sinne
des Paulus. die Rede, sondern die Liebe, die Kraft zu guten Wer-
ken vermittelt die göttliche Sündenvergebung. Diess ist wesent-
lich dasselbe mit der Formel nhrtg xal ayanfj, welche Schweglrr
als das Ziel der Entwicklung des Paulinismus und die Grundlage
der gegenseitigen Aussöhnung betrachtet, und da nun der Pauli-
nismus an sich so einseitig ist, dass die allgemein gültige unmittel«
bare Lebensnorm, die an die Stelle desselben trat, nicht durch in-
L nere Entwicklung, sondern nur durch einen Sprung aus ihm her-
fl vorgehen konnte , so haben wir auch hier dasselbe äussere Ver-
it hiltniss der Elemente der beiden Richtungen , wie bei Schwrolkr.
la Da femer, wie Ritschl ausdrücklich behauptet, der paulinische
Ic Lehrbegriff ganz unabhängig von der Lehre Jesu sich gebildet hat,
i^ so sieht man nicht, welches Recht Ritschl gerade hat, es Schweah
iV lea zum Vorwurf zu machen, dass er in Una1>hängigkeit nicht blos
^ von dem innersten Lebenskern Jesu, sondern auch von irgend einer
i» dnrrh Jesu Wirken hervorgehobenen Idee den Paulinismus aufge-
^ hsst habe 0- Dass die evangelische Tradition oder die Lehre Jesu
B- vermittelst des Lukasevangeliums Einfluss auf jene spätere Gestal-
lt tiing des Paulinismus gehabt habe , ist gleichfalls eine Behauptung,
^ die sich nicht rechtfertigen lässl, da ja, wie Ritschl selbst an-
•- nimmt 0^ die Darstellung der evangelischen Geschichte im Lukas-
B cvangelium selbst nur der Reflex des ursprünglichen Paulinismus
" ist Je genauer man die Darstellung Ritschls analysirt, um so mehr
zeigt sich, wie sie sich in Gegensätze auflöst, bei welchen man
I einen innem Zusammenhang der Entwicklung vermisst. Auf der
einen Seite steht das Judenchristenthum mit der These: das Chri-
stenthum ist das alte Gesetz, auf der andern der Paulinismus mit der
Antithese : das Christenthum ist der subjektive Glaube an Christus
ohne Gesetz. Während dem Judenchristenthum die innere Ent-
i) A. a. O. S. 20.
2) X. a. O. S. 300.
90 Zweiter Abschnitt. Das Christen thura alt allgem. Heilsprindi».
wicklungsfähigkeit abgesprochen und das bewegende Prinoip in
den Paulinismus gesetzt wird, kann auch der letztere sich nicht na-
turgemass entwickeln, da er zu schroff und einseitig ist, um eine
allgemein gültige unmittelbare Lebensnorm aus sich hervorgehen
lassen zu können. Der Paulinismus ist zwar die höher stehende
Richtung, aber auch die Berechtigung des Judenchristenthums darf
nicht verkannt werden. „Denn die Annahme absoluter VoUkom-
menheit und Lückenlosigkeit der paulinischen Lehre im orthodoxen
Sinn ist schon durch die Achtung vor dem Christenthum der jü-
disch gebliebenen Apostel verboten^' 0* Keine der beiden Rich-
tungen ist also die absolut wahre, jede von beiden steht der anden
mit gleicher Berechtigung gegenüber. Und „da nun Jesus in we-
sentlichen Punkten einen Gegensatz gegen den Mosaismus weder
gewollt noch ausgesprochen hat, da femer seine Lehre, gerade
wegen dieses Charakters, die unmittelbare Grundlage des Juden-
christenthums in seinem festen Unterschiede vom Paulinismus
wurde'' O9 so kann man auch nach Ritschl nicht begreifen, das«
doch aus dem ganz innerjüdischen Gedanken, dass Jesus der Mes-
sias sei, sich das Dogma und der reichgegliederte Organismus der
katholischen Kirche entwickelt haben soll, und es ist in letzter Be^
Ziehung über das Bedenken nicht hinwegzukommen, ob Jesus oder
Paulus der eigentliche Urheber des Christenthums ist ^* In der
gesetzlichen Auffassung des Christenthums, in dem Begriffe des
neuen Gesetzes , in welchem die allgemein anerkannten Reprdsen«
tauten der altkatholischen Kirche, Irenäus, TertuUian, der Alexan*
driner Clemens und Origenes, mit dem Märtyrer Justin überein-
stimmen, soll sich uns das Verhältniss der katholischen Kirche zu
den apostolischen Lehrtypen, dem judenchristlichen. und dem pau-
linischen darstellen und daraus sich ergeben, dass diese Seite des
Katholicismus, ungeachtet ihres unmittelbaren Gegensatzes gegen
die paulinischen Grundsätze, doch nicht auf dem Judenchristen-
thum, sondern auf der paulinischen Richtung beruhe ^), wenn aber
die veränderte Gestalt der letztem nur das schon angegebene
1) A. a. O. S. 23.
3) A. a. 0. S. 300.
3) A. a. 0. S. 19.
4) A. a. 0. S. S27.
Die Vermittlung der QegensAtze. 01
äussere Motiv hatte, somit nicht aus dem Wesen des Paulinismus
selbst hervorging, so kann man auch nicht sagen, dass die Ent-
wicklung zum Katholicismus wesentlich auf der paulinischen Rich-
tung beruhe, sie kann ebenso gut auf der Grundlage des Juden-
christenthums erfolgt sein, da eben das, was das Charakteristische
des katholischen Christenthums sein soll , das Nebeneinandersein
des Glaubens und des praktischen oder werkthätigen Verhaltens, in
einem sehr natürlichen Zusammenhang mit dem Charakter der altte-
stamentlichen Religion steht Endlich ist in der RiTscHLSchen Dar-
stellung auch keine Rücksicht darauf genommen, wie auch der per-
sönliche Gegensatz der beiden Apostel Petrus und Paulus , in wel-
chen der Gegensatz der beiden Richtungen gleich anfangs seine
schärfste Spitze und seinen unmittelbarsten Ausdruck hatte, sich
i zuletzt so ausgeglichen hat, dass sich eben daran der völlige Ueber-
h gang der divergirenden Richtungen in die alle Gegensätze und Ex-
i treme versöhnende Einheit des Katholicismus am bestimmtesten
19 fixiren lässt
IS- Hiemit sind die Hauptpunkte kurz bezeichnet, die in der fol-
la geoden Darstellung nicht aus dem Auge gelassen werden dürfen,
!^ wenn sie der Aufgabe, die geschichtliche Entwicklung aller dieser
b Gegensätze in ihrem innern Zusammenhang zu verfolgen, entspre-
1« chen soll.
^ Der Ausgangspunkt sind die schon bezeichneten Gegensätze^
I- das Resultat ist ihre Ausgleichung und Aufhebung, es müssen also
H vennittelnde Momente dazwischen liegen und es ist an sich nichts
^' wahrscheinlicher, als dass die Vermittlung nicht blos von der einen
I der beiden Seiten, sondern von beiden auf verschiedene Weise
- losging. Auch ist ja klar, dass gerade die Richtung, welcher man
in dieser Beziehung am wenigsten zutraut und sogar den innern
Trieb der Entwicklung nicht zugestehen will, sogar den ersten
Schritt gethan hat, die Härte des ursprünglichen Gegensatzes zu
mildern. Die jerusalemischen Judenchristen traten zuerst mit der
absoluten Forderung der Beschneidung auf, welcher sich auch die
Beiden unterziehen sollten, und selbst von den altem Aposteln
können wir nicht annehmen, dass sie ursprünglich nicht dieselbe
Ansicht hatten, noch im Galaterbrief machen die judenchristlichen
Gegner des Apostels die Beschneidung als die absolute Bedingung
geltend, ohne welche man nicht selig werden könne. Wo ist aber
99 Zweiter Abschnitt. Da» Christenthnm alt allgcm. Heilsprincip.
seitdem noch von der Beschneidung als einer von der judenchrist-
lichen Partei im Ganzen gemachten Forderung in demselben prin-
cipiellen Sinne die Rede? Selbst in den pseudoclementinischen
Schriften wird der Beschneidung nicht mehr als eines Gnindarti-
kels des Judenthums gedacht , und nur da und dort blickt ihre alte
Bedeutung noch durch, wie in der Con t es tatio in der Bestimmung,
dass die von Petrus dem Jacobus geschickten Schriften nur einem
guten und frommen, zum Lehren entsi^hlossenen beschnittenen
Glaubigen mitgetheilt werden sollen. Es ist hieraus mit Recht m
schliessen, dass die Judenchristen selbst die Nothwendigkeit der
Beschneidung fallen Hessen, und es kann diess nur daraus erklärt
werden, dass sie, nachdem die Heidenbekehrung ohne die Beschnei-
dung so grosse Fortschritte gemacht hatte, es selbst für unmöglich
halten mussten, auf etwas zu beharren, was nun einmal durch al-
les, was indess unter den Heidenchristen geschehen, faktisch auf-
gehoben war. Wie sie diess auch mit ihrer Ansicht von der Noth-
wendigkeit der Beobachtung des Gesetzes vereinigen mochten , es
kann nur als ein dem paulinischen Universalismus gemachtes Zu-
gestdndniss angesehen werden, womit auch diess zusammenzu-
hängen scheint, dass auf dieselbe Weise, wie von der Beschneidung
nicht mehr die Rede ist, nun die Taufe eine analoge religiöse Be-
deutung erhält. Irgend eine Form zur Aufnahme der Heiden in die
messianische Gemeinschaft musste man doch haben, welche andere
konnte dazu passender sein als die Taufe? OhneZweifel steht ihre
allgemeinere Einführung und höhere religiöse Bedeutung in einem
sehr engen Zusammenhang mit der Bekehrung der Heiden. Scheint
diess doch auch schon der Apostel Paulus anzudeuten, wenn er zu
einer Zeit, in welcher noch die Beschneidung zur absoluten Be-
dingung der Seligkeit gemacht wurde, die Taufe für die Bedingung
der Gemeinschaft mit Christus erklärt, Gal. 3, 27. Wer einmal,
sagt er, auf Christus getauft ist, hat Christus angezogen, und es ist
kein Unterschied mehr zwischen Juden und Heiden. Wie also die
Beschneidung zum Juden macht, so wird man durch die Taufe
Christ. Auch im Evangelium Matth. 28, 19 steht der ohne Zweifel
nur der letzten Redaktion des Evangeliums angehörende Taufbe-
fehl in der engsten Verbindung mit dem Gebot der allgemeinen
Heidenbekehrung. Wie diese Bedeutung der Taufe , die sie der
Natur der Sache nach zuerst nur bei den Heidenchristen haben
Begchneidung und Taufe. 93
konnte, auch von den Judenchristen anerkannt wurde, ist aus den
pseudoclementinischen Homilien zu sehen, welche die Taufe zwar
nur das von Gott angeordnete Mittel zur Ablegung des Heiden-
ttioms OiiptXXfjyiaOfjißai) nennen, aber als die nothwendige Be*
dingung betrachten, unter welcher der Mensch allein die Sünden-
yergebung und künftige Seligkeit erlangen kann 0* Die Beschnei-
düng war demnach von den Judeuchristen selbst aufgegeben, so-
bald es eine andere ihr gleichbedeutende, von ihnen selbst aner-
kannte Form der Erlangung der Heilsgewissheit gab. Bei den
Heidencfaristen wurde so die Taufe von selbst der Ersatz der Be-
schneidung % die Judenchristen hatten als geborne Juden einen
solchen Ersatz nicht nöthig, je geringer aber in der Folge die Zahl
derer war , welche als geborene Juden das Christenthum annah-
men, um so mehr musste nun die Taufe die allgemeine Form des
r christlichen Bekenntnisses in demselben Sinne werden, in welchem
bei den Juden die Beschneidung das charakteristische Merkmal
ihrer Religion war. An der Frage über die Beschneidung brach
sich demnach zuerst die absolute Macht des Judenthums, und wenn
es auch in der Folge noch immer Judenchristen gab, welche nicht
nur für sich selbst auf der absoluten Gültigkeit des Gesetzes be-
harrten, sondern auch mit den Heidenchristen keine Gemeinschaft
^ haben wollten, welche nicht auf dieselbe Weise, wie sie, das Ge-
^ setz beobachteten, so war diess nur die strengere Klasse, wel(*/her
eine andere milder denkende gegenüberstand, die an die Heiden-
christen keine solche Forderung machte und sie gleichwohl als
,» christliche Brüder anerkannte ^3. Ganz jedoch konnte auch diese
Klasse von Judenchristen den Heidenchristen die Rücksicht auf das
Gesetz nicht erlassen. Um einer völligen Entbundenheit vom Ge-
I-
ii-
1-
11
p
i
1
i) Hom. IS, 9. 11, 24 f.
)) Aach diess bestreitet Rit»orl a. a. -O. S. 337 gegen ScbwS6LCR
und zwar aus dem Grande , weil in den Becognitionen 1, 39 die Taafe als
Mittel der SüDdenvergebung an die Stelle des aufgehobenen Opferinstituts
treten sollte, und die Homilien auch hier aus den Recognitio^ien zu erklä-
ren seien. Es ist diess jedoch so unklar, dass darauf nichts gebaut werden
liann. Wie kann die einmalige Taufe die für dasselbe Bedürfniss immer
^ederholten Opfer ersetzen ? Es muss daher hier irgend ein Miüsverstftnd-
ni>8 stattfinden.
3) VergL Justin Dial. c. Jud. Tryph. c 47*
^ /
94 Zweiter Abschnitt. Dm Christentham als allgenu Heiliprineip.
setz zu begegnen, sollten wenigstens die Bestimmungen gelten,
welche der Verfasser der Apostelgeschichte als Beschlässe seines
angeblichen Apostelconcils auffiihrt, welche, wie langst gezeigt
worden ist % in dieser Weise von den Aposteln nicht gefasst wor-
den sein können, sondern nur das zur Praxis gewordene Minimum
der von Seiten der Judenchristen an die Heidenchristen gemachten
Gesetzesforderungen enthalten. Es sind dieselben Bedingungen,
unter welchen die Israeliten die Proselyten des Thors unter sieh
aufnahmen (4 Hos. 17, 8— 16. 18, 26 0) und wir sehen denmack
hieraus, wie die Judenchristen zwar den Standpunkt des Gesetzes
behaupteten und ihr Verhältniss zu den Heidenchristen nur nach
solchen Normen bestimmen konnten, welche das Gesetz für eine
Gemeinschaft zwischen Juden und Heiden als gültig feststellte,
aber es war nun doch das Aeusserste nachgelassen , was von Sei*
ten des Judenchristenthums den Heidenchristen nachgelassen wer-
den konnte und wofern nur die Heidenchristen an diese Bestim-
mungen sich hielten, stand der gegenseitigen Gemeinschaft der
Jttdenchristen und Heidenchristen, welche die Beschneidungsfrage
durch eine so weite Kluft zu trennen schien, kein weiteres Hin-
derniss im Wege. Wie somit für die Judenchristen der am Hei-
denchristenthum genommene Anstoss gehoben ist, sobald sie in den
Heidenchristen Proselyten des Thors sehen können , so handelte es
sich überhaupt in dem Verhältniss des Judenchristenthums zum
Paulinismus so oft nur um eine dem religiösen Bewusstsein der
Judenchristen zusagende Form der Anschauung. Hatten sie doch
sogar, sobald es einmal ausserhalb des Judenthums und ganz un-
abhängig von ihm eine neue christliche Welt gab, deren Dasein
nun eine faktisch gegebene , nicht mehr rückgängig zu machende
Thatsache war , den ganzen paulinischen Universalismus sich an-
geeignet, wenn nur der Urheber desselben nicht Paulus, sondern
Petrus gewesen wäre. Denn was ist es anders, als eine Ueber-
tragung des paulinischen Universalismus von Paulus auf Petrus,
wenn in den pseudoclementinischen Schriften Petrus der eigentliche
Heidenapostel ist, dessen Bestimmung es ist, zu den Völkern zu
1) Vergl. meinen Panlns S. 104 f* Zkller thet die ApostelgeicL
TbeoL Jahrb. 1849* S. 444 f.
2) Vergl. RxTBCHL a. a. 0. S, 117 f.
Petrus als fieidenapostel. 05
reisen, welche yiele Götter behaupten, und ihnen die Lehre zu
verkündigen, dass nur ein Gott ist, welcher Himmel und Erde und
alles, was in ihnen ist, geschaiTen hat, damit sie durch Liebe zu ihm
selig werden können 0* Denselben Kreis der Thätigkeit, in wel-
chem der Apostel Paulus unter den Völkern umherreiste, um sein
Evangelium zu verkündigen, beschreibt in den pseudoclementi«
nischen Schriften der Apostel Petrus, und auch er kann als Hei'-
denapostel seinen ihn von Stadt zu Stadt, von Land zu Land weiter
Cährenden Lauf zuletzt nur in Rom beendigen 0- Freilich erhält
hier die Heidenmission des Apostels Petrus, indem er seinem Wi^
dersacher, dem Magier Simon, auf dem Fusse folgt, um seine falsche
Lehre zu widerlegen und die Völker von ihr zu der Lehre des
^ wahren Propheten zu bekehren, den Charakter einer reagirenden
\ Thätigkeit, er will zunächst nur wieder gut machen, was der fal«-
[J; sehe Apostel vor ihm verdorben hat, aber es stellt sich uns darin
i. eigentlich nur dasselbe Verhältniss dar, in das sich das Judenchri-
|0 stenthum von Anfang an zum paulinischen Heidenchristenthum setzte,
p Mit derselben Tendenz kamen ja schon jene jerusalemischen Chri-
R. sten vonJacobusher nach Antiochien, denselben Zweck verfolgten
^ die judaisirenden Lehrer, welche überall, wo der Apostel Paulus
n den Grund einer neuen christlichen Gemeinde gelegt hatte, alsbald
a auch sich einfanden, um ihm entgegenzuarbeiten, und welche an-
II dere Absicht kann selbst der Apostel Johannes gehabt haben, als
er er der Nachfolger des Apostels Paulus in dem ephesinischen Wir-
rk kungskreise desselben wurde? Das geschichtlich Thatsächliche,
H das sich hieraus ergibt, ist demnach diess: * Das bewegende, bahn-
■ brechende, den innersten Kern des jüdischen Partikularismus zer^
e sprengende Princip ist der Paulinismus, der Apostel Paulus war eS|
- • durch welchen zuerst dem Evangelium in der Heidenwelt eine unend«-
I lieh weite Sphäre sich aufschloss, und der grosse Erfolg, welchen er
bewirkte, konnte nur dadurch erreicht werden, dass er durch seine
Lehre von der Ungültigkeit des Gesetzes den Heiden die Annahme
1) Hom. 3» 59*
3) Yergl. den Brief des Clemens an Jacobtts c» 1 , wo von Petrui ge-
SAgt wirdi dais er t^s dvotiut to OHOTtivoTM^ovr» noa/jut fA4(foe eis ndvttuv ixa"
^^'f^Ü ytvofisros ^toßak^Ttf di9aanaUtg, qoj((uv av&Qtuirnf^ avrot rS vvv fitt
06 Zweiter Abschnitt. Dos Christentbum als allgem. Heilsprinoip.
des Evangefiums erst möglich machte , sobald aber dieses grosse
Gebiet für das Evangelium erobert war, leuchtete auch dem Jaden-
christentfaum nichts mehr ein als dieser christliche Universalismus,
mit demselben Interesse war es nun aber auch darauf bedacht, den
gleichsam auf revolutionäre Weise errungenen Besitz zu einem le«
gitimen zu machen und Formen aufzustellen , durch welche nicht
nur das Bewusstsein der Judenchristen sich mit der neuen Ord-
nung der Dinge befreunden konnte, sondern auch der Strom der ex-
centrischen Bewegung so geregelt wurde , dass er innerhalb der
Grenzen eines geordneten Verlaufes blieb. Diess ist auch in der
Folge das Verhältniss der beiden Grundrichtungen zu einander,
wenn wir sie in ihr'Or innersten gegenseitigen Beziehung auffassen.
Wo der Paulinismus als neues schöpferisches Princip wirkt, kann
auch das Judenchristenthum sich nicht gleichgültig und unempfängf^
lieh verhalten, aber es will den neugewonnenen Inhaltin den seiner
Anschauungsweise entsprechenden Formen sich aneignen.
Unter diesem Gesichtspunkt findet auch der Brief des Jakobus
hier seine Stelle, da er einerseits schon durch den Namen des Ver-
fassers, welchem er zugeschrieben wird, seinen judenchristliehen
Charakter bezeugt, andererseits aber auch den Einfluss des Paulinis*
mus nicht verläugnen kann, und sein Interesse an demselben schon
dadurch beurkundet, dass er über dieselbe Lehre, welche für den
Paulinismus so grosse Wichtigkeit hatte, vom judenchristliehen
Standpunkt aus sich zu verständigen und sie auf den idemselban
entsprechenden Ausdruck zu bringen suchte. Unstreitig hat der
Brief eine antipauliniscBe Tendenz, er setzt die paulinische Recht-
fertigungslehre voraus, und bekämpft eine aus ihr hervorgegangene
einseitige, für das praktische Christentbum verderbliche Lehre und
zwar so principiell, dass er der paulinischen Rechtfertigungsfof mel
eine andere entgegenstellt, in welcher Glaube und Werke in ein
ganz anderes Verhältniss zti einander gesetzt sind, als bei Paulus,
die Werke ebenso das Substanzielle sind, wie es bei Paulus der
Glaube ist, auf der andern Seite ist aber doch dem Verfasser des
Briefs auch die paulinische Verinnerlichung des Gesetzes nicht
fremd, indem er nicht blos das Gebot der Liebe als königliches Ge-
setz bezeichnet, sondern auch von einem Gesetze der Freiheit
spricht , zu welchem ihm das Gesetz nur dadurch geworden sein
kann, dass er seinerAeusserlichkeit gegenüber sich innerlich ebenso
Der Brief des Jaeobns. 97
frei von ihm wnsste, wie der Apostel Paulus von seinem Stand-
punkt aus. Dabei zeugt es ebenso sehr von der Kräftigkeit seines
jadenchristlichen Bewusstseins, dass er im Unterschied von dem
ptulimschen Glaubensprincip das Princip der Beseligung in das
Wmrt der Wahrheit, als ein dem Menschen immanentes Princip der
Wiedergeburt, setzt Wie die paulinische Lehre vom Glauben mit
der paulinischen Christologie aufs Engste zusammenhängt, so scheint
die Lehre des Jacobusbriefs vom koyog ältjif'ilag^ als dem !ßq>vvog
itoVog,aof eine Form der Christologie hinzuweisen, in welcher Christus
mehr nur als ein Prophet der Wahrheit im Sinne der Clementinen
gedacht wird, dessen Wort der Wahrheit dadurch erst ein dem
Menschen eingepflanzter lebendiger Keim fruchtbringender Thä-
tigkeit wird, dass es auch ein unmittelbares, der äussern Ofi^en-
baruBg entsprechendes Wahrheitsbewusstsein gibt Auch diess be-
rechtigt zu der Annahme, dass der Brief einer gleich selbstständi-
gen Gestaltung des Judenchristenthums angehört, wie das der pseu-
doclementinischen Homilien ist Da er bei aller Polemik gegen die
paulinische Rechtfertignngslehre und die Anhänger derselben doch
den Apostel Paulus selbst nicht nennt, so war er eben dadurch
ganz geeignet, in seiner Lehre von den Werken und dem prak-
I tischen Verhalten des Menschen einen Beitrag zu dem sich gestal-
I tenden katholischen Christenthum zu geben, in welchem das Juden-
i christenthum sein selbstständiges Recht geltend machte. Aus ihm
i ond dem nichtgnostischen Inhalt der Lehre der Clementinen liesse
ein System der christlichen Lehre entwickebi, das zwar von
paulinischen wesentlich verschieden wäre, aber die eine der
beiden Grundrichtungen ebenso rein in sich darstellte, wie der
Paolinismus die andere 0«
1) Man Tgl. über den Jaoobusbrief, die Zeit, in welche er zn setzen
H Beinen Inhalt und Charakter meinen Paulas S. 677 f* Ritschl a. a. O.
^150 meint, der Brief stehe nach allen Seiten hin als ein Räthsel in der
^twioklnng des ftltesten Christenthoms da. Er bewege sich trotz seiner
Antithese gegen die paulinische Lehre in einer Anschauung, welche von
^ra wesentlich paulinischen Elemente durchdrangen sei. Wenn auch Aehn-
^es in den dementinischen Schriften bemerkbar sei, so berühren sich die
^derseitigen Formeln zu wenig, als dass man auch nur eine Gontinuitttt
der Biditang in diesen Schriften nachweisen könne. Wenn man freilich
^ JadenchristeDtbum Überlumpt die Entwicklungsfähigkeit abspricht , so
Banr, dis dr«i entn Jalirh. *
98 Zweiter Abschnitt. Das Ohristentham all allgem. Heiliprineip.
In allem demjenigren, wovon bisher die Rede war, zeigt sick
uns auf judenchristlicher Seite das doppelte Streben, einerseits
das Princip des Judenchristenthums so viel möglich festzuhaltra,
andererseits den Judaismus in eine freiere, dem Panlinismus ver-
wandtere Form des religiösen Bewusstseins hineinzubilden. Wen-
den wir uns von der judenchristlichen Seite auf die paulinische,
so begegnet uns auch hier eine Reihe analoger Erscheinungen,
in welchen auch der Paulinismus das Interesse hat, seine ur-
sprüngliche Härte zu mildern, die Kluft, die ihn vom Judenchristen-
thum trennt, so viel möglich auszufüllen, und eine Grundlage zu ge-
winnen, auf welcher er der Gegenpartei die Hand zur Versöhnung
bieten kann. Ja dieses Streben nach Vermittlung und einem ge-
meinschaftlichen Anknüpfungspunkt tritt auf der paulinischen Seite
so sichtbar hervor, dass eine ganze Klasse schriftstellerischer Er-
zeugnisse hauptsächlich unter diesen Gesichtspunkt zu stellen iA
So entschieden der Paulinismus mit dem Judenthum und dem
mass ein Produkt des Judenchristenthums, das so entschieden das Gegen-
theil beweist, eine sehr räthselhafte Erscheinung sein. Was soll aber )d&
Rftthselhaftes sein, sobald man nur nicht den Brief in eine Zeit setzt, wel-
cher er schon wegen seines Verhältnisses zum Paulinismus nicht angehdrfli
kann? Der Brief bezeugt sehr klar das bewusste Streben des Judenchristoi'
thoms, im Gegensatz zu dem Paulinismus und zu dengenigen, was an des-
selben als eine Einseitigkeit erschien, auf das sich fixirende christliche $e-
wusstsein so einzuwirken, wie es im Interesse des Judenchristenthums wtf|
als dessen Vertreter daher in dem Verfasser des Briefs die höchste Ank-
torität auf der Seite der judenchristlichen Partei auftritt, jener uns soni*
bekannte Jacobus , welcher , wenn er an die zwölf Stämme in der Zerstreo-
ung schreibt, die mit Heidenchristen zusammenlebenden Jadenchristen, anek
hier als das Haupt der jerusalemischen , die ganze Christenheit in der Eiv^
heit ihrer Grundzahl (vgl. Apok. 7» 4*) zusammenfassenden Muttergemeinde
erscheint. Da es dem Verfasser des Briefs keineswegs nur um eine Po"
lemik gegen die paulinische Rechtfertigungslehre zu thun ist , da er not
im Zusammenhang des Gesammtinhalts seines Briefs au(^ auf diesen Punkt
kommt, und sich vielmehr die allgemeine Aufgabe gesetzt hat, vom Standr
punkt seines freieren vergeistigten Judenchristenthums aus das ganxe Go*
biet des christlichen Lebens, wie es als wesentlich praktisch im Leiden und
Thun sich bethätigt, zu umfassen, und den Christen, wie er sein soll, als
ar37(» riAe*off in der Vollkommenheit des christlichen Lebens, die nur als
ein fyyoy tilnov gedacht werden kann, zu schildern, so erhellt hienuis nur
um so mehr, wie bestimmt sich der Verfasser seiner Stellung in der • Zeit
und der hohen Bedeutung seines judenchristliehen Standpunkts bewosst ww«
Der Brief an die Hebrfter« 99
*
Alten Testament gebrochen zu haben scheint^ so stand doch auch
der Apostel Paulus zu fest in der alttestamentiichen Anschauungs-
weise, als dass er das Cbristenthum in seinem Unterschied vom
Jodenthum nur als ein schlechthin Neues hätte betrachten können.
IKe Wahrheit des Neuen konnte ihren objektiven Haltpunkt nur
in dem an sich Wahren haben, wo anders war aber das an sich
Vahre zu suchen als in der Vergangenheit? Der Gegensatz, in
welchen er das Cbristenthum zum Alten Testament setzte, betraf
ja nur das Gesetz, aber dem Gesetz aber stand die göttliche Ver-
heissung, der Glaube des Christen hat sein Vorbild in dem Glau-
ben Abrahams, der neuen itu&n^ti ging die alte voran, welche,
80 tief sie auch unter jener stand, doch auch eine dha^n^n war,
nad als solche eine Vorbereitung der neuen. Je genauer man
sich über diesen Zusammenhang des Alten und Neuen verstan-
digte, und je klarer man sich nicht blos des dazwischen liegenden
Unterschieds, sondern auch aller Beziehungen bewusst wurde,
welche das Neue mit dem Alten verknüpften, um so mehr wurde
dadurch das Verhaltniss zwischen dem Judenthum und dem Pau-
linismus festgestellt, und der Gegensatz zwischen beiden aufge-
Ikoben. Dadurch erhalt der auch der Zeit nach zunächst hieher
gehörende Hebräerbrief seine bestimmte Stelle. Wie er auf der
einen Seite sehr entschieden das paulinische Cbristenthum vertritt
lad sich selbst als ein aus der nächsten Umgebung des Apostels
Panlus gekommenes Schreiben bezeichnet C13, 23.), so hat auf
der andern Seite der Verfasser eine wesentlich andere Stellung
vm Alten Testament als der Apostel Paulus. Dem Apostel ist
das Judenthum wesentlich Gesetz , aber am Gesetz stellt sich nur
sein negatives Verhaltniss zum Cbristenthum dar, dem Verfasser
des Hebräerbriefs ist das Judenthum wesentlich ein Priesterthum.
Kr selbst bestimmt seinen Gesichtspunkt sehr bezeichnend , wenn
er 7, 12. sagt: die Veränderung des Priesterthums habe nothwen-
dig auch eine Veränderung des Gesetzes zur Folge. Das Priester-
thnm ist ihm also das Primäre, von welchem die ganze Betrach-
taag ausgeht, das Gesetz ist das Secundäre, das Letztere muss
lach dem Erstem sich richten. In dem BegrilTe des Priesterthums,
welcher noch ganz ausserhalb des Ideenkreises des Apostels Pau-
Itta lag, ist ein neuer Gesichtspunkt für das Verhaltniss des Chri-
rtenthums zum Jud^athum aufgestellt Zunächst zwar stellt sich
7»
100 Zweiter Abschnitt. . Das Chriotentham als «Ugem. Heilsprinoip.
anch am Priesterthum nur der Gegensatz zwischen beiden dar,
denn das alttestamentliche Priesterthum ist ein schwaches und un-
vollkommenes C7, 24—28. vgl. V. 15), und an seiner Unvoll-
kommenheit und Vergänglichkeit kommt das ganze Wesen der
alttestamenUichen Religion zur Anschauung. Was vom Priester-
thum gilt, gilt auch vom Gesetz, es ist schwach und nutzlos, weil
es nichts zu Stande bringt, 7, 18. 19. Aus seiner Schwäche und
Nutzlosigkeit folgt, dass es nicht das Ebenbild der Dinge selbst,
sondern nur einen Schatten derselben hat, 10, 1., die Versöhnung
noch nicht verwirklicht, sondern nur unvollkommen nachbildet
und andeutet, somit wieder aufgehoben werden muss. Was also
durch das Gesetz und die alttestamentliche Religionsverfassung
nicht zu Stande kommen konnte, erhält seine Vollendung im Chri-
stenthum, aber nur desswegen, weil Christus eui anderer Hohe-
priester ist, als der des Alten Testaments. Der Verfasser des
Hebräerbriefs hat eine sehr hohe Vorstellung von der göttlichen
Würde Christi als des Sohnes, von seinem überzeitlichen und über-
weltlichen Sein, so hoch er aber die Person des Sohnes stellt,
so dienen ihm doch alle ihn verherrlichenden Prädikate nur nur
Begründung seines BegrifTs vom Priesterthum Christi. Ein gans
anderer Hohepriester als der levitische ist also Christus, allein
dieser Unterschied und Gegensatz ist nur die eine Seite des Yei^
hältnisses zwischen Judenthum und Christenthum , von welcher
eine andere zu unterscheiden ist. Was das Priesterthum Christi
zu einem von dem levitischen so wesentlich verschiedenen macht,
ist ja nur diess, dass er ein Priester nach der Ordnung Melchise*
deks ist Welches wichtige Moment in der ganzen Anschauungs«
weise des Verfassers des Hebräerbriefs der Priester nach der
Ordnung Helchisedek's ist, fällt von selbst in die Augen. Schon
das Alte Testament verhiess einen über den israelitischen wdt
erhabenen Hohepriester, einen Priester *iV top miSya nach der
Ordnung Helchisedeks, 5, 6. 10., einen Christus vollkommen glei-
chen Hohepriester, und an ihm stellt sich erst das Verhältniss des
Christenthums zur alttestamentlichen Religion in seiner vollen
Wahrheit dar. Judenthum und Christenthum verhalten sich nicht
blos wie die unvollkommene und vollkommene Religion, sondern
auch wie Bild und Sache, alles was in die Sphäre der alttesta-
mentlichen Religion gehört, hat eine auf das Christenthum sich
Der Brief an die Hebrier. 101
beziehende typische Bedeutung, nnr muss man auch hier wieder
zwischen Abbild und UrbOd unterscheiden und das blos Vorbild«
liehe nicht für das Urbildliche selbst halten. Das eigentliche Ju-
dentbom ist nur das Abbild, der Schatten, der Reflex einer über
ihB stehenden urbildlichen Religion, aus welcher solche Urbil-
der, wie der Priester Melchisedek, in dasselbe hereinragen. Was
4as Christenthum seinem wahren Wesen nach ist, auch im Unter-
schied vom Jndenthum, ist in jenen Urtypen ideell und an sich
schon enthalten. Indem so das eigentliche Judenthum das gesetz-
lidie, levitische, zwischen der alttestamentlichen Religion als dem
ideellen Christenthum und dem geschichtlichen in der Mitte steht,
erscheint es selbst nur als der Abfall yon der Idee, als der Schat-
ten derselben, als die unwahre Gestalt der noch verhüllten wahren
Rdigion, durch welche die Idee sich hindurchbewegen muss, um
n ihrer wahren geschichtlichen Verwirklichung, ihrer TfMwa$g
im Christenthum zu gelangen. Das Verhältniss des Christenthums
nun Alten Testament wird dadurch auf doppelte Weise unter den
Gesichtspunkt einer Identität gestellt, welche über die Anschau-
ugsweise des Apostels Paulus hinausliegt. Es realisirt sich nicht
lor im Christenthum eine schon im Alten Testament enthaltene
vbildliche Idee, sondern es treffen auch Judenthum und Christen-
thum darin zusammen, dass das Eine wie das Andere nicht ohne
eraen Priester sein kann, durch dessen priesterliches Geschfift die
höchste Aufgabe der Religion vollzogen wird, die Versöhnung
des Menschen mit Gott Obgleich auch schon der Apostel Paulus
typische Beziehungen im Alten Testamente voraussetzte, so ist
doch diese Ansicht erst im Hebräerbrief principiell begründet und
m bestimmten Gegensätzen in ihrem ganzen Umfang durchgeführt
worden. Ein noch wichtigerer Differenzpunkt zwischen dem Apo-
stel Paulus und dem Verfasser des Hebraerbriefs ist das Priester-
thnm Christi. So sehr aber alles darauf sich Beziehende noch
tnsserhalb seines Gesichtskreises zu liegen scheint, so fehlt es
tnch schon bei ihm nicht an einem Anknüpfungspunkt für diese
Inder folge so wichtige Idee. Von demselben Gesichtspunkt aus,
Ton welchem ihm das Gesetz in seinem rein negativen Verhält-
niss zum Christenthum erschien, indem er nur in dem Tode Christi
das Mittel erkannte, den Menschen von dem auf ihm liegenden
Flach des Gesetzes m befreien, aber eben desswegen den Tod
108 Zweiter Abschnitt. Das GhrittentliQm als allgem. HeiUprincip.
Christi nur als ein Opfer zur Versöhnmigr des Menschen soAMseR
konnte , hat er die im Gesetz so tief herabgesetzte alttestament-
liehe Religiorfsverfassnng auf der andern Seite wieder znm Mittel-
punkt seines religiösen Bewnsstseins erhoben. In der Ton Hm
zuerst in ihrer yoUen Bedeutung fixirten Opferidee des Todes Jesa
hat er sich selbst wieder auf den Standpunkt der alttestamentUckei
Anschauungsweise gestellt O9 und es war daher auch nur eia
weiterer Schritt in derselben Richtung, wenn der Verfasser des
Hebräerbriefs von der Opferidee zur Priesteridee fortging, h
der Anschauung des Hebräerbriefs ist Christus beides zuglekk,
sowohl das in seinem Tode Gott dargebrachte Opfer, als andi
der das Opfer an sich vollziehende Hohepriester, welcher in du
Heiligthum eingeht und mit seinem eigenen Blut die Sftnder mi
m
den entweihten Himmel besprengt, um sie zu reinigen und toi
Neuem zu weihen. Je umfassender und beziehungsreicker eise
solche Grundanschauung ist, wie der auf Christus übergetragene
Begriff des Hohepriesters, um so grösser ist die Analogie vd
Identität der beiden Religionsanstalten, sie sind in einer durch*
geführten Symbolik einander so nahe als möglich gerückt, das
Judenthum enthält auch schon alles, was zum Wesen der wahrca
Religion gehört, nur ist im Christenthum, als der höchsten vd
letzten , alles auf absolute Weise enthaltenden und gewährende!
Offenbarung Gottes, alles besser und vollkommener, in seiner Ret"
lität und Vollendung. Beide verhalten sich zu einander, wie ^
und Sache, oder wie die jetzige und die künftige Welt, beide greifea
so in einander ein, das das Eine nur in dem Andern gedacht wer*"
den kann. Man kann nach dem Hebräerbrief nicht sagen, dass daS
Judenthum durch das Christenthum aufgehoben ist, es dauert auch
innerhalb des Christenthums noch fort, zwar als alternd und deif^
Verschwinden nahe, 8, 13., aber doch noch als factisch beste-*-
kend, sein vollständiger aq>ap$afi6g erfolgt erst im nahe bevor^
stehenden aitup fAilkwp, im kommenden Zustand des aäßßuxhvikig
und der andnavotg, in welchem erst die volle Verwirklichung'
1) Obgleich er nie auf die Opfer des Alten Testaments Rücksiclit nimmt,
nnd daher in seiner Argumentation gegen das Gesetz die oben (S. 45) be-
Bierklioh gemachte Lücke lief», die erst £e Priesteridee des Hebrierbrieft
msfüUt.
Der Brief an die Hebr&er. lOS
des Christenlhnins eintritt. Das Christenthum des mioiv Svog ist
somit noihwendig noch ein Ineinandersein von Judenthnm und
Christenthum, subjectiv aber ist der aitav fitkiatp für den Christen
schon jetzt da, in den dwclftug iiikXovxog aiäivog, 6, 5. Wie
in einer solchen das Alte und Neue zusammenfassenden Anschau-
mng das Schroffe und Abstossende, das der Paulinismus gegen
das Jadenthum hatte, von selbst sich abschwächen und aufheben
musste, so zeigt sich diess auch im Begriffe des Glaubens. Schon
im alten Bunde gab es denselben seligmachenden Glauben, wie
in neuen, K. 11., denn das Eigenthnmliche im Begriffe des Glau-
bens ist hier, dass die specielle Beziehung auf Christus gegen die
allgemeine auf Gott sehr zurücktritt Der Inhalt des Glaubens ist
i«r, dass Gott ist, und denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird,
11, 6. 26. So allgemein aber der Begriff dieses Glaubens ist, so
intensiv ist seine Bedeutung. Der Glaube knüpft überhaupt erst
das Band zwischen Gott und dem Menschen, durch den Glauben
^filt der Mensch erst den bestimmten Halt seiner Existenz, weil
er durch den Glauben mit dem in Verbindung kommt^ in welchem
aDein alles den substanziellen Grund seines Daseins hat Wie er
fiberhaupt das Princip ist, von welchem alle Aeusserungen des
geistigen Lebens ausgehen, die Einheit des Denkens und WoUens,
«He sittliche Macht, die ihn über alles erhebt und alles wahrhaft
Grosse wirkt, was Menschen thun können, so ist er auch das ge-
recht und selig machende Princip, das von selbst das Thun, die
tfuten Werke, in sich begreift, und wie er schon in demselben
Yerhaltniss, in welchem er mit dem lebendigen Gott in Verlnn-
dang bringt, um so thatkräftiger sein muss, so nimmt er durch
die Beziehung auf den Tod Jesu ein neues sittlich religiöses Mo-
flientin sich auf. Die todten Werke, von welchen, wie 9, 14. ge-
sagt wird, das Blut Christi unser Gewissen reinigt, um dem le-
bendigen Gott zu dienen, sind zwar keine Gesetzeswerke, gegen
welche der Verfasser des Hebräerbriefs keine weitere dialektische
Polemik für nöthig erachtet, sondern Werke, die sich auf end-
liche nichtige Dinge beziehen, in Ansehung welcher das mensch-
liche Thun todt und unfruchtbar für das ewige Leben ist, nm üo
niher wird aber dadurch der Gedanke gelegt, dass, je freier und
reiner von der Schuld der Sünde da& Gewissen ist, um so mehr
der Glaube durch lebendige Werke sich äussern wird.
104 Zweiter Abschnitt. Das Christenthom aU allgem. Heilspiineip.
Wir sehen hier eine Gestaltung der christlichen Lehre , in
welcher zwar dem freieren paulinischen Princip seine volle Be-
deutung erhalten, aber auch der Versuch gemacht ist, die «lite-
stamentliche Religionsverfassung in eine so viel mög^ch nahe und
innige Beziehung zum Christenthum dadurch zu setzen, dass dea
christlichen Bewusstsein ein Weg gezeigt wird, wie es den vollei
Reichthum seines Inhalts auch schon im Alten Testamenl wenige
stens vorbildlich und andeutungsweise finden kann. In der von
der Urbildlichkeit der Idee ausgehenden und in alle durch sie be-
dingten Gegensätze sich hineinstellenden Weltanschauung des H^
braerbriefs erhält die alttestamentliche Religionsverfassung voa
selbst die Stelle einer Vorstufe, welche zwar in ihrer UnvoUkom-
menheit noch weit unter der christlichen zurückbleibt, aber doek
zugleich in einem so immanenten Verhältniss zu ihr steht, dasB
beide in der Einheit einer und derselben Grundanschauung zu-
sammenfallen. Setzte sich der Verfasser des Hebräerbriefs, wie
er selbst sagt, die Aufgabe, die hebräischen Leser seines Briefs,
die an der Wahrheit ihres christlichen Glaubens irre geworden
waren, vor der Gefahr des Rückfalls zu bewahren und sie dahin
zu bringen, dass sie, statt rückwärts zu fallen, vielmehr vorwärts
schreiten zu der Vollkommenheit, die sie als nicht mehr Unmün-
dige, sondern Mündige haben sollen, so konnte gewiss nichts mehr
als eine solche AuiTassung und Darstellung, wie die des Hebräer-
briefs ist, dazu dienen, die noch ^n ihren alttestamentlichen Be-
griffen hängenden Judenchristen mit dem Christenthum auszusöh-
nen und inniger mit ihm zu befreunden. Und wie sie in ihrem
christlichen Bewusstsein um so mehr befestigt werden mussten,
je mehr ihnen Formen dargeboten wurden, in welchen der Inhalt
des christlichen Glaubens ihrer gewohnten alttestamentlichen An-^
schauungsweise angepasst war, so bildet der Hebräerbrief über-
haupt ganz den Uebergang zu einer Form des christlichen Be-
wusstseins, in welcher, wie diess in der Folge zum Charakter
des katholischen Christenthums gehörte, der Unterschied der alt-
testamentlichen Religion und der christlichen so viel möglich in
der Voraussetzung verschwand, dass beide an sich nach Inhalt
und Form dieselbe Religion seien, nur die eine die vollkommnere^
die andere die unvoUkommnere.
Wie diess nicht Mos die charakteristische Eigenthümlichkeü
i
Die Briefe an die fipheser und Koloaser. |05
des Hebrderbriefs ist, isondern tfuch den Charakter der Zeit aus-
druckt, welcher er angehört, so stellen sich durch dieselbe Ten-»
denz die in der Reihe der paulinischen Briefe stehenden beiden
Briefe an die Epheser und Kolosser von selbst in den Verlauf einer
Periode hinein,, deren höchstes Interesse es war, nach einer Ver-
mitdung der Gegensätze und einer Vereinigung der beiden noch
inmer nicht Töllig miteinander verschmolzenen Hauptparteien, der
Judenchristen und Heidenchristen, zu streben. Auch sie ringen
mich einer Auffassung des Christenthums, in welcher der Unter-
schied der Judenchristen und Heidenchristen von selbst ein ver-
schwindendes Moment des gemeinsamen religiösen Bewusstseins
- wird. Allgememe Versöhnung, Vereinigung des Getrennten und
i Entzweiten ist die höchste durch den ganzen Inhalt der beiden
Briefe hindurchgehende Idee, auf welche sich alles bezieht, und
deren höchster Ausdruck die Christologie dieser Briefe ist Alles
i^ im Himmel und auf Erden soll in Christus Eins werden. Das ist
^ der von Gott von Ewigkeit gefasste Rathschluss, welcher in Chri-
s 8tQ8 in der hiezu bestimmten Zeit erfüllt und verwirklicht wird,
s Eph. 1, 10. Diess ist ganz besonders der Zweck seines Kreuzes-
todes. Wie Gott durch ihn und in Beziehung auf ihn , so dass in
ihn alles seinen Endzweck hat, alles versöhnen wollte, so hat er
in dem Blute seines Kreuzes durch ihn Frieden gestiftet für die
Gesammtheit aller Wesen auf der Erde und im Himmel, Kol. 1, 20.
Es geschieht diess auf verschiedene Weise. Die beiden Briefe
betrachten den Tod Christi als einen Kampf mit einer Gott femd-
Schen Macht Je höher und allgemeiner der Gesichtspunkt ist,
unter welchen die Person und das Werk Christi gestellt wird^
UB so mehr steigert sich die Idee des Gegensatzes. Der Tod
Christi ist die Ueberwindung der durch ihn entwaffneten und im
Triamph aufgeführten feindlichen Mächte und Gewalten, Eph. 2, 2.
3, 10. 6, 12. Kol. 2, 15. So sind die »QX^pvtg r« uitSpog vätH,
von welchen der Apostel 1 Kor. 2, 8 noch in unbestimmtem Sinne
sprach, zu einer übersinnlichen Macht geworden', und die Bekäm-
pfong und Besiegung dieser Mächte und Gewalten ist eine auf die
achtbare und unsichtbare Welt sich beziehende That In näherer
Beziehung zum paulinischen Lehrbegriff wird zum Versöhnungs-
w^ke Christi besonders die Aufhebung des Gesetzes gerechnet
Geheftete das Gesetz, das Schuldbuch der Menschen, ans Kreuz,
I
106 Zweiter Abgohnitt. Dm Chriftenthmn als allgem. Heilsprineip.
um es aus der Welt hinwegzunebmen, Kol. 2, 14 Dadurch sind
die Menschen mit Gott versöhnt Das Mittel der Versöhnung war
der getödtete fleischliche Leib Christi. In dem Tode Christi ist
der fleischliche Leib , als der Sitz der Sünde, von uns ausgeiogea
und hinweggenommen worden. Die Folge dieser Versöhnung ist,
dass wir im Bewusstsein der Freiheit vom Gesetz und der Verge-*
bung der Schuld der Sünden heilig, untadelig und unstriflich vor
Gott stehen, Kol. 1, 20 f. 2, 11 f. Ein besonderes Moment des n
Tode Christi sich vollziehenden allgemeinen Versöhnungsprocesses
ist nun eben das, was als der eigentliche praktische Zweck dieser
Briefe anzusehen ist, die Vereinigung der Juden und Heiden sa
einer und derselben religiösen Gemeinschaft Der Tod Christi iit
eine von Gott für den Zweck getroffene Veranstaltung, die Schei-
dewand zwischen Heiden und Juden aufzuheben und durch den
zwischen beiden gestifteten Frieden beide zusammen mit Gott m
versöhnen. Dem Judenthum ist sein absoluter Vorzug durch die
Beseitigung des mosaischen Gesetzes genommen. Indem so alle
nationalen Unterschiede und Gegensatze mit allem, was sonst in dea
verschiedenen Lebensverhaltnissen die Menschen von einander
trennt, im Christenthum vermittelst des Todes Christi aufgehoben
sind, stellt sich im Christenthum selbst ein neuer Mensch dar,
welcher den ihm noch anhangenden alten Menschen auch praktisch
immer mehr abzulegen hat Kol. 3, 9. Eph. 2,- 10. 15. 4, 2%
Beide , Heiden und Juden, sind so zu Emem Leibe vereinigt , mH
Gott versöhnt worden, beide haben in demselben Geist den Zutritt
zum Vater. Eph. 2, 16—18. Wie der Unterschied der Heiden und
Juden in der Einheit des neuen Menschen sich aufhebt, so stiebt
das Christenthum über Heidenthum und Judenthum als die absolute
Religion, oder wie der Epheserbrief 3, 5 f. die absolute Erhaben-^
heit des Christenthums beschreibt, als das vor Anfang der Weü
vorherbestimmte, über alles Andere unendlich hinausliegende, von
Ewigkeit her in Gott verborgene, den Menschen nie zuvor bekannt
gewordene, erst durch Christus verkündigte und durch den Geist
seinen Aposteln und Propheten geoffenbarte Mysterium. Ist das
Christenthum die absolute Religion, so verhalten sich Heidenthum
und Judenthum gleich negativ zu ihm, doch ist auch wieder von
einem gewissen Identitätsverhältniss zwischen Judenthum und
Christenthum die Rede. Wie der Hebraerbrief betrachtet auch der
IHe Briefe an die Epheser und Kolosser. 107
Kolosserbrief 2, 17 das A. T. als ein Schattenbild. Sind die Sats-
nngen der alttestamentlichen Religion nur ein Schattenbild des
Könfligen, während dagegen die wahre Wirklichkeit nur im Chri*
stenthum ist (ro triSfia rS Xp^gS)^ so wird zwar dadurch der alt--
testamentlichen Religion nur ein geringer Grad von Wahrheit und
Realität zuerkannt, da aber darin auch das Verhältniss von Bild und
Siehe lieget, so hat auch schon dieses Schwache und Unvollkommene
ab vorbildlich eine nähere Beziehung auf das Christenthum. In
diesem* Sinne sucht besonders der Kolosserbrief Analogien zwischen
Judenthum und Christenthum nachzuweisen. Dem Judenthum ist
zwar der absolute Anspruch, welchen es mit seinem Gebot derBe«
schneidung machte, genommen, aber dafär hat auch das Christen*
dimneine Beschneidung, wenn auch keine fleischliche, mit Menschen«
Minden gemachte, doch eine geistige, in der Ablegung des fleisch-
lichen Leibs bestehende, die Beschneidung Christi, die durch die
Taofe stattfindet, in welcher Christus die in der Vorhaut des Flei-
sches Todten dadurch lebendig macht, dass sie aller sinnlichen
Lüste und Begierden sich begebend, zu einem sittlich heiligen
Leben geweiht werden, 2, 11. Schon dadurch werden Judenthum
and Christenthum näher zusammengerückt und als an sich Eins
betrachtet Noch bestimmter geschieht diess Eph. 2, 1 1 f. Wenn
Mer von den Heiden gesagt wird , dass sie Vorhaut genannt von
der sogenannten fleischlichen Beschneidung in der ganzen Zeit des
Heidenthums ohne Christus, fern von der Bürgerschaft Israels und
ttnbekannt mit den Bundesverheissungen, ohne Hoffnung und ohne
Gott in der Welt gewesen, jetzt aber als die ehemals fem Stehen-
den nahe gekommen seien in dem Blute Christi, so ist hier nur von
emem Antheil die Rede, welchen die Heiden an dem, was die Ju-
den zuvor schon hatten, erhalten, und das Christenthum ist nicht die
tbsolnte, Heidenthum und Judenthum auf gleiche Weise in sich
^fhebende Religion, sondern der substanzielle Inhalt des Cbristen-
thims ist das Judenthum selbst, und es erweitert sich so nur das
Jadenthum im Universalismus des Christenthums durch den Tod
Quisti auch zu den Heiden. Wenn nun aber auch so betrachtet,
die Heiden, die erst nachher Hinzugekommenen undzurTheibahme
Uos Zugelassenen zu sein scheinen, so wird um so grösseres Ge-
wicht darauf gelegt, dass sie jetzt in den vollen Genuss des glei-
che Birgerrechts eingesetzt worden sind, sie sind die au/unoAir«*
108 Zweiter Absobnitt. Das Chrurtenthum als allgein. Heilsprinoip«
vmp aylfav mal oiuftot tS &iS, und der Verfasser des Epheser-
briefs kann diese völlige Gleichstellung der Heiden mit den Juden
nicht stark genug hervorheben, wenn er von den i^fi sagt, dass
sie ovyüKfiQQPoiAu »al avaawfia nal evfifihoxa Ttjg ina/yiliag ip t^
Xpig^ dtd tS ivay/€Xia seien C2, 19. 3, 6). Kann also auch den
Judenchristen die Priorität des Besitzes nicht abgesprochen wer-
den, so haben sie doch jetzt nichts mehr vor den Heidenchristen
voraus, und das Verhältniss beider ist ein ganz anderes, als es der
Verfasser der Apokalypse bestimmte, wenn er die Heiden zwar
auch von der messianischen Gemeinschaft nicht ausgeschlossen
wissen wollte, aber dieselben sich doch nur unter dem Rechtstitel der
alten zwölf Stämme Israels in die Zahl der berechtigten Mitglieder
der Gemeinde Gottes aufgenommen denken konnte (Apoc. 7, 4).
Die eigentliche Grundanschauung der beiden Briefe ist der Leib
Christi , in welchem beide Theile zu Einem Leibe werden sollen
CEph. 2, 16), das atSfia Xg^gS, als die christliche Kirche CI9 23),
in welcher Juden und Heiden zu einer und derselben Gemeinschaft
vereinigt sind. Im Bewusstsein der Macht* der Juden und Heiden
von einander trennenden Gegensätze und derNothwendigkeit ihrer
Aufhebung, wenn es überhaupt eine christliche Kirche geben soll,
wird mit allem Ernst und Nachdruck auf die Einheit der Kirche
gedrungen. Die Einheit ist das eigentliche Wesen der Kirche,
diese Einheit ist. mit allen zu ihr gehörenden Momenten durch das
Christenthum gegeben, es ist Ein Leib, Ein (reist. Ein Herr, Ein
Glaube, Eine Taufe u. s. w. Eph. 4, 4 f. Begründet aber wurde
diese Einheit durch den Tod Christi, in ihm hat die Feindschaft, die
Scheidewand, alles Positive, das beide trennte, ein Ende, Eph. 2,
14 f. Von diesem Punkte aus steigt die Anschauung höher hinauf,
bis dahin, wo der Grund aller Einheit liegt. Die einigende, eine
allgemeine Gemeinschaft stiftende Kraft des Todes Christi lässt sich
nur daraus begreifen , dass Christus überhaupt der alles tragende
und zusammenhaltende Centralpunkt des ganzen Universums ist
Je mehr das christliche Bewusstsein in der Anschauung der sich
constituirenden Kirche von dem absoluten Inhalt des Christenthnms
erfüllt ist , um so mehr hat es den Drang in sich , dieses Absolute
als ein überweltliches und überzeitliches anzuschauen. Die Chri«-
stologie der beiden Briefe hängt daher aufs Innigste zusammen mit
dem in der unmittelbaren Gegenwart gegebenen Bedürfniss der
Die Briefe an die Epheser und Koloster. 109
Einigung in der Idee der Einen, alle Unterschiede und Gegensätze
in sich aufhebenden Kirche. Es ist, wenn wir uns in die Anschau-
ungsweise dieser Briefe hineinversetzen, schon ein acht katho-
lisches Bewusstsein, das sich in ihnen ausspricht, und wenn wir
sie einerseits mit dem Hebraerbrief , andererseits mit den pseudo-
clementinischen Schriften zusammenstellen, so erhalten wir drei
verschiedene Grundanschauungen des Christenthnms, in welchen
dasselbe Streben nach Einheit seinen höchsten Ausdruck und dog-
matischen Anknüpfungspunkt zu finden sucht Was im Hebraer-
brief Christus als Hohepriester ist, ist er in den pseudoclementi-
nischen Schriften als der Prophet der Wahrheit, und im Epheser-
Qnd Kolosserbrief als das allgemeine Centralwesen des Univer-
sums, in jeder dieser Formen aber schaut das christliche Bewusst-
sein das Princip derselben Einheit an, deren Idee in den Gegen-
sätzen der verschiedenen einander gegenüberstehenden Parteien
sich verwirklichen sollte. Auch darin gibt sich die k)Eitholisirende
Tendenz der beiden Briefe an die Epheser und Kolosser deutlich
zu ericennen, dass in ihnen die Werke als die Bethätigung des
Sittlichen in einer sehr selbsständigen Bedeutung dem Glauben ge-
genübertreten. Der in dieselbe Kategorie gehörende Philipper-
brief hebt zwar 3, 9 diepaulinischeRechtfertigung durch den Glau-
ben im Gegensatz gegen die Gerechtigkeit aus dem Gesetz schein^
bar sehr nachdrücklich hervor , es geschieht aber nur auf ausser-
liehe Weise. Es ist nicht mehr das Interesse, den Glauben im Ge-
gensatz gegen die Werke überhaupt alis das Princip der Rechtfer-
tigung festzustellen. Im Epheser- und Kolosserbrief ist nur von
Sündenvergebung, Erlösung, Versöhnung die Rede, dem Glauben
wird es zugeschrieben, dass wir durch die Gnade erlöst sind, Eph.
2, 8, neben dem Glauben aber das Hauptgewicht auf die Werke
gelegt, die sogar schon in die Vorherbestimmung eingeschlossen
werden, Eph. 2, IQ. Je mehr in der transscendenten Christologie
dieser Briefe alles , was sich auf die Seligkeit des Menschen be«
zieht, über das zeitliche Dasein hinausliegt und an dem ewigen in
der Zeit sich verwirklichenden Rathschluss Gottes hängt, am so
mehr kann es auch nur als ein freies Geschenk der Gnade Gottes
angesehen werden. Die Gnade, ist das den Menschen durch den
Glauben an Christus neu schaffende Princip. Etwas Neues musa
nemhch der Mensch durch das Christenthum werden, es muss der
110 Zweiter Abschnitt Dm Christenthnm als allgem. Heilipriiioip.
alte Mensch ausgezogen und der neue angelogen werden, der ge*-
gen den vorigen ein Anderer ist, KoL 3, 9. Eph. 4, 21. f. Doch
erneuert sich im Menschen das Bild, nach welchem er Ursprünge
lieh von Gott geschaffen worden ist. Wie der Apostel Paulus den
Glauben als das die Einheit mit Christus vermittelnde Princip fest-
hält, so fassen diese Briefe vorzüglich die aus dem Glauben her-
vorgehende sittliche Vollendung des Menschen ins Auge , derei
Process in demselben Gegensatze des Todes und Lebens, welcher
in Christus sich darstellt, seinen Verlauf nimmt KoL 3, 1. f. ^>
Die vielfachen Anklänge an die Gnosls und ihre eigenthjun-
liehen Lehren, die sich in den drei Briefen an die Epheser, Kolosser
und Philipper finden, weisen ihnen von selbst ihre Stellung in der
nachapostolischen Zeit an, noch unmittelbarer und bestimmter aber
versetzen uns in die Zeit der häretischen Gnosis die Pastoralbriefe,
welche gleichfalls in der Reihe der von der paulinischen Seite aus-
gegangenen Einheitsbestrebungen ihre eigene Stelle einnehmen.
Sie gehören in eine Periode der Entwicklungsgeschichte der wer-
denden Kirche, in welcher die schon von den Häretikern drohende
Gefahr und der gegen sie nothwendig gewordene Widerstand dtf
Bedürfniss der Befestigung der kirchlichen Einheit, des engere
Zusammenschlusses der verschiedenen Glieder der kirchlichen Ge*
meinschaft und einer auf alle Verhältnisse des kirchlichen Lebeni
sich erstreckenden Organisation der Kirche sehr nahe legen musste.
Ihre Tendenz ist dieselbe , wie die der pseudoignatianischen Briefe
und der pseudoclementinischen Schriften, und da die Bestrebungen»
der Kirche eine feste, auf bestimmten Grundsätzen beruhende V«>*
fassung zu geben, ursprünglich von der judenchristlichen Partei
ausgegangen zu sein scheinen , so beurkunden die Pastoralbriefa
die auch von paulinischer Seite entgegenkommende Bereitwüligkeiti
für diesen Zweck mitzuwirken, indem sie ihrem Apostel Paulus eine
Reihe von Pastoralinstruktionen in den Mund legen, an die er selbst
noch nicht gedacht haben kann, deren Einschärfung aber jetzt auch
im paulinischen Interesse war 0*
Alle diese Einigungsbestrebungen liessen jedoch immer noch
I) Vergl. meinen Paalui S. 417* f* Sghweoler das nachapost. SSeital-
ter S« S. S95 f*
9) Vgl. meine Bchriflt: die sogen. Paatoralbriefe dei Ap. Pauliu I8$S«
Die Apostelgesehichte. IJl
etwas ziirflck, das nothwendig auch noch beseitigt werden musste,
wenn nicht das ganze durch sie zu Stande konunende Werk dess-
wegen wieder in sich zerfallen sollte, weil es auf keiner hinläng-
lich gesicherten Grundlage ruhte. Wie konnten Judenchristen und
H(»denchristen sich enger an einander anschliessen und in eine
nnd dieselbe religiöse und kirchliche Gemeinschaft zusammentre-
ten, wie konnte die^us ihrerVereinigung hervorgegangene christ-
liche Kirche selbst sich als eine auf den Grund der Apostel erbaute
betrachten, wenn sie das Bewusstsein in sich haben musste, dass
die beiden an der Spitze der beiden Hauptparteien stehenden Apo-
stel selbst so entgegengesetzte Ansichten und Grundsatze gehabt
haben, wenn man an sie nur mit der Erinnerung an einen zwischen
Urnen selbst stattgefundenen und nicht mehr ausgeglichenen Zwie-
spalt zurückdenken konnte? Es ist von selbst klar, dass alles,
• worüber Judenchristen und Heidenchristen sich mit einander ver-
■1 einigen mochten, seinen festen Haltpunkt erst dadurch erhielt, dass
' man das zwischen ihnen in der Wirklichkeit bestehende Verhalt-
( niss auch als ein von den beiden Aposteln selbst beabsichtigtes
k und durch ihr gegenseitiges Einverständniss begründetes voraus-
I setzen konnte. Diess ist der Punkt, auf welchem die Apostelge-
^ schichte nicht blos als schriftstellerisches Erzeugniss ihre Stelle
I tndet, sondern auch als selbststdndiges geschichtliches Moment in
i die Entwicklung dieser Verhaltnisse eingreift. Da sie, wie durch
i die neuesten Untersuchungen ^) unwidersprechlich dargethan ist,
I lücht als eine rein historische Schrift, sondern nur als eine, eine
r beistimmte Tendenz verfolgende Darstellung betrachtet werden
t kann, so kann ihr eigentlicher Zweck nur gewesen sein , die Lö-
i sang der Fragen, welche damals der Gegenstand des allgemeinsten
l. Zdtinteresses waren, auf den Punkt zurückzuführen, auf welchem
n es sich um die Stellung des Apostels Paulus zu den altern Aposteln
I bandelt Erscheint uns, wie wir von diesem Gesichtspunkt aus
I lücht anders urtheilen können , der ursprüngliche Paulinismus in
ibr nur in einer sehr modificirten Gestalt, so behauptet sie dagegen
ibren paulinischen Charakter um so entschiedener in zwei Punkten.
Es ist vor allem die universelle Bestimmung des Christenthums, das
i) lian vergl. Schhzckbmburoer über den Zweck der Apostelgetoliiehtt
ISili meinen Pmüiui H. 5« f. nnd die S. 60 genannte ZsLUBR*sohe Abhaadlung«
IIS Zweiter Abschnitt. Das Christenthum als allgem. Heilsprinoip.
Recht eines gesetzesfreien Heidenchristenthums neben dem Jaden-
christenthum, was sie als das Wesentliche und Principielle des Pauli-
nismus festhält Diesen Universalismus führt sie yon der Antwort,
welche sie denHermnoch vor der Himmelfahrt auf die Frage der Jün-
ger nach der Wiederherstellung des Reichs Israels geben lässt, indem
er sie auf die Verkündigung in Jerusalem und in ganz Jndäa und
Samaria und bis an die Enden der Erde verweist Ci? S)» bis za
der die Missionsthätigkeit des Apostels Paulus abschliessenden Er-
klärung desselben an die Juden , dass die Heilsbotschaft Gottes aa
die Heiden gesendet sei, die sie auch hören werden C28, 28), durch
alle Momente ihrer geschichtlichen Darstellung hindurch. Mit der-
selben Entschiedenheit macht sie auch die Bedingungen geltend,
ohne deren Anerkennung das Christenthum seine universelle Be-
stimmung nicht erfüllen konnte, indem sie es zwar den Jud«H
Christen überlasst, nach wie vor dem Gesetze unterworfen zu blei-
ben, die Heidenchristen dagegen davon frei spricht, und ihnen nur die
Verpflichtung auferlegt, sich der für die Judenchristen anstössig-
sten, einer gegenseitigen Vereinigung am meisten im Wege ste-
henden Gewohnheiten zu enthalten (15,28 f.). In diesen Mittelpunkl
ihres Paulinismus muss man sich hineinstellen, um von ihm aus dei
Zweck und Charakter der Apostelgeschichte richtig aufzufassen.
So wenig sie in den genannten beiden Punkten den pauUnischei .
Grundsätzen etwas vergiebt, so lax und nachgiebig ist sie dage-
gen in allem, was die Persönlichkeit des Apostels Paulus selbst be-
trifft Vergleicht man die Schilderung, welche die Apostelge-
schichte von seinem Charakter und Verhalten gibt, mit dem Bilde^
mit welchem sich uns seine Persönlichkeit in seinen eigenen Schrif-
ten darstellt, so ist nichts auffallender , als der so grosse Kontrast,
in welchem der Paulus der Apostelgeschichte zu dem Paulus der
paulinischen Briefe steht Und wie er nach der Apostelgeschichte
Zugestandnisse gegen die Judenchristen gemacht haben soll, welche
er nach den von ihm selbst aufs Entschiedenste ausgesprochenefl
Grundsätzen unmöglich gemacht haben kann, so begegnet uns die«*
selbe Erscheinung auf der entgegengesetzten Seite: auch den
Apostel Petrus lässt die Apostelgeschichte in einem Licht erschei-
nen , in welchem wir ihn als einen der Hauptrepräsentanten des
jerusalemischen Judenchristenthums nicht mehr zu erkennen im
Stande sind. Man kann daher für den nächsten Zweck der Apostel«
Die Apostelgeschichte. |J3
geschichte nur eine Parallelisirung' der beiden Apostel halten , in
welcher auf der einen Seite Petrus ebenso pauiinisch als auf der
andern Paulus petrinisch erscheinen soll. Schon in Ansehung der
Thaten und Schicksale findet auf beiden Seiten eine solche lieber-
einskimmung statt, dass es im ersten Theil der Apostelgeschichte
keine Art petrinischer Wunderwirkung gibt, welche nicht ihr ent-
sprechendes Gegenstück im zweiten hätte. Noch auffallender ist,
wie beide Theile in ihren Lehrvortragen und ihrer apostolischen
K Handlungsweise nicht nur mit einander übereinstimmen, sondern
IC soptr geradezu die Rollen mit einander vertauscht zu haben schei-
10. nen. Während man in den Reden des Apostels Paulus, neben der
e^ Verkündigung des Monotheismus im Gegensatz gegen den heid-
({• nischen Polytheismus und der Predigt von der Auferstehung und
igt der Messianitdt Jesu, von der Sinnesänderung und den guten Wer-
bfe ken, kaum in Einer Stelle Ci3, 38. f.) ein Wort über die eigent-
iri liehe paulinische Lehre vom Gesetz und von der Rechtfertigung
sat vernimmt, sprechen sich dagegen die altern Apostel, Petrus und
sl^ selbst Jakobus weit paulinischer aus. Es sei, sagt Petrus 15, 9,
pmi vor Gott kein Unterschied zwischen Juden und Heiden , denn auch
sk die Heiden, die Unreinen, werden durch den Glauben gereinigt,
isffl ernennt das Gesetz 15, 10 ein Joch, das weder sie selbst, noch
s(i0 ilire Väter zu tragen vermocht haben, er erklärt, dass die Juden
lagf' so g[ut wie die Heiden' nur durch die Gnade Christi selig werden
t k* köimen, dass überhaupt Gott ohne Ansehen der Person unter allen
elff Völkern jedem, der ihn fürchte und Gerechtigkeit in Werken übe,
Väk annehme, 15, 11. 10, 34. Sogar Jakobus bekennt sich zum pau-
M Ünischen Universalismus 15, 17. Nicht anders ist es mit dem son-
traft stigen Verhalten der beiden Apostel. Petrus soll selbst noch vor
i iß dem Auftreten des Paulus den ersten Heiden Kornelius unter Ge-
ickfc nehmigung der jerusalemischen Gemeinde getauft, Paulus dage-
slck gen selbst an Timotheus , dem Heidenchristen , aus Rücksicht auf
eoa seine jüdischen Volksgenossen die Beschneidung vollzogen, und
die* sich ulierhaupt als ein gesetzesfrommer Israelite benommen haben,
da der selbst unter den dringendsten Geschäften seines apostolischen
kl' Amts es nicht versäumt, die hergebfachte Reise nach Jerusalem
iß za machen, der Gelübde und Nasiräat übernimmt und zwar aus*
I ii dräcklich für den Zweck, die Verläumdung zu widerlegen, dass er
stel- Abfall vom Gesetz lehre, und die theokratischen Privilegien seines
B«ar« dit drti entan Jahrb. "
114 Zweiter Abschnitt. Dm Chnstenthnm ala allgem. Heilsprineip.
Volkes so hoch achtet, dass er von Anfang bis zu Ende immer sa-
nachst den Juden predigt, und nur durch ihren Unglauben and
durch göttliche Befehle gezwungen^ zu den Heiden sich wendet
Ja auch darin erscheinen die beiden Apostel einanderparallel, iu»
auch Petrus, wie Paulus, durch eine Vision mit demHeidenapostohl
beauftragt wird. Da sich alles diess nur aus einer absichtliches,
tendenzmässigen Veränderung des geschichtlichen Tfaatbestandtf
erklären lässt, und doch auch nicht blos für einen apologetischen,
nur auf die Person des Apostels Paulus sich beziehenden Zweck
geschehen sein kann, so ist die konciliatorische oder irenische
Tendenz der Apostelgeschichte nicht in Zweifel zu ziehen. Es soll
nicht blos die Person des Apostels Paulus gegen die Anklagen und
Vorurtheile der Judaisten gerechtfertigt, sondern auch in Betreff
des paulinischen Christenthums eine Verständigung mit ihnen an-
gebahnt werden. Für diesen Zweck sollte nicht nur Paulus und
seine Sache den Judenchristen empfohlen , sondern auch auf pait*
linischer Seite eine Auffassung des Christenthums und eine Vor-
stellung von dem Charakter und der Lehre des Paulus verbreitet
werden, welche den Paulinismus durch Beseitigung oder Verhüllung
seiner anstössigsten Seiten zu der von dem Verfasser angestrebten
Verbindung mit dem Judenchristenthum geeignet machte. Die
Apostelgeschichte ist daher der Friedensvorschlag eines PaulineM»
welcher die Anerkennung des Heidenchristenthums von Seite der
Judenchristen durch Zugeständnisse seiner Partei an den Judai^
mus erkaufen und in diesem Sinne auf beide Parteien wirken
wollte. Sie lässt uns somit in die auf ein katholisches Christenthmn
hinzielenden Bestrebungen jener Zeit sehr klar hineinblicken, i^
absichtlicher und planmässiger aber darauf hingearbeitet wurde,
um so weniger konnte ihrem Verfasser der Punkt entgehen, von
welchem die Erreichung des Ziels in letzter Beziehung noch alK
hing, dass eine Vereinigung der beiden Parteien faktisch nur ^
weit zu Stande kommen konnte, als sie sich in der Person der bei'
den Apostel der Möglichkeit ihrer Vereinigung bewusst geword^
waren. Diess ist die eigentliche Spitze der so tendenzmässigen
Darstellung der Apostelgeschichte, und es verdient in dieser Hin'
sieht noch besonders beachtet zu werden, wie sorgfältig sie dtf
Aufreizende, das die Geschichte ihres Apostels enthielt, auch aar
zu berühren vermied. Wie auffallend ist es, dass sie den an-*
Die Apostelgeichiclite. 115
ochenischen Conflikt, welchen die Clementinen noch in so gutem
Jidenken hatten, mit völligem Stillschweigen übergeht, den Titus,
en nach 6al. 2, 1. den jerusalemischen Christen zu so grossem
lüstoss gereichenden Begleiter des Apostels, auch nicht einmal
tantj und dagegen statt dieser beiden Scenen den Zwist mit Bar-
ihas erwähnt, wie wenn sie dadurch absichtlich die Aufmerk*
imkeit von der wichtigem Sache auf die minder wichtige ablen-
m wollte? Ist es doch, wie wenn sie selbst für die verweigerte
leschneidung des Titus einen Ersatz geben müsste, wenn sie dafür
hren Apostel um so bereitwilliger mit der Beschneidung des Ti-
neiheus den Juden entgegenkommen lässt! Sieht man hier nicht
lentlich das Bestreben, einen Schleier auf das Vergangene zu
irerfen, um es für die Zukunft in die Nacht der Vergessenheit zu
begraben? Wie angelegentlich lässt sie dagegen ihren Apostel
bei jeder Gelegenheit in Berührungen mit den altern Aposteln kom-
men, die nur die Meinung erwecken können, es habe zwischen
Sun und ihnen ein wahrhaft brüderliches Verhältniss stattgefun-
den? Dass man das, was sie geglaubt wissen wollte, in der Folge
tnch wirklich glaubte, und in diesem Glauben sich nicht mehr
im machen Hess, beweist, wie gut der Verfasser der Apostel-
geschichte seine Zeit verstand, und wie richtig er das in das
Aage fasste, was im gemeinsamen Interesse festgehalten werden
■isske ^>.
1) Wie der Verfasser der Apostelgeschichte die Einheitsbestrebnngen
Nfaier Zeit nur an die Person der beiden Apostel selbst anknüpfen zu kön-
Mi glinbte, 80 Hegt dasselbe Interesse der Erscheinang so mancher Briefe
m Qrande , die nur für pseudon jm apostolische gehalten werden können.
Da nichts in das allgemeine Bewusstsein übergehen konnte , was nicht auf
tpostolisoher Auktorität beruhte, so musste man alles, was ein besonderes
Zntinteresse hatte , auf einen apostolischen Namen zurückfähren , oder es
ifia Aposted selbst, zu dessen Partei man gehörte , in einem angeblich von
ibi geschriebenen Brief in den Mund legen. So gewiss daher so manche
hiriften jener Zeit Tendenzschriften sind, so natürlich ist ihr pseudonymer
Mbmkter. Dass aber in einer Zeit, die in so starken Gegens&tzen sich
Mwegte , 80 manche Schriften Tendenaschriften waren , ist gleichfalls sehr
itfUioli. Es ist diess ein wichtiges Moment, um die jener Zeit eigene
kieheinnng einer so ausgebreiteten Pseudonymen Literatur richtig zu yer-
Mmii, und das so beschränkte YomrtheU nicht zu theilen, welchem Pseu-
baymität und literarischer Betrag geradezu identische Begriffe sind. Man
8»
116 Zweiter Absolinitt Das Christenthnm ftli allgem. Heilipriiioip.
Es ist durchaus entweder die judenchrisiliche oder die pan-
linische Form des Bewusstseins, welche sich in den bisher charak-
terisirten Erscheinungen ausspricht, sie stellen sich von selbst
entweder auf die eine oder die andere Seite, und man kann nickt
im Zweifel darüber sein, aus welcher Richtung sie hervorgegan-
gen sind, und welche sie selbst nehmen. Anders verhält es sich
mit einer Klasse von Schriften, auf welche wir hier, ehe wir das
Ziel jener Einheitsbestrebungen weiter verfolgen, vorerst noch
einen Blick werfen müssen, den Schriften der sogenannten apo-
stolischJBn Vater, mit welchen wir hier auch noch Justin, den Mär-
tyrer, zusammen nehmen können. Die Frage nach dem Ursprung
und Charakter dieser Schriften ist bei den meisten, auch abge-
sehen von den Zweifeln an ihrer Aechtheit, neuestens sehr ver-
schieden beantwortet worden. Während Schweglkr sie am schärf-
sten auf alles, was sie Ebionitisches enthalten, angesehen hat,
und paulinische Elemente nur soweit zugibt, als sich zugleich
der Zweck einer Kapitulation zwischen den beiden Parteien an-
nehmen lässt, ist dagegen Ritschl in seiner Antithese gegen die
ScHWEGLER'sche Auffassuug des nachapostolischen Zeitalters sogar
so weit gegangen, dass er selbst den Hirten des Hermas und
Justin, den Märtyrer, zu der paulinischen Richtung zählt Aber
auch hier ist der Widerspruch Ritschl's gegen Schwegueb mebr
ein gesuchter als begründeter. Als Grundfehler der SchwechlibV
sehen Ansicht hebt Ritschl in Beziehung auf die beiden Briefe
des Clemens, welche Schwegler als paulinisch vermittelnde dar-
stellt, hervor, dass Schwegler die christliche Moral, welche ab
Wille Gottes oder als Gebot Jesu eingeschärft werde, vom nun
saischen Gesetz nicht zu unterscheiden wisse. Gegen die mora^
lisirende Richtung dieser Schriften trete freilich der acht paulini'
Tgl. Über diese Frage Schwegler , Nachapostolisches Zeitalter I. S« 79 ^
meinen Paulus S. 503, Theologische Jahrbücher 1844. S. 548.» BirscHby
Entstehung der altkatholischen Kirche S. 195 f. Am umfassendstoi «ni
gründlichsten hat sie Köstlin behandelt in der Abhandlung: Die pModo-
nyme Literatur der ältesten Kirche, ein Beitrag zur Geschichte der BildvDf
des Kanons, Theologische Jahrbücher 1851. S. 149 f. Bei keiner neateita-
mentlichen Schrift lässt sich ein b^timmter Tendenzcharakter so gvM
nachweisen, wie bei der Apostelgeschichte. Man vgl. hierüber besoodeis
die ZELLER'sche Abhandlung Theol. Jahrbücher 1850* S. 303 ^
Die Sdhriflen der apostoligohen Yftter. 117
{che Typus sehr zurück, aber das moralische Element sei weder
ras dem Alten Testament geschöpft, noch könne es auf die Juden-
shristen berechnet sein, welche nicht aus moralischen, sondern
ins theologischen und rituellen Rücksichten den Paulinem ge-
genüber standen. Die Abweichung yon dem ursprünglichen Typus
iet paulinischen Lehre sei vielmehr so zu erklaren, dass die pau-
Enische Richtung zu ihrer eigenen Erhaltung und Consolidation
der Aufstellung einer allgemeinen unmittelbaren Lebensnorm be-
jorfte, welche vom mosaischen Gesetz verschieden, aber den
gitäichen Eestandtheilen desselben entsprechend gewesen sei ^),
Wie wenn dasselbe nicht auch von der judenchristlichen Richtung
gesagt werden könnte! Hatte der Paulinismus das Bedürfniss,
eine allgemeinere, dem populären Bewusstsein zusagendere Lehr-
form aufzustellen, so konnte ja das gleiche Bedürfniss auch auf
der jadenchristlichen Seite stattfinden , und so gut man auf der
dnen Seite sich veranlasst sah, die paulinische Rechtfertigungs-
lehre in ihrer specifischen Form fallen zu lassen ^, konnte das-
selbe auch auf der andern mit der ursprünglich behaupteten Iden-
titit des Christenthums mit dem Mosaismus geschehen. Da das
Resultat immer dasselbe ist, ob man den Ausgangspunkt zur Be-
ortheilung dieser Schriften auf der einen oder der andern Seite
nimmt, so ist diess der deutlichste Beweis, dass sie überhaupt einen
iadifferenten, neutralisirenden, ausserlich vermittelnden Charakter
n sich tragen, was sie von einander unterscheidet, kann daher nur
nsch solchen Merkmalen bestimmt werden, an welchen sich eine
grössere oder geringere Hinneigung auf die eine oder die andere
i) A. a. O. S. 393.
2) Dass übrigens der Uebergang vom ursprünglichen Paulinismas zu
^iner mehr praktischen Form desselben in keinem Falle so ausserlich zu
denken ist, wie es Ritschl darstellt, dass, wenn auch die specifisch pau-
Iviiche Lehre von der Rechtfertigung und der totalen Aufhebung des Ge-
>^8 dogmaüsoh nirgends auf die Lftnge Eingang finden konnte, wie diess
^ deuteropaulinischen Briefe beweisen , doch der Paulinismus selbst auch
^ Element einer gesetzlichen Tendenz in sich hatte , und auch er in dem
^^bistenthum keine andere Religion anschaute, als diejenige, deren Zweck
^ Forderung die Erfüllung des Gesetzes ist, des vofioe überhaupt in der
Vergeistigung, die ihm schon Jesus gegeben hatte, darüber vgl. man die
^leffonto Bemerkungen Köstlui's in den theoL Jahrb. 1850. S. 36 t
IIS Zweiter Absclinitt. Das Chriitentham als allgem. Heilsprinoip.
Seite zu erkennen gibt Von diesem Gesichtspunkt aus stellen
sich der Brief des Barnabas und die pseudoignatianischen Briefe
am meisten auf die antijudenchristliche Seite. Der Brief des Bar-
nabas theilt mit dem Hebraerbrief die typisch-allegorische Ansiebt
von dem Verhaltniss des Judenthums und Christenthums, nur mit
dem Unterschied, dass er dieses Verhaltniss nicht sowohl nach
seiner objectiven als vielmehr nur nach der subjectiven Seite auf-
fasst Beide verhalten sich zu einander, wie Bild und Sache, die
Hauptsache ist aber das Bewusstsein dieses Verhältnisses. Das
Christenthum ist nicht sowohl das vollendete, zu seiner vollen Rea-
lität gekommene, als vielmehr das enthüllte, offenbar gewordene
Judenthum. Was im Judenthum unter der Hülle der Typen und
Allegorien verborgen lag, aber von Anfang an keine andere Be-
ziehung als auf das Christenthum hatte, ist nun dem Bewusstsein
aufgeschlossen und in seiner wahren Bedeutung als das erkannt,
was es an sich ist Daher ist das Christenthum selbst wesentlich
dieses Wissen, eine Gnosis in dem Sinne, in welchem mit diesem
Worte ganz besonders das durch die allegorische Erklärung ver*
mittelte Wissen bezeichnet wird. Auf dem objectiven Standpunkt
des Hebräerbriefs blickt die im Christenthum sich reaUsirende Idee
im Judenthum wenigstens wie in einem Schattenbilde durch, nach
der subjectiven Auffassungsweise des Briefs des Barnabas ver-
halten sich Judenthum und Christenthum nur wie Nichtwissen xni
Wissen. Moses hat so sehr nur im Geiste gesprochen, und seift
Ceremonialgesetz hat so sehr nur einen allegorischen Sinn, das^
das Gesetz für die Juden , weil sie es aus Unkunde dieses Sinnet
völlig missverstanden, im Grunde gar nicht existirte. Moses hat
zwar das Testament den Vätern gegeben, aber sie waren wegen
ihrer Sünden nicht würdig, es zu empfangen, desswegen hat Moses
die Gesetzestafeln zerbrochen, und wir sind es nun, die als Er-
ben der Juden das Testament Jesu erhalten, der dazu bestimmt
war, uns aus der Finstemiss zu erlösen und durch sein Wort in
das Testament einzusetzen CK. 14). Wie wenig die Beschneidung
die fleischliche Bedeutung haben sollte, die ihr die Juden geben,
ist daraus zu sehen, dass ja auch andere Völker, die Syrer, Ara-
ber, Aegyptier, alle Götzenpriester sich beschneiden, nur im gei-
stigen Hinblick auf Jesus hat Abraham die Beschneidung einge-
führt CK. 9> Indem nun alles diess , sobald es in seiner wahren
Der Brief deB Bamabas und die pfeadoignatiaiiiflclieii Briefe. 119
Bedeatnngf erkannt ist, yon selbst hinwegfällt, ist das Christen-
thum ein neues Gesetz, das ohne das Joch des Zwangs von dem
Menschen verlangt, dass er sich selbst Gott als Opfer darbringe
CK. 2> Ja, so nahe streift der Verfasser des Briefs schon an
die gnostische Degradirung des Judenthums, dass er, weil bei
den Juden in ihrem fleischlichen Sini^e anch die Mahnungen der
Propheten zu einer geistigen Auffassung völlig fruchtlos waren,
YOn einen bösen Engel spricht, welcher sie berückt habe CK. 9).
Hier also spricht sich das Bewusstsein des Neuen, erst im Christen-
iivff offenbar Gewordenen in einem dem Paulinismus wenigstens
lehr verwandten Sinne aus. In diesem Gegensatz zum Jadenthum
stehen dem Brief des Barnabas am nächsten die pseudoignatianischen
Briefe, deren Verfasser auch ausdrücklich in dem Apostel Paulus
sein Vorbild anerkennt, und das Christenthum selbst unter diesem
Namen in seiner Neuheit und Autonomie dem Judenthum entgegen
stellt Als Jünger Christi, ermahnt der Verfasser dieser Briefe,
warn man auch nach dem Christenthum (xara Xg&9T&apiafiop) le-
ben, wer mit einem andern Namen, als mit diesem, genannt wird,
gehört nicht Gott. Es ist widersprechend, Jesus Christus zu nen-
Ben und noch dem Judenthum anzuhängen, denn der Christianis-
vm hat nicht an den Judaismus geglaubt, sondern der Judaismus
an den Christianismus. Das Wahre des Judenthums gehörte vor-
ms schrni nicht dem Judenthum, sondern dem Christenthum an,
wie die Propheten des Alten Testaments, und die schon vor Chri-
stas auf seine Ankunft hoffenden Juden waren schon damals nicht
mehr Juden, sondern Christen. So entschieden antijüdisch ist die
Tendenz des Verfassers dieser Briefe, dass er, um alles Jüdische
ins der christlichen Gemeinschaft zu entfernen, und den Unter-
schied auch äusserlich zu fixiren, keinen andern Namen gelten
lassen will, als Xpitmapot, X^ianapurftog ^y Wie er ungeachtet
dieses völligen Bruchs mit allem Jüdischen auf die Begründung
^er katholischen Kirche unter Formen hinarbeitete, in welchen
die Heidenchristen nur an die Judenchristen sich anschliessen
konnten, ist eine andere an einem andern Orte in Betracht kom-
mende Seite dieser Briefe. Hier ist es uns zunächst nur um den
1) Vgl. meine Abhandlung über den Ursprung des Episkopats 8. 179 f*
KcBwBGLEB, Naohapostollsohes Zeitalter 3. 8. 163 t
1)10 Zweiter Abtolmitt. Dm Christentham als allgem. HeÜBprinoip.
antijüdischen Charakter zu thun, durch welchen sich insbesondere
auch diese Briefe von den übrigen Schriften derselben Klasse un-
terscheiden. Doch fehlt es auch in dem ersten Briefe des Ci«Bia»8
an die Korinthier und in dem Briefe Polykarps nicht an Anklan-
gen, an den Paulinismus. Es ist bemerkenswerth , wie Clemens
nicht nur die beiden Apostel, Petrus und Paulus, zusammen nennt,
sondern den Ruhm des letztern den des erstem sogar noch über-
strahlen lasst CK. 5). Und im Briefe Polykarps wird der selige
und glorreiche Paulus, dessen Weisheit kein Anderer nachfolgen
kann, der die Philipper durch seine eigene Gegenwart im Warte
der Wahrheit genau und fest unterrichtete und auch abwesend
Briefe an sie schrieb, welche die, die sie lesen, in dem Glauben
erbauen können, welcher die Mutter von allen ist, so gepries^
dass über den paulinischen Charakter dieser Schriften, wenn ei
bloss darnach zu beurtheilen wäre , kein Zweifel sein könnte. Be-
trachtet man aber den Lehrcharakter dieser Schriften, so stimmen
sie nicht nur unter sich, sondern auch mit dem Hirten des Hermas
so überein, dass die Differenzen der beiden Richtungen, der pau-
linischen und der judenchristlichen, sich schon ganz an einander
abgerieben zu haben scheinen, um sich in eine neutrale Lehrfonn
aufzulösen, in welcher Glaube und Werke unvermittelt neben ein-
ander stehen 0- Wie die ignatianischen Briefe die Liebe sogar
noch über den Glauben stellen, so versichert der erste Brief des
Clemens auf der einen Seite zwar, dass wir nicht durch uns selbst
gerechtfertigt werden, noch durch unsere Weisheit, Einsicht,
Frömmigkeit, oder durch Werke, die wir in der Heiligkeit des
Herzens vollbracht haben, auf der andern Seite aber ermahnt er
ebenso sehr, nicht müde zu werden im Gutesthun und es an der
Liebe nichts fehlen zu lassen, sondern mit Eifer und Willigkeit
jedes gute Werk zu vollbringen, und in dem Werke der Gerech-
tigkeit den göttlichen Willen zu befolgen, und der Brief Poly-
karps setzt die Erbauung in den Glauben, welchem, als der Mutter
von allen, die Hoffnung nachfolgt und die Liebe vorangeht 0. Es
1) Vgl. KösTLiN a. a. O. S. 247 f., wo besonders anch das Intercflse
ftlr das Gesetz und die alttestamentliche Offenbarung als cbarakteristiflcb
hervorgehoben wird.
2) Vgl« ScHWüGLEB a. a. 0. S..129. 157« i68.
Der Hirte des Hermafl. - |S1
igt nur ein weiterer Schritt in dieser Richtung auf das Praktische,
wenn, wie diess namentlich auch in dem Fragment des zweiten
Briefs des Clemens geschieht, das Hauptgewicht immer mehr auf
das sittliche Handeln, als die Befolgung der Gebote Gottes oder
Christi gelegt, und zuletzt, wie im Hirten des Hermas, der Glaube
selbst als Gebot aufgefasst wird. Der erste und oberste Artikel
der Gebote, welche der Hirte dem Hermas mitUieilt, die Summe
des ganzen Christenthums, ist der Glaube an Einen Gott, der alles
geschaffen hat, woran sich nur die Forderung anschliessen kann,
den Willen Gottes zu befolgen. Bedenkt man, wie sehr diess mit
dem paulinischen Begriff des Glaubens contrastirt, so ist schon
dadurch die Behauptung widerlegt, eine Schrift, wie der Hirte des
Hermas, könne nur einem gegen das Judenthum selbststdndigen
Kreise des Christenthums, somit dem paulinischen, angehören,
weil ja weder das Gesetz Christi, in welchem die mandata zusam-
nen zu fassen seien, für identisch mit dem mosaischen erklart
werde, noch dasselbe die specifisch judenchristlichen Pflichten,
weder die Beschneidung für die Juden, noch die Proselytenge-
setze für die gebornen Heiden, enthalte. Gerade an einer sol*
chen Schrift ist am deutlichsten zu sehen, wie auch das Judenchri*
stenthum von seiner Seite den Trieb in sich hatte, durch Abstrei-
fang seines specifischen Charakters in die katholisirende Mitte ein-
«denken, in welcher die beiden Richtungen durch Hervorhebung
des sittlichen Handekis, und die Gleichstellung der Werke mit
dem Glauben sich gegen einander ausgleichen. Und je mehr wir
den Verfasser der Schrift in die Anschauung der Kirche, deren
tGht katholische Idee seiner ganzen Darstellung zu Grunde liegt,
Ach vertiefen sehen, um so mehr muss er auch das Praktische,
das den Hauptinhalt seiner Schrift ausmacht , als die wesentliche
Bedingung der sich vollendenden Einheit der Kirche betrachtet
kaben 0-
1) Obgleich der Hirte des Hermas nicht aus dem Paalinismus, sondern
^^ aus dem Judenchristenthmn hervorgegangen sein kann , ist ihm doch
^ Judenthiun dem Ghristentham so untergeordnet, dass er auch die Ge-
'Mhten des Alten Testaments, erst nachdem sie durch die Apostel und £yan-
S^ligten in der Unterwelt getauft sind, in das Reich Gottes eintreten Iftsst
(Sinul. 9, 16). Die Thätigkeit Christi setzt er zwar nur in die Gesetzge-
b^g (Simil. 5, 5. 8, 3.) , und die MögUchkeit der SOndenydrgebung in die
IM Zweiter Abschnitt Das Christenthnm als allgem. Heilsprindp.
Wie alle diese Schriften mehr oder minder die Elemente ent-
halten, aus welchen das katholische Christenthnm hervorgegan-
gen ist, so gibt es keinen treueren Repräsentanten dieser lieber^
gangsperiode , als Justin den Märtyrer, welcher auf der einen
Seite den apostolischen Vätern ebenso nahe steht, als auf der
andern den katholischen Kirchenlehrern. Auch er sieht, wie der
Verfasser des Briefs des Barnabas, im Christenthnm ein nenei
Gesetz, und zwar gleichfalls aus dem Grunde, weil die Juden
die Ceremonialgesetze und religiösen Institute, welche das eigent-
liche Wesen des Judenthums ausmachen, so sehr fleischlich misi-
verstanden haben, dass erst mit dem Christenthnm das wahre
Verstdndniss derselben gekommen ist 0- Die Beschneidung hatte
nicht den fleischlichen Sinn, in welchem die Juden sie nahmen,
sondern sie ist nur von der geistigen Beschneidung zu verstehen,
durch welche die Vorhaut des Herzens hinweggenommen wnil.
Diese geistige Beschneidung hatten schon die Patriarchen, und die
Christen empfangen sie jetzt durch die Taufe, in welcher sietb
Sünder durch die Barmherzigkeit Gottes Vergebung der Sünden
erhalten ^. So hatte überhaupt alles Andere dieser Art, wie die
Sabbath- und Festfeier, die Speiseverbote, die Opfer und der Tem-
peldienst, nur eine geistige, auf das Christenthnm sich beziehende
Bedeutung, die Bestimmung aller dieser Einrichtungen war daher
eine blos vorübergehende, sie waren nur wegen der Heneaih
härtigkeit des Volks gegeben, und sollten nur dazu dienen, dem
Volke wenigstens auf diese ausserliche Weise den Gedanken •&
Gott nahe zu legen. Dass sie keinen wahren innem religiösen
Werth haben, ist am deutlichsten daraus zu sehen, dass sie snr
Zeit der Patriarchen noch nicht vorhanden waren, die Patriarchen
somit ohne sie das Wohlgefallen Gottes erlangt haben, wie ja
Abraham nicht wegen der Beschneidung, sondern wegen seines
Glaubens von Gott das Zeugniss der Gerechtigkeit erhielt. Dt
Gott immer derselbe ist, zuf Zeit des Mose kein anderer als zur
Macht und Gnade Gottes überhaupt (Mand. 4, 4.), aber er spricht and
davon, dass Jesus die Sünden des Volks abolevit, delevit (Sim. 5, 6)« ^
Jndenchristentham hat sich in ihm , wie auch seine hohe Idee Ton der
Kirche beweist, schon ssu einem katholisirenden Christenthnm erweitert
1) Dial. cum lud. Tr. c. 14*
2) A. a. 0. c. 43.
Justin, der MRrtyrer. 193
ßit Henochs, so können alle diese Einrichtungen der jfldischen
eligion nur eine periodische Bestimmung gehabt haben ^;). Die
eschneidung setzt Justin sogar so tief herab, dass er sie für das
eichen erklärt, an welchem die Juden unter allen andern Yöl-
ero als diejenigen haben kenntlich gemacht werden sollen, welche
las, was ihnen von Andern widerfährt, mit Recht leiden. Je
nehr, wie schon hieraus erhellt und für Justin überhaupt charak-
eristisch ist, alles, was im Judenthum eine religiöse Bedeutung
Ikitte, in seiner Anschauungsweise in Weissagungen, Typen, Al-
legorien sich auflöste, die nur vom Standpunkt des Christenthums
ns als das, was sie an sich waren, erkannt werden konnten, um
80 abstossender verhielt sich zwar sein religiöses Bewusstsein
zun Judenthum, um so mehr blieb es dagegen auch dem Alten
Testament zugekehrt, indem sich ihm der reichere, tiefere Inhalt
seines christlichen Bewusstseins doch nur am Alten Testament
dorch die Erkenntniss seines prophetischen und allegorischen Sin-
nes aufschliessen konnte. Bei aller Verwandtschaft mit dem Pau-
linismus ist diese Stellung zum Alten Testament eine wesentlich
andere als die paulinische , sie charakterisirt sich durch das ale-
imdrinische Element, durch welches schon im Hebräerbrief der
Pnilimsmus auf eigenthümliche Weise modificirt worden ist Je
grösseres Gewicht, wie diess zum Charakter des alexandrinischen
Jidenthums gehört, auf die typische, symbolische, allegorische
Anffassungsweise des Alten Testaments gelegt wird , um so mehr
Ueibt auch das Alte Testament die absolute Quelle der Wahrheit
So sehr daher auch das Judenthum gegen das Christenthum herab-
gesetzt und der Unterschied beider in seiner ganzen Weite her-
i) Justin unterscheidet drei Bestandtheile des Alten Testaments, einen
sHtHchen, einen typischen und einen rein positiven. Niemand kann, sagt
vDial. c. 44., von den durch Christus gegebenen Gütern etwas erhalten,
VttKr denen, welche in ihrer Gesinnung dem Glauben Abrahams gleichen
^d alle Mysterien wissen, X/yw Si^ on tU fü» ivrolt) tif deoaifiitav nal
onmon^aSiav iisritanto , %U 3h irroi^ uai ngo^tc oftoiwf tl'gtjro , tj eii
^nn-iJ^AOr rS X^tarSt i} S&d t6 anXtiQonaQSiov xh laa vfiöiv. Den sittlichen
^alt des Alten Testaments nennt Justin ra (pvast xakd xal tvasßij nal
0<xaia, oder rd na^oXa nal qtvast nal aiojvta naXd, K. 45., eben diess ist
^ Hauptinhalt der patriarohalischen Beligion , im Unterschied daron sind
^e jt|9c anktufona^iu» tS Xai 9wia%9ivta das rdn PontiTe.
194 Zweiter Absclinitt. Dm Christenthom als allgem. Heilsprinoip.
vorgeboben wird, so überwiegend ist von diesem Standpunkt aas
immer wieder das Interesse, die Identität des Christenthoms mit
der alttestamentlichen Religion festzuhalten. Während der Pau-*
linismus den absoluten Inhalt des Christenthums unmittelbar in s\A
selbst hat, in dem durch den Glauben geweckten geistigen Bewußt-
sein, für welches alles Alttestamentliche nur «ine sehr secundire
Bedeutung haben kann, verliert sich dagegen jene andere Ansickt
so sehr in die alttestamentliche Anschauungsweise , dass ihr auck
die Wahrheit des Christenthums nur durch das A. T. vermittelt
wird, alles Christliche ist schon im A. T. zu finden und das Nene
des Christenthums ist nur die Neuheit des über den Inhalt des L
T. aufgegangenen Bewusstseins. Der absolute Gegensatz, welchen
der Paulinismus zwischen Gesetz und Evangelium aufteilte, wurde
so mehr und mehr ein blos relativer und subjectiver. Solange mm
jedoch über die auch nur periodische Bedeutung des geschichtli-
chen Judenthums nichts Anderes zu sagen weiss, als bei Justin der
Fall ist, bleibt diese Ansicht noch eine sehr schwankende, und
wenn auch schon bei Justin die Idee sich findet, durch welche dtf
Verhältniss des Christenthums zur alttestamentlichen Offenbarung
bestimmter fixirt wurde , die hauptsachlich auch dadurch in Be-
wegung gekommene Logosidee, so ist doch auch diess noeh ein
blosser Anknüpfungspunkt. Dieser Mangel an einer strengeren
Fixirung des christlicheh Bewusstseins, welcher überhaupt die
Stellung Justins noch so schwankend und unsicher macht, drüd[t
sich auch in seinem Urtheil über die Judenchristen seiner Zeit am
Nach seiner geringen Vorstellung vom Judenthum sollte man er^
warten, dass er auch über solche, welche als Christen nicht sowoU
Christen als Juden waren, strenger urtheilen werde. Er will aber
auch denen, welche zwar an Christus glauben, aber dabei zugleich
das mosaische Gesetz beobachten, die Hoffnung der Seligkeit nicht
absprechen, wofern sie nur nicht auch die Heidenchristen daxn
zwingen wollen, und er missbilligt es bloss, dass es auch Juden-
christen gibt, welche mit Heidenchristen in keiner Lebensgemein-
schaft stehen wollen. Bei denen aber, welche wegen der Schwach-
heit ihrer Ansicht auch alles das , was Moses wegen der Herzens-
härtigkeit des Volkes angeordnet hat , mit der Hoffnung auf Chri-^
stus und der Beobachtung der Gebote der ewigen und natürlichen
Gerechtigkeit verbinden zu müssen glauben , so jedoch , dass sio
Justin, der liftrtyrer. 185
it den Christen zusammenleben , ohne von ihnen zu verlangen,
HBS auch sie sich beschneiden lassen und die Sabbathe und Ande-
» dergleichen beobachten, hat er kein Bedenken, sie als ächte
rüder der christlichen Gemeinschaft anzuerkennen 0* So frei-
innig diese Ansicht gegen das Judenthum ist, so sehr wird dieses
iOb durch die Strenge geschwächt, mit welcher Justin auf der an-
lern Seite alles von sich ausschliesst, was nicht mit seiner Ansicht
Übereinstimmt Die freiere paulinische Ansicht von dem Genüsse
des Götzenopferfleisches ist so wenig in seinem Sinn , dass er ihn
Ür ebenso verabscheuungswürdig erklärt, wie das Heidenthum,
nd mit allen, die sich denselben erlauben, in keiner Art christ-
licher Gemeinschaft stehen will 0* Obgleich dieses Urtheil zu-
Blchst nicht gegen paulinische Christen, sondern nur gegen Gno-
stiker gerichtet ist, so ist doch aus der Allgemeinheit, mit welcher
es aasgesprochen ist, und aus dem Kontrast, in welchem es zu dem
Urtheil über die Judenchristen steht, zu sehen, dass bei Justin das
letste entscheidende Monfent immer eher auf die Seite des Juden-
diristenthums als die des paulinischen Christenthums fällt Im
Uebrigen stellt sich uns auch bei Justin ganz derselbe Lehrtypus
dir, welcher nun schon als der allgemeinste Ausdruck des christ-
lichen Bewusstseins anzusehen ist Christus hat zwar den von al-
Imi Menschen durch die Gesetzesübertretung verschuldeten Fluch
nach dem Willen Gottes auf sich genommen und die an ihn Glau-
benden durch sein Blut gereinigt, aber die Bedingung der Sunden-
vergebung ist nicht der Glaube im paulinischen Sinn, sondern Reue,
Sinnesänderung, die Befolgung der göttlichen Gebote , worauf als
lue Bethätigung der eigenen . sittlichen Kraft des Menschen Justin
mit besonderem Nachdruck dringt 0- Christus ist daher nicht so-
W(dd Erlöser, als vielmehr Lehrer und Gesetzgeber, wie er auch
luidräcklich von Justin genannt wird ^y Nach allem diesem be-
<l«rf die Frage , ob Justin der judenchristlichen oder der paulini*
sehen Richtung angehört, sein dogmatischer Standpunkt als Ebio-
^mus oder Paulinismus zu bezeichnen ist, keiner weiteren Be-
1) A. a. 0. K 47.
t) A. a. 0. K« 35.
3) Yergl. Bitschl a. a. 0. S. 310 f.
4) *0 natvuf vQfM&injft DiaL e; 18<
Iji6 Zweiter Abscbnitt. Dm ChrUtentlmm als allgem. Heilsprinoip.
antwortung. Er kann mit Entschiedenheit weder auf die einenock
auf die andere Seite gestellt werden, da seine Stellung überhauirt
noch zu unbestimmt und unsicher ist, als dass sie genauer fixirt
werden könnte. Er unterscheidet sich selbst von den Judenchri-
sten und erklart sich mit ihnen mehr äusserlich als innerlich ein*
verstanden, noch weit mehr aber vermisst man bei ihm eme aus-
drückliche Anerkennung des paulinischenChristenthums, und wenn,
wie behauptet wird, kein Zweifel darüber sein kann, dass er seine
Ansicht vom Glauben Abrahams aus dem Römerbrief entlehnt hat
und durch die Hervorhebung der Glaubensgerechtigkeit überhaiq)t
als Fauliner sich darstellen will O9 so muss nur um so mehr auf-
fallen, dass sogar der Name des Apostels Paulus von ihm nicht ein-
mal genannt worden ist, was sich doch aus einer blossen Rick-
sicht auf die Juden nicht erklären lasst. Wenn er also auch der
Sache nach Pauliner ist, so will er es doch dem Namen nach nickt
sein, und es ist so überhaupt bei ihm nur noch nicht ausgesprochen
und offen erklärt, was gleichwohl der Sache nach schon vorhanden
ist, das katholische Christenthum mit der Ausgleichung der Diffe-
renzen und Parteirichtungen, welche bisher einander noch gegen-
überstanden. Es begegnet uns hier im Grunde dieselbe Erschei-
nung wie bei der Frage nach den Evangelien Justins. Ist auch kein Zwei-
fel darüber, dass Justin das eine oder andere unserer kanonischen
Evangelien schon kannte, so hat er doch keines genannt, die Sacke
ist also zwar da , aber es fehlt noch der Ausdruck und Name iSr
sie, und so lange es daran noch fehlt, ist auch noch nicht alles so
festgestellt und abgegrenzt, wie es der Begriff des kathoIisdiOt
Christenthums erfordert, es ist somit jn Justin immer noch erst der
Uebergang zu demselben.
Wie dieser Uebergang vollends geschah, ist nun noch zu se-
hen. Blicken wir auf den Anfangspunkt zurück, von welckem urir
ausgegangen sind , so war es nicht nur der Gegensatz zweier we-
sentlich verschiedener Richtungen, sondern auch derZwiesptdtder
beiden an der Spitze derselben stehenden Apostel, welcherajofdea
Gang der Entwicklung bestimmend einwirkte. Die beiden Rich^
tungen haben sich allmählig einander genähert, die ursprüngliche
Schärfe des Gegensatzes hat nachgelassen, von beiden Seiten strebte
1) Yergl. BiTscBL a. a. 0. S. S09«
Petnu ond Paolos. 1S7
flifln nach einer die Gegensätze so viel möglich vereinigenden Mitte,
wie aber die im Streit von einander geschiedenen Apostel sich wie-
der versöhnt und mit einander verständigt haben , ist noch unge-
wiss, und doch fehlt es an einer festen Grundlage für die Verei-
aigung der beiden Parteien und einer Bürgschaft für die bestehende
kirchliche Einheit, wenn man nicht die Gewissheit haben kann,
dass die Stifter der Kirche selbst sich wieder die Hand zum Frie*
den gereicht und sich gegenseitig als Brüder anerkannt haben«
Aach darüber konnte, man nicht im Zweifel bleiben, und dass jeder
Zweifel, der hierüber noch stattfinden mochte , gerade zu der Zeit
Terschwand, in welcher die katholische Kirche in ihren Hauptre-
(NTäsentanten vollends ins Dasein trat , ist der deutlichste Beweis
dafür, dass eben diess der Hauptpunkt war, in welchem sie zu ihrem
Abschluss kam. Bei Irenäus finden wir es zuerst als eine schon zur
stehenden Thatsache gewordene Wahrheit ausgesprochen, dass die
grösste und älteste und allgemein bekannte römische Kirche von
den beiden glorreichsten Apostehi begründet und gestiftet worden O9
und Tertullian preist dieselbe Kirche glücklich , cui totam doctri-
nara apostoli cum sanguine suo profuderunt, ubi Petrus passionidu-
minicae adaequatur, ubi Paulus Joliannis exitu coronatur 0* Seit^
dem ist bei Irenäus und Tertullian , bei Clemens von Alexandrien
ond Origenes, bei allen Kirchenlehrern jener Zeit, deren voll-
kommene Uebereinstimmung in der Lehre und Tradition und in al-
len Grundsätzen des kirchlichen Wirkens die schon thatsächlich
bestehende katholische Kirche bezeugt, jede Erinnerung an einen
Zwiespalt der beiden Apostel und an eine zwischen ihnen getheilte
Ansicht völlig verschwunden, die Auktorität des Einen steht so fest,
wie die des Andern, und wie überhaupt um jene Zeit auch der Ka-
non der neutestamentlichen Schriften, als die wesentliche Grund-
lage der sich konstituirenden katholischen Kirche, allmählig sich
feststellt, so sind es insbesondere die Schriften des Apostels Paii-
1ns, über deren kanonischen Charakter am wenigsten ein Zweifiri
ist. Diese Gleichstellung der beiden Apostel ist nicht mehr ein
Uos angestrebtes Ziel, wie sie es noch für den Verfasser der Apo-
stelgeschichte war, es ist nun in der Wirklichkeit erreicht, was er
1) Adv. her. 3» 3«
2) De priMer. her» c. $6,
198 Zweiter Absclinitt. Das Christenthum als allgem. Heilsprincip.
im Auge hatte , und in den allgemeinen Glauben der Kirche über-
gegangen, was schon damals als eine nothwendige Voraussetzung
der sich realisirenden Idee der Kirche erschien. In der röraischoi
Kirche selbst galt es als geschichtliche Tradition , dass die beiden
Apostel in Rom den gemeinschaftlichen Märtyrertod erlitten haben
und schon zur Zeit des römischen Presbyter Cajus, zu Anfang des
dritten Jahrhunderts, zeigte man die Orte, wo sie als Märtyrer ge-
storben waren und begraben lagen 0- Hätten wir nun hierin eine
rein geschichtliche Thatsache , so hätten wir auch nur bei ihrer
einfachen geschichtlichen Wahrheit stehen zu bleiben , da aber die
Sage nach Inhalt und Form alle geschichtliche Wahrscheinlichkeit
gegen sich hat, da mit gutem Grunde sogar bezweifelt werden
muss, ob Petrus jemals auch nur nach Rom gekommen ist, so hat
die Sage ihre geschichtliche Bedeutung eben nur in ihrer Unge-
schichtlichkeit, da eine so wenig auf einem geschichtlichen Grunde
beruhende Tradition nur aus einem besonderen Interesse entstanden
sein kann •)• Welcher Art dieses Interesse war , bedarf nach al-
lem, wovon schon die Rede war, keiner weitem Erörterung
Man wollte die beiden Apostel so nahe als möglich zusammen-
bringen, jeder von beiden sollte das Verdienst und den Ruhm des
Andern theilen, und wie sie im Leben harmonisch zusammenge-
wirkt hatten, so sollte auch ihr Tod das brüderlich Gemeinsame
ihres apostolischen Laufs bezeugen und versiegeln. Wir dürfen
nur den Spuren der sich bildenden Sage nachgehen, um zu sehen,
wie sie sich bemühte, die Hindemisse zu beseitigen, welche dem
beabsichtigten Resultat im Wege standen. Merkwürdige Data enthal-
ten in dieser Beziehung besonders die beiden petrinischen Briefe. Man
erwäge nur, wie^der Verfasser des zweiten Briefs, welcher nicht
nur entschieden unächt, sondern auch eine der spätesten Schriften
des Kanons ist, den Apostel Petrus am Schlüsse seines Schreibens
von dem Apostel Paulus als seinem geliebten Bruder sprechen
lässt, welcher nach der ihm verliehenen Weisheit über deii Gegen-
stand, von welchem hier die Rede ist, die bevorstehende Katastrophe»
in demselben Sinne geschrieben habe, so wie auch in sämmtlichen
Briefen, wenn er von diesen Dingen redet, in welchen ^ einiges
1) Bus. K.G. 2t 25.
2) Vergl. meinen Paulas S. 232 f*
3) Es ist sEwar zweifelhaft, ob 1 Petr. 3) 16« iv ats oä^ iv o««Aale-
Petras und Paolos. 189
»chwerverstandliche sei , das die Ungelehrigen und Unbefestigten
verdrehen, wie sie diess auch bei den übrigen Schriften thun, zu
hrem eigenen Verderben C3, 15. f.). Wie brüderlich wird schon
der der Apostel Paulus als Apostel anerkannt, und wie sehr lässt
9ft sich sein apostolischer Mitbruder angelegen sein , dem Vorur-
iheil, das man noch gegen die Briefe des Apostels haben mochte,
md den Missdeutungen, welchen sie ausgesetzt waren, zu begeg-
nen, ja, es werden die Briefe des Apostels hier sogar schon
in Einer Reihe mit den kanonischen Schriften* aufgeführt! Sehen
wir auch von andern Merkmalen einer vermittebiden Tendenz, die
mn m dem Briefe finden kann, ab, so kann doch gewiss bei einem
ii 80 unmittelbarer Beziehung auf den Apostel Paulus ausgestellten
Zeogniss seiner apostolischen Beglaubigung nur eine bestimmte
Absicht vorausgesetzt werden. Es ist darin nur ausgesprochen,
was schon längst im Sinne der überwiegenden Mehrheit liegen
mosste, dass man keine Ursache habe, dem Apostel die Anerken-
ining zu verweigern, auf welche er durch seine Schriften und die
ginze Erinnerung an sein apostolisches Wirken den gerechtesten
Anspruch zu machen hatte 0* Gibt sich doch dieselbe Tendenz
loch schon im ersten petnnischen Briefe zu erkennen , und zwar
in demselben Vcrhältniss um so wahrscheinlicher, je unwahrschein-
licher der apostolische Ursprung auch dieses Briefes ist Kann der
Apostel Petrus unmöglich einen nach dem allgemeinen Urtheil so
piulinisirenden und so auffallend von den Briefen des Apostels Pau-
los abhängigen Brief geschrieben haben, so kann auch dieser Brief
Bor als ein neues Dokument des Bestrebens angesehen werden,
<ias Einverstandniss der beiden Apostel thatsächlich an den Tag zu
legen. Eben darauf zielt auch die ausdrückliche Angabe am
*^ ist, liest man aber auch »V oic, so können, wie aus dem folgenden cJc
*«• raff loiTTiig ygagds zu sehen ist, die Dinge, auf die sich das Relativ
Meht, nur in dem Sinne gemeint sein, in welchem in den Briefen des
Vwtds Paulus von ihnen die Rede ist, so dass auch die SvavofjTa nur auf
^ Briefe des Apostels gehen können. Uebrigens ziehen die neuesten Kri-
^iUr die Lesart i» aU Yor.
i) Mitapostel des Petrus ist nun das höchste officielle Prftdioat, das
^ Apostel Paulus von petrinischer Seite gegeben wird. So z. B. in den apost.
^Wtit. 6» 8y wo Petrus Yon Clemens, dem 'Fuj/naituv inianonos rs nal nokirijs,
^^ er sei fAa^tjTtv&elQ tutl IlavJUj» (nicht blos des Petrus, sondern auch
^ PanluB Schüler)» t^ 9vvan90v6l^ ^/ucuy mal 9vv§^yi^ tv x^ svayytXi^f.
Bftur, die drei ersten Jahrh. ^
130 Zweiter Abschnitt Das Cfaxistentham als allgem. Heilsprincip.
Schlüsse des Briefes CS, 12) hin, er sei durch den treuen Bruder
Silvanus geschrieben worden. Es ist ganz in der Art und Weise
solcher angeblich apostolischer Briefe , auch durch die Einflech-
tung solcher Nebenzüge, durch die Namen bekannter apostolischer
Gehülfen die Tendenz zu yerrathen, in welcher sie geschriebai
sind. So schreibt nun hier Petrus seinen Brief durch Silvanus, dra
bekannten Begleiter des Apostels Paulus, wie der petrinische Cle-
mens dagegen dem Apostel Paulus beigegeben ist CPhiL 4, 1.) und
derselbe Markus, welchen hier Petrus seinen Sohn nennt, auch wie-
der an der Seite des Paulus erscheint, Kol. 4, 10. Es ist, wie
wenn diese Begleiter und Gehülfen die Mittelspersonen zwischen
den beiden Aposteln sein sollten, wie kann man an dem gutea
Vernehmen der letztem zweifeln, wenn ihre Freunde und Genos-
sen mit dem Einen so vertraut sind, wie mit dem Andern? Da un-
ter dem Babylon, in welchem sich der schreibende Apostel befin-
det, nur Rom verstanden werden kann , so ist auch das konciliat(H
rische Interesse, aus welchem diese Briefe hervorgegangen sind,
hauptsächlich in der römischen Gemeinde vorauszusetzen. In diese
Gemeinde setzte ja schon der Apostel Paulus das Vertrauen einer
besseren Verständigung, so manche Schriften, die auf denselben
Zweck hinarbeiteten, wie namentlich die Apostelgeschichte, wur-
den wahrscheinlich in Rom verfasst, in keiner andern Gemeinde
hatte man so grosse Beweggründe zu einer solchen Versöhnung
wie hier, wo auf der einen Seite der Apostel Paulus durch die Macht
der geschichtlichen Erinnerung, auf der andern der Apostel Petrus
durch das Ansehen, mit welchem er schon früh auch als das Haupt
der römischen Gemeinde gedacht wurde, mit so gleicher Berech-
tigung einander gegenüber standen. Auch diess stimmt mit dem
Charakter der römischen Gemeinde, in welcher von Anfang an das
judenchristliche Element das überwiegende war, überein, dassdem
Apostel Petrus, bei allem Bestreben der Gleichstellung der beiden
Apostel, doch immer noch ein gewisser Vorzug vor dem Apostel
Paulus eingeräumt wird. Lässt sich doch auch die in dem ohne
Zweifel erst von einer spätem Haiid hinzugekommenen 15ten Ka-
pitel des Römerbriefs so absichtlich gemachte Abtheilung, welcher
zufolge der Apostel Paulus auf der einen Seite, der östlichen, nur bis
nach Dlyrien kommt, und dann sogleich auf der andern westlichen
sein Auge nur nach Spanien richtet, so dass er nur als Durchrei-*
Dm Joliaimeische Eyangeliom. 181
(ender C15, 24) in Rom erscheint, nur aus der Absicht erklären,
der gleichsam eine geog^raphische Linie zwischen zwei apostoli-
ichen Gebieten zu ziehen, und das ganze dazwischen liegende Laii-
dergebiet, Rom und Italien mit dem angrenzenden Gallien, einem
nlem Apostel vorzubehalten 0* Der eigentliche Apostel der
röiiischen Gemeinde muss so immer der Apostel Petrus bleiben,
ist aber nur dieses Zugestandniss von der andern Seite gemacht,
80 ist das Band der bräderlichen Einigkeit nur um so fester zwi-
schen den beiden Aposteln geknüpft, und wie überhaupt das ka-
Iholische Bewusstsein in keiner andern Kirche sich so frühzeitig
und so konsequent entwickelt hat, wie in der römischen, so ge-
bAhrt ihr auch das Verdienst , diese wesentlichste Grundlage des
Katholicismus zuerst fesgestellt zu haben.
Wir müssen nun aber unsere Aufmerksamkeit noch auf einen
indem Punkt richten, auf welchem gleichfalls die sich realisirende
Idee der katholischen Kirche einen eigenthümlichen Verlauf nimmt
Wie verhält es sich mit dem andern Saulenapostel , welcher neben
dem nun mit dem Apostel Paulus brüderlich vereinigten Petrus und
dem nur der jerusalemischen Gemeinde angehörenden Jakobus
koch in Betracht kommt, mit dem Apostel Johannes, und dem gan«
len Kreise der Erscheinungen, welche in dem johanneischen Evan-
gdium ihre höchste Spitze haben? Als einer der Säulenapostel,
ab Nachfolger in dem ephesinischen Wirkungskreis, als Verfasser
<t6r Apokalypse, steht der Apostel Johannes, wie schon gezeigt
worden ist, in verschiedenen Beziehungen dem Apostel Paulus ge-
genüber. Der Hauptpunkt aber, welcher nun einen neuen Ent-
wfeklungsknoten bildet, ist das johanneische Evangelium 0* Di^
Mumnten dieses Evangelium betreffenden kritischen Fragen über
sefaien apostolischen Ursprung und seinVerhältniss zur Apokalypse
eiBcheinen hier in ihrer grossen geschichtlichen Bedeutung, indem
<lie Entstehung eines Evangeliums, wie das johanneische ist, nur
nf dem Punkte der geschichtlichen Entwicklung, auf welchem wir
Uer stehen, sich begreifen lässt, auf dem Uebergang zu der ka-
ttolischen Kirche , welchen uns in der römischen Kirche die Sage
i) VergL Theol. Jahrb. 1849. S. 493 f.
1) Vergi. meine krit. Unters, über die kanon. Erangelien 1847* S. 77
t Kfimnr TktoU JiOirb. 1850. 8. 977 t 18S1« S. 18S f.
9»
138 Zweiter Abschnitt. Das Christenthnm Als allgem. Heilsprinoip.
von den beiden Aposteln Petrus und Paulus bezeichnet Je ge-
' nauer man dem Gange der geschichtlichen Entwicklung folgt, um
so mehr kann man nur die Ueberzeugung gewinnen, dass zwischen
der Apokalypse und dem Evangelium ein zu grosser Unterschied
und Gegensatz liegt, als dass selbst das angeblich so lange Leben
des Apostels Johannes weit genug für denselben wäre. Es kau
daher nur in dem Inhalt und Charakter des Evangeliums selbst sei-
nen Grund haben , dass es nicht schon früher in den Gang der ge-
schichtlichen Entwicklung eingreift, welchen Grund hat man ab^
ebendesswegen zu der Annahme eines so frühen Vorhandenseins,
wenn sich so lange auch nicht die geringste geschichtliche Spur
seines Daseins zeigt? Ebenso verfehlt wäre es aber auf der an-
dern Seite, wenn man über dem Unterschied und Gegensatz die so
nahe Beziehung übersehen würde, in welcher, ganz abgesehen von
der Frage über den Verfasser, das Evangelium zu der Apokalypse
steht. So wenig auch angenommen werden kann, dass der Ver-
fasser des Evangeliums eine und dieselbe Person mit dem Ver-
fasser der Apokalypse ist, so wenig lässt sich doch verkennen, dass
der Evangelist sich an die Stelle des Apokalyptikers dachte, und
das Ansehen des Johannes, welcher als Apostel, als Verfasser der
Apokalypse, als das so viele Jahre an der Spitze der Gemeinden
stehende Oberhaupt die höchste Auktorität der kleinasiatischen
Kirche geworden war, für die Zwecke seines Evangeliums be-
nützen wollte. Ja, es ist nicht bloss eine äussere Anlehnung an
einen vielgefeierten Namen, es fehlt auch nicht an innem Beruh"
rungspunkten zwischen dem Evangelium und der Apokalypse, und
man kann nur die tiefe Genialität und feine Kunst bewundern, mit
welcher der Evangelist die Elemente , welche vom Standpunkt der
Apokalypse auf den freiem und hohem des Evangeliums hinüberlei"
teten, in sich aufgenommen hat, um die Apokalypse zum Evange^
lium zu vergeistigen. Nur vom Standpunkt des Evangeliums aoS
lässt sich das Verhältniss , in das sich der Verfasser desselben £tt
der Apokalypse setzte , richtig begreifen. Je mehr der Verfasser j
des Evangeliums sich seines Standpunkts als eines neu^n und eigen^
thümlichen bewusst sein musste, welcher sowohl vom paulmischen
als dem judenchristlichen sich wesentlich unterschied, um so meit
musste sich ihm auch die Nothwendigkeit aufdringen, diese nen^
Form des christlichen Bewusstseins auf einen acht apostolischei^
Das johanneiache Eyangelinm. 133
Ausdruck zu bringen. Welcher Name konnte sich dazu, da durch
die Namen der beiden Apostel Petrus und Paulus schon bestimmte
Richtungen der damaligen christlichen Welt repräsentirt waren,
besser eignen, als der des Apostels Johannes, welcher nicht nur
in der Lokalität, in welcher nach der gewöhnlichen Annahme das
johanneische Evangelium entstanden ist, die höchste Bedeutung
hatte, sondern auch durch die Apokalypse , für deren Verfasser in
Kleinasien namentlich der Apostel Johannes galt, so manche An*
bäpfungspunkte für die höhere Auffassung des Christenthums
darbot? Der Name des Apostels Johannes kann daher in der Be-
ziehung, welche wir ihm hier zum johanneischen Evangelium ge-
ben müssen, nur als die Bezeichnung einer neuen eigenthümlichen
Form des Bewusstseins genommen werden, deren Unterschied von
den beiden andern Richtungen, der judenchristlichen und der pau-
linischen, hier zunächst in's Auge gefasst werden muss. Der am
meisten charakteristische Unterschied liegt in der Logosidee, in
welcher der Evangelist den absoluten Inhalt seines christlichen
Bewusstseins am bestimmtesten und unmittelbarsten ausgesprochen
hat, sie ist aber selbst nur die Einheit der verschiedenen Bezie-
hungen und Gegensatze, in welche sich der Evangelist hineinstellt
Durchaus geht seine Anschauungsweise über die beiden andern
Richtungen, die judenchristliche und die paulinische, hinaus, um
sie und mit ihnen Judenthum und Heidenthum in einer hohem all-
gemein menschlichen Einheit zusammenzufassen. Am meisten ent-
fernt sich der Evangelist von dem Apokalyptiker in seiner Ansicht
Tom Judenthum. Während dem Apokalyptiker alles an dem Na-
men Jerusalem hängt, in welchem für ihn die ganze absolute Be-
deutung des Christenthums begriffen ist, ist dagegen für den Evan-
gelisten schon die Stunde gekommen, in welcher man weder auf
dem Berge Garizim noch in Jerusalem den Vater anbeten wird,
sondern die wahren Verehrer Gottes nur die sind, die ihn im Geist
ind in der Wahrheit anbeten werden (4, 21). Heidenthum und Ju-
denthum stehen also in demselben negativen Verhaltniss zum Chri-
stenthum, als der allein wahren absoluten Religion. Das Judenthum
bttzwar d^n Vorzug vor dem Heidenthum, dass seine Gottesver-
ohroDg eine wissende , d. h. auf das wahre Objekt des religiösen
Bewusstseins gerichtete ist (A, 22), dass es in der Erkenntniss des
dlein wahren Gottes auch das ewige Leben in sich hatC179 3}, dass
134 Zweiter Absohnitt. Das ChrUtentham als allgem. Heilsprindp.
daher auch nur aus den Juden das messianische Heil kommen kann
C4, 223, dass ferner in den Sehriften des A. T. eine fortgehende
Weissagung und Hinweisung auf den Welterlöser ist Cvgl. 5 , 48.
6, 45. 8, 56. 12, 41 u. s. w.}, aber aucdi das Heidenthum hat einen
gewissen Antheil an dem von Anfang an in der Finstemiss leuch-
tenden Lichte des Logos, das alle Menschen erleuchtet CI9 9)- SolHe
Jesus, wie der Evangelist 12, 52 mit besonderem Nachdruck her*-
vorhebt, nicht blos für das jüdische Volk sterben, sondern daxo,
durch seinen Tod auch die zerstreuten Kinder zu einem Ganzen sa
veremigen, so muss es solche zerstreute Kinder Gottes auch in der
heidnischen Welt gegeben haben. Je grösser der Unglaube der
Juden ist, um so mehr sieht der Evangelist acht paulinisch, was bei
den Juden unerfüllt bleibt, in der heidnischen Welt in Erfüllung
gehen, er setzt in ihr eine weit grössere Empfänglichkeit für das
Wort Gottes und den Glauben an Jesus voraus und gibt in mehre-
ren Stellen Cman vgl. K. 4, 12, 303 ausdrücklich den Heiden die-
sen Vorzug vor den Juden. Ebendarauf weist auch die Eine Heerde
des Einen Hirten hin. Wenn nicht blos die Juden sie bilden, son-
dern auch noch andere Schaafe zu ihr hinzukommen sollten, so
mussten die letztem einen um so grossem Theil derselben aus-
machen, je negativer das jüdische Volk in seinem Unglauben sich
zum Evangelium verhielt. Der Unglaube der Juden in allen Pha-
sen seiner Erscheinung ist ja die Eine Seite des Hauptthemas des
Evangeliums. Dass sie an ihn nicht geglaubt haben, trotz aller
Offeiü)arungen der Herrlichkeit Jesu, ist das Resultat, mit welchem
der Evangelist seine Darstellung der öffentlichen Thätigkeit Jesu
schliesst C12, 36). Ein solcher, in allen seinen Gestalten von Stufe
zu Stufe immer mehr sich steigemder Unglaube konnte zuletzt nor
eine solche Katastrophe, wie die des Todes Jesu ist, zur Folge ha-
ben. Der Tod Jesu ist daher nur das Werk der Juden, auf sie al-
lein fällt die schwere Schuld desselben. Je mehr nun aber in einem
Unglauben, welcher eine so charakteristische Erscheinung eines
ganzen Volkes ist, die ganze Macht der Finstemiss sich offenbart,
um so bedeutungsvoller ist die Krisis , welche im Tode Jesu er-
folgt Wie im Tode Jesu die beiden Principien des Lichts und der
Finstemiss, in deren Gegensatz die evangelische Geschichte in der
johanneischen Darstellung sich bewegt, sich auseinandersetzen , so
komml in dem Momente dieses Todes die ganze Periode der alt*
Dm Johanneische Evangelium. 135
testamentlichen Religionsgeschichte zn ihrem Ablauf. Um den Tod
Jesu in der vollen Bedeutung dieser Krisis erscheinen zu lassen,
zieht der Evangelist recht absichtlich alles herbei, was nur immer
in alttestamentlichen Stellen sich darauf beziehen lässt Alles,
was in den Vorbildern und Weissagungen des A. T. seiner end-
bchen Erfüllung noch entgegen sehen zu müssen scheint, muss jetzt,
damit die Schrift erfüllt würde, vollends in Erfüllung gehen C19,24.
28. 36. 37). Der den Evangelisten dabei leitende Gedanke ist in
dem letzten Worte des sterbenden Jesus selbst ausgesprochen, in
dem Worte iereXnTTtt& 19, 30. Es ist vollendet, nämlich alles,
was zur Erfüllung des A. T. an Jesus als dem Messias geschehen
mosste Ci9, 28). In diese grossartige geschichtliche Anschauung
mnss man sich hineinversetzen, wenn man den Evangelisten in sei-
ner Darstellung des Todes Jesu richtig verstehen wilL Es ist der
Wendepunkt der beiden Religionsökonomien , der Umschwung aus
dem alttestamentlichen jüdischen Bewusstsein in das neutestament-
liche christliche, welcher im Momente des Todes Jesu erfolgt, das
Alte ist abgelaufen und zu seinem Ende gekommen, und das Neue
tritt ins Dasein. Das Judenthum und das A. T. gehört einer nun
schon abgelaufenen Periode an, und es kann auch diess nur abs ein
Merkmal des spatern Ursprungs des Evangeliums genommen wer-
den, dass der Verfasser das Judenthum schon in so weiter Feme
hinter sich sieht, und der Gegensatz des Judenthums zum Christen-
thnm schon so sehr eine stehende, in sich abgeschlossene geschicht-
liche Thatsache für ihn ist. Alles , was das Judenthum Positives
hat, Sabbath und Beschneidung C7, 22 f.), ist für den Standpunkt, auf
welchem der Evangelist steht, völlig indifferent geworden, selbst
▼om mosaischen Gesetz spricht er höchst bezeichnend als von et-
was, was nur die Juden angehe, nur sie das ihrige nennen können
(8, 17. 10, 34). Das Gesetz ist ja durch Moses gegeben, die Gnade
und die Wahrheit aber ist durch Christus gekommen Cl? 17> Das
Gesetz ist somit durch das Evangelium abgethan, und seitdem seine
Gnade und Wahrheit durch den Unglauben der Juden so entschie-
den und so offenkundig verworfen worden ist, hat das Judenthum
sich selbst gerichtet Sosehr hat sich das Bewusstsein des Evan-
gelisten von allem Zusanmienhang mit dem Judenthum abgelöst,
dtts ihm auch das nationale Interesse, mit welehem der Apostel
Ptnhis dem Judenthum wenigstens in der Zukunft eine tröitliche
196 Zweiter Abschnitt Das Christenthnm als allgem. Heüspri&dpt
und versöhnliche Aussicht eröffnet, völlig fremd ist In Folge dis
Gegensatzes, in welchen er Judenthum und Heidenthum zu einaiH
der setzt, wenn er in der heidnischen Welt die Verherrlichung dei
Menschensohns erwartet , die ihm in der jüdischen nicht geworden
ist, kann er die Strafe des Unglaubens mit demselben Gewicht nv
auf das Judenthum fallen lassen, mit welchem sie bei dem Apoki-
lyptiker das Heidenthum trifft Der Bruch des Christenthuns nil
dem Judenthum, welcher bei dem Apostel Paulus nur die Gestalt
eines dialektischen Processes, einer erst vor sieh gehenden Ans-
emandersetzung hat, ist im johanneischen zur vollendeten Thtt-
sache geworden. Dazu gehört nun aber als weiteres Moment be-
sonders auch noch diess , dass der Evangelist zuerst die prophe-
tische und typische Beziehung des A. T. zum Christenthnm ge-
nauer bestimmt hat Wenn man, sosehr man auch das geschidtt*
liehe Judenthum herabsetzt und geringschätzend beurtheilt, gleich-
wohl im A. T. die urbildliche Idee des Christenthums anschaut, und
auf die Weissagungen, Typen und Symbole des A. T. so grosses
Gewicht legt, dass man durch sie erst weiss , was das Christen-
thnm ist, an ihnen erst das wahrhaft chrisüiche Bewusstsem auf-
geht, so sind Judenthum und Christenthnm nach Inhalt und Form
noch so innig mit einander verwachsen, dass keines ohne das an-
dere sein kann , der Inhalt des Christenthums kann nur in der in
A. T. enthaltenen Form zum Bewusstsein kommen. Im johanneischen
Evangelium ist nun der weitere wichtige Schritt geschehen, iM,
statt das Bild um der Sache willen festzuhalten und als wesentlidi
Eins mit ihr zu betrachten, das Bild vielmehr, sobald an die SteDe
desselben die Sache selbst, die es bedeutet, die volle Realität des-
sen, was bisher nur bildlich vorhanden war, getreten ist, for völ-
lig erloschen und abgethan, für eine ganz bedeutungslos gewordmie
Form erklärt wird. In diesem Sinne ist ihm das wichtigste und be-
deutungsvollste aller alttestamentlichen Symbole und Typen dis
Passahlamm. Auf keinem Punkte des Evangeliums spricht sich dtf
religiöse Interesse des Verfassers so unmittelbar und so emphi-
tisch aus, wie in der Stelle 19, 35—37. Seine höchste Bedeutung
hat der Moment des Todes Jesu darin, dass aus der geöffneten
Seite Jesu Blut und \i^asser ausfloss. Ausfliessen konnte Blut und
Wasser aus der Seite Jesu nur, weil sie durchstochen war, und
durchstochen wurde sie, weil die Durchstechung an die Stelle der
Dm johaoneische Evangelitun. 137
Beinbrechnng trat Eine Beinbrechung aber durfte bei ihm nicht
stattfinden , weil an ihm das Wort der Schrift vom Passahlamm in
Erfüllung gehen musste, 19, 36. Er selbst also ist das Passahlamm^
ist er aber das Passahlamm, so kann er nur das wahre und eigent-
liche sein, im Unterschied von dem blos typischen des Judenthums,
das seine Bestimmung errmcht hat, wie überhaupt das Bild auf-
kört, das zu sein, was es ist, sobald die Sache, auf die es sich be-
seht, da ist« Derselbe Moment, in welchem in dem gekreuzigten
Christus das bildliche Passahlamm zum wahren und wirklichen
wurde, ist der Wendepunkt, in welchem das Judenthum aufhörte
za sein, was es bisher war, seine absolute Bedeutung ein Ende
hatte, und das Christenthum als die wahre Religion an die Stelle
desselben trat Das aus der Seite Jesu, als des wahren Passah-
lamms, geflossene Blut und Wasser, ist das Symbol des vermittelst
des Todes Jesu in seiner ganzen Fülle an die Menschheit sich mit-
theilenden geistigen Lebens. Welche Bedeutung es für den Evange-
listen hat, in Christus das wahre und wirkliche Passahlamm anzu-
schauen, ist hauptsächlich aus dem Einfluss zu sehen, welchen diese
Idee auf seine Darstellung der evangelischen Geschichte gehabt
hat Die bekannte Differenz zwischen ihm und den Synoptikern
in Betreff des Todestages Jesu Idsst sich nur daraus erklären. Ist
Christus das wahre und eigentliche Passahlamm, so kann er auch
onr an demselben Tage und in demselben Zeitpunkt gestorben sein,
wo bei den Juden nach der gesetzlichen Sitte die Passahlämmer
geschlachtet wurden, somit nicht, wie die Synoptiker in Gemässheit
ihrer ohne Zweifel geschichtlichen Tradition melden, am 15ten
Nisan, sondern am 14ten. Ist er aber an diesem Tage als das Passah-
lamm gestorben, so folgt hieraus weiter , dass er an diesem Tage
nicht das Passahmahl noch mitgefeiert haben kann. Hat er also vor sei-
nem Tode noch ein Mahl mit seinen Jüngern gehalten, so kann er
es nur den Tag zuvor, am 13ten, gehalten haben, aber eben dess-
wegen kann es auch kein Passahmahl gewesen sein. Auch diess
gehört ja zur abweichenden Darstellung des johanneischen Evan-
geliums. Alles somit, was sich auf das Passahfest bezieht, hat für
die Christen durchaus keine weitere Bedeutung, es ist auf immer
für sie dadurch erloschen und aufgehoben, dass Christus selbst als
Passahlamm am Vorabende jenes Passahfestes gestorben ist Da-
durch hat sich nun erst das Christenthum von seinem Zusammen-
138 Zweiter Abschnitt Das Christenthmn als allgem. Heilsprindp.
hang mit dem Judenthnm völlig abgelöst Auch hier verhalten rieh
zwar Judenthum und Christenthum wie Bild und Sache, aber wel-
ches Interesse kann es haben, auf das Bild zurück zu gehen nnd
in die Anschauung der alttestamentlichen Typen und Symbole rieh
zu vertiefen, wenn man die Sache selbst hat, und in der Sache
so sehr das absolut Reale, dass ausser demselben im Grunde nichts
eine reale Bedeutung hat?
An die Idee Christi, als des wahren und eigentlichen Passak-
lamms, knüpft sich ein neuer Gegensatz. Es ist bemerkenswert!!, dass,
je abstossender sich das christliche Bewusstsein zum Judenthum ver-
halt, es um so mehr diese Idee festhält, je mehr es dagegen noch im
Judenthum lebt und Judenthum und Christenthum als wesentlich Eins
betrachtet, um so mehr tritt das Interesse für jene Idee zurück,
wenn auch Christus für das Passahlamm gilt, so ist er es doch nur
so, wie auch andere Typen und Symbole von ihm prädicirt werdea.
Der Erste, welcher Christus das Passahlamm der Christen nannte,
ist der Apostel Paulus, welcher 1 Cor. 5, 7. die Ermahnung an
die Korinthier, sich vom alten Sauerteig zu reinigen, damit sie
ein neuer Teig seien, wie sie ja ungesäuert seien, dadurch mofr-
virt: denn, als unser Passah, ist für uns geschlachtet Christof
Wenn auch vielleicht der Apostel Paulus nur durch eine augen-
blickliche Gedankenverbindung, in Folge des zufalligen Umstandet,
dass er jenen Brief an die Korinthier kurze Zeit vor Ostern schrieb,
auf diese Idee kam, und Christus nur so das Passahlamm nannte,
wie er auch das Bild des Sauerteigs auf die Christen anwandte,
so war doch er es zuerst, welcher diese Idee aussprach, nod
nach seiner Ansicht vom Judenthum konnte sie für ihn nicht den
Sinn haben, das Christenthum im Judenthum festzuhalten, sondern
es vielmehr von ihm zu trennen. Weitere Folgerungen werden
von dem Apostel Paulus aus dieser Idee noch nicht gezogen, nai
nur diess könnte eine gewisse Beziehung auf seine Idee des Pas-
sahlamms zu haben scheinen, dass er in seiner Schilderung des
letzten Mahles Jesu und der Einsetzung des Abendmahls mit kei-
nem Worte zu verstehen gibt, es sei diess ein Passahmahl ge-
wesen, sondern schlechthin von. der Nacht spricht, in welcher
der Herr Jesus verralhen war, 1 Cor. H, 23. Wenn er also
auch aus der Ueberlieferung, auf die er sich beruft, wohl wusste,
dass jenes Mahl ein Passahmal war, so hatte doch diess für il
Da« PaMahlamm« 139
keine weitere Bedeutung, die Hauptsache war ffir ihn nicbt der
ZoBammenhang der Handlung Jesu mit der alten jädischen Fest«*
ritte, sondern nur das Neue, das er beabsichtigte, die Einsetzung
«nes neuen Bundes. Wie überhaupt das mit der Beobachtung
der jüdischen Festsitte so eng verbundene ntigaTtjQiiv fiiAtgaq %mt
rifmg nal naigeg »al hiavTbQ (Gal. 4, 9.) nicht in seinem Sinne
war, und von ihm als eine auch dem Judenthum noch anhangende,
ißt wahren Religion aber unwürdige Gebundenheit an die Natur-
«ichte zurückgewiesen wurde, so konnte er auch nicht daran
lenken, die Erinnerung an den Herrn, wozu die Feier des Abend-
ntkls dienen sollte, mit der jährlichen Wiederkehr des jüdischen
PiMahfestes zu verknüpfen. Der paulinische Verfasser des dritten
Evangeliums stimmt zwar auch darin mit den beiden andern Syn-
(f tikem überein, dass er das letzte Mahl Jesu als ein Fassahmahl
beschreibt, ja er lässt sogar ausdrücklich Jesum sein inniges Ver-
langen aussprechen, dieses Passah vor seinem Leiden mit seinen
Jiagem zu essen C22, 15.3, aber wie wenn er nun damit alle Ge-
rechtigkeit gegen das Judenthum und die altem Apostel erfüllt
kitte, hebt er dagegen um so nachdrücklicher die andere Seite
1er Handlung Jesu hervor, und lässt die Einsetzung des Abend-
Mdiis V. 19—20. auf die Abhaltung des jüdischen Passahmahles
(V. 15—18} so folgen, dass die erstere von dem letztem abge-
löst wird, und als eine neue, wesentlich verschiedene Handlung
Am erscheint, womit schon der erste Schritt zum Uebergang von
1er synoptischen Darstellung zu der die jüdische Passahmahlzeit
YÜlig ausschliessenden johanneischen geschehen ist ^y. Die jo-
haneische Idee Christi, als des wahren und eigentlichen Passah-
lanuns, hat demnach schon im Paulinismus solche Anknüpfungs-
punkte, dass wir an ihrem innem Zusammenhang mit demselben
um so weniger zweifeln können , ebenso aber ist sie auf der an-
dern Seite nicht blos den beiden andern Synoptikern, welche,
80 angelegen sie es sich sonst sein lassen, die Erfüllung alttesta-
BKntiicher Weissagungen und Typen an Jesu nachzuweisen, doch
keine der auf das Passahlamm sich beziehenden Stellen des Alten
Testaments anführen, sondern auch dem Apokalyptiker so fremd.
1) Vgl. HiLaENFSLD, kritische Untersuchungen über die Evangelien
Jostiiig S. 472 f: KdsTLiK, die synoptischen Eyangelien S. 177-
140 Zweiter Abschnitt. Dm Christentlmiii als «llgenu Heilsprindp.
dass wir auch diess nur auf die tiefer liegende Verschiedenheit
der beiden Hauptrichtungen beziehen können. Man kann zwar
noch immer darüber streiten, in welchem Sinne der Apokalyptiker
Jesum das dgvlop iaqjayfiepov nenne, und die Meinung, dass er
ihn mit diesem Ausdruck als Passahlamm bezeichnen wolle, hat
auPs Neue einen sehr entschiedenen Vertheidiger gefunden %
allein die genauere Erwägung der zur Beantwortung dieser Frage
gehörenden Data muss auf ein anderes Resultat fuhren. Es findet
sich in der Apokalypse in keiner andern Stelle auch nur eine An-
spielung auf das Passahlamm, es ist einzig nur der Ausdruck
agplor iag>ayf4fvop selbst, welcher darauf bezogen werden kann,
aber ebenso gut auch auf die esaianische Stelle 53, 7. sich be-
ziehen lasst Da nun die Anwendung dieser auch schon in der Apostel-
geschichte 8, 32. 33. auf Jesus bezogenen Stelle etwas so Ge-
wöhnliches und Stehendes war, dass Christus auch da, wo er
das Passah genannt ist, nicht als das geschlachtete Passahlamn,
sondern als das zur Schlachtbank geführte Lamm des Propheten
(eJff npodarop inl ag>ayf]v dyofnvog) bezeichnet wird, so liegt e«
unstreitig auch in der Apokalypse weit näher, an das Letztere la
denken 0- Auch wird ja das Prädikat iotpayfkiißov dem Jlg^lof
der Apokalypse in einem so emphatischen Sinne gegeben, daff
damit offenbar mehr gesagt sein muss, als die Idee des zunächst
nicht einmal als Versöhnungsopfer anzusehenden Passahlamms in
sich begreift, bei welchem die Schlachtung nichts näher Bezeich-
nendes, sondern nur das sich von selbst Verstehende ist, es kann
nur eine solche Schlachtung gemeint sein, mit welcher der volle
Begriff einer still sich hingebenden Duldung für die Sünden der
1) Vgl. EiTflCHL a. a. 0. S. 146 f.
2) Man vgi. die von Ritschl a. a. 0. citirten Stellen aus dem Test
Xn Patr. Test. Benj. c. 3. Justin Dial. c. 111. 72. und dem Fragment des
Clemens von Alexandrien im Chron. pasch, (ed. Dind. p. 14). Am wenig-
sten beweisend ist der Grund , dass zu dem esaianischen Bilde des sanft'
müthigen Lammes die oQyrj %5 agviu Apok. 9, 16. wenig passen würde,
da, wenn Sanftmuth und Zorn sich ausschliessen würden ^ überhaupt T^
einer ogy^ ra dgvla gar nicht die Rede sein könnte. Auch die ohne Zweifel
dem Apokalyptiker gleichfalls vorschwebende Stelle Jerem. 11, 19-, wo der
Prophet sich selbst ein agvlov axaxov tpsQOfitvov t5 ^vsa^ai nennt , fSl>^
nicht auf das Passahlamm.
Der PasBfthBtreit 141
enschen sich verbinden lässt, wie diess der Hauptbegriff in der
eile des Propheten ist.
. Ist somit die Idee, dass Christus das wahre und eigentliche
UHahlamm ist, nicht dem Apokalyptiker, sondern dem Evange-
Bten zuzuschreiben, so ist schon dadurch der Gesichtspunkt ge-
eben für eine Differenz, in welcher wir diese beiden in einem
ehr ausgesprochenen Gegensatz einander gegenüber stehen sehen.
1 Kleinasien wurde in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhun-
erts über die christliche Feier des Passah sehr lebhaft gestritten,
b theilte sich über diese Frage nicht nur die kleinasiatische Kir-
ilie in zwei Parteien, sondern es trat auch der die kleinasiatische
Grche repräsentirenden Mehrheit die römische entgegen. Der
löhepunkt des Streits war, als der Bischof Polykrates von Ephe-
w und der römische Bischof Victor als Gegner einander gegen-
iber standen. Aus dieser Veranlassung werden wir erst über
len weiter zurückliegenden Anfang und Anlass des Streits ge-
wer unterrichtet Zum erstenmal kam die Frage zur Sprache,
b der Bischof Polykarp von Smyma um das Jahr 160 nach Rom
am, um sich mit dem römischen Bischof Anicet über verschie-
be kirchliche Angelegenheiten zu besprechen, zu welchen na-
imtlich die Passahfrage gehörte. Beide konnten sich darüber
icbt vereinigen, es konnte weder Anicet den Polykarp bestimmen,
18 nicht zu halten, was er mit Johannes, dem Jünger des Herrn
nd den übrigen Aposteln, mit welchen er zusammen war, so ge-
ilten hatte, noch konnte Polykarp den Anicet dazu bringen, es
1 halten, indem er sich darauf berief, dass die Gewohnheit sei-
Br Vorgänger aufrecht erhalten werden müsse. Gleichwohl trenn-
n sie sich im Frieden, und der Friede der ganzen Kirche wurde
icht gestört, obgleich sie sich in zwei Parteien theilte On rnQ^^-^
V and Aci? xfiQbvtiq) ^y Anders war es jedoch schon wenige
üire nachher, als ungefähr im Jahre 170 in Laodicea ein hef-
ler Streit über das Passah, gerade in den Tagen, in welchen
Ml Fest gefeiert wurde, entstand« Die kleinasiatische Kirche
)Ibst war jetzt getheilter Meinung, und es wurde über die Streit-
ige m Schriften verhandelt Auf der einen Seite trat der Bischof
1) Man ygl. das Sohreiben, das Irenäus im Namen der gaUUchen Brü«
* an den römischen Bischof Victor erUess , bei Bkisebiaa K,G. 5 9 34« 35»
148 Zweiter Abschnitt. Dm Christenthum als allgem. Heilsprincip.
Melito von Sardes, auf der andern der Bischof Apollinaris von
Hierapolis auf; aus der Schrift des letztem haben sich zwei Frag-
mente in der Passahchronik erhalten. Für dieselbe Ansicht, wel-
che Apollinaris vcrtheidig^, schrieb auch Clemens von Alexan-
drien aus Veranlassung der Schrift Melito's, somit als Gegner des-
selben 0* Es war auch diess nur das Vorspiel des eigentUchei
Streits, welcher um das Jahr 190 zum Ausbruch kam und sich
nicht mehr auf die kleinasiatische Kirche beschränkte. Er er-
streckte sich auch auf die auswärtigen Gemeinden und der klein-
asiatischen Kirche stand nun hauptsächlich die römische gegen-
über. Es wurden, wie Eusebius erzählt 0? mehrere Synoden ge-
halten und Synodalschreiben abgefasst Die Gemeinden von Asiea
glaubten nach ihrer Ueberlieferung den 14ten Monatstag Ciei
Nisan) für das Fest des tromipiop naaya beobachten zu müssen,
an welchem den Juden das Lamm zu opfern geboten war, ab
müsse man durchaus an diesem Tage, ohne alle Rücksicht auf den
Wochentag, das Fasten abbrechen. Die übrigen Kirchen dagegen
beobachteten nach apostolischer Ueberlieferung die später herr-
schend gewordene Sitte, dass man nur am Tage der Auferstehrag
des Erlösers das Fasten aufheben dürfe. Auf der Seite der rS*^
mischen Kirche, deren Bischof damals Victor war, standen PaUh*
stina, Pontus, Gallien, Osroene, Griechenland. Die kleinasiatische
Kirche dagegen hielt treu an der uralten Sitte fest Welche hohe
Bedeutung sie für die Kleinasiaten hatte, ist aus dem Schreiben
zu sehen , welches der Bischof Polykrates von Ephesus im Namen
der asiatischen Bischöfe an den römischen Bischof Victor erliesSt
Er berief sich auf alle Auctoritäten seiner Kirche, die grossen in
Asien entschlafenen Kirchenfursten, die am Tage der Parusie del
Herrn auferstehen werden, den in Hierapolis entschlafenen Apostel
Philippus mit seinen zwei Töchtern, von welchen eine in Ephesus
ruhe, den in Ephesus entschlafenen Johannes, der an der Bral
des Herrn lag und das Zeichen der hohepriesterlichen Würde
trug, und Märtyrer und Lehrer war, Polykarp in Smyma, BisciMif
und Märtyrer, und viele andere, welche alle den 14ten Tag de«
Passah nach dem Evangelium beobachtet haben. Von diesem Tng^
1) Ensebins iCG. 4, 26.
t) K.G. 5, 25.
Dor FMgahstreit. 143
wollte auch er, der im Dienste des Herrn Ergraute, in der ganzen
heiligen Schrift Bewanderte, ohne sich durch Drohungen schre-
cken zu lassen, nicht abgehen. Grössere als er haben ja gesagt,
mui müsse Gott mehr gehorchen als Menschen. Als darauf gleich-
wohl der römische Bischof Victor den Versuch machte, mit Einem
Mile die Gemeinden von ganz Asien mit ihren Grenznachbam als
beterodoxe von der Einheit und Gemeinschaft der Kirche abzu-
Khneiden, und sie durch Briefe brandmarkte , in welchen er allen
dortigen Brüdern die kirchliche Gemeinschaft aufkündigte, wurde
er desshalb auch von Solchen getadelt, welche, wie Irenäus in
Gallien, in Ansehung der Sache selbst der römischen Kirche bei-
stiiiunten, und gleichfalls behaupteten, es dürfe nur am Tage des
Herrn das Mysterium seiner Auferstehung vollendet werden.
Die Frage, was der eigentliche Gegenstand des Streits war,
hat man immer für eine sehr schwierige gehalten, und daher auch
nur sehr ungenügend zu beantworten gewusst. Auch jetzt steht
die einzig richtige Ansicht noch nicht so fest, dass sie nicht mit
onem Widerspruch zu kämpfen hätte. Man könnte denken, die
Uemasiatische Partei habe, als eine streng judaisirende, das Passah
ganz nur in judischer Weise gefeiert, allein diess war nicht der
Fall, und es weist auch in der Polemik der Gegner, welche diess
sieht hätten verschweigen können, nichts darauf hin. Das Passab
war auch den Kleinasiaten das ndaxa rS awrtlgoe, oder das aa»ri}-
ftop nuüxa, d. h. ein christliches Fest, das jüdische Passah in
derFoqn, in welcher es durch die Art und Weise, wie es Jesus
idbst noch vor seinem Leiden mit den Jüngern gefeiert hatte,
den Charakter eines christlichen Festes erhalten hatte. Das Be-
leichnende ist für die sogenannten Quartodecimaner eben nur
diecs, dass sie sich an den 14ten des jüdischen Monats Nisan auf
dieselbe Weise hielten, wie die Juden, welchen dieser Tag der
eigentliche Passahtag war, von welchem man die folgenden Tage
ib das Fest der SCvf*a zu unterscheideu pflegte. Es ist diess das
in der Geschichte dieser Streitigkeit als stehender Ausdruck vor-
kommende Ttifi7w, das in der vollständigen Formel in dem Schrei-
te des Polykrates das zviQiiv tf]v t^fid^uv t^g TeaanQiaHa^öiHa-
^^ tS naaxa ist Welche Bedeutung dieser Tag für sie hatte,
ist hieraus noch nicht klar, die nächste Hinweisung darauf ist,
^ sie es für durchaus nothwendig erklärten, an diesem Tage
144 Zweiter Abschnitt. Das Christenthnm als allgom. Heilsprinoip.
das Fasten zu Ende gehen za lassen, während ihre Gegner mit
dem vor Ostern gewöhnlichen Fasten nicht früher aufhören woll-
ten, als erst an dem Sonntag, an welchem die Auferstehung Christi
gefeiert wurde. Was also für die Einen der Tag der Auferste-
hung war, und zwar der stehende Sonntag, war für die Andern
der 14te, auf welchen Tag der Woche er auch fallen mochte,
aber in welcher Eigenschaft? Es ist ein zu rascher Schluss, wena
man meint, dem Moment der Auferstehung könne nur das Moment
des Todes gegenüber stehen, und die ganze Differenz habe sich
blos auf den Ort bezogen, wo der Grenzpfahl zwischen der Fest^
freude und der Fastentrauer eingeschlagen werden sollte, ob
schon an dem 14ten, oder erst am Ostersonntag. Den Occiden-
talen sei die Auferstehung der unvergessliche, unendlich wich-
tige Tag gewesen , an welchem einst das Häuflein der Gläubigen
von allen seinen Befürchtungen befreit und die Realität der Er-
lösung, nach den schrecklichsten Zweifeln und Finsternissen der
Todestage, für sie in das froheste Licht gesetzt worden war, dieser
Tag habe den Jüngern eine Centnerlast abgenommen, er seiffir
sie der rechte Befreiungstag gewesen. Bei den Orientalen da-
gegen habe der Todestag die Prärogative gehabt, auch er habe
für sie eine hohe Bedeutung gehabt: bis zum Eintritt des Todes
sei zwar das Leiden des Herrn ein schmerzliches Trauerereignitt
gewesen, aber mit dem Moment des Todes sei das Leiden des
Herrn geschlossen gewesen, das grosse Werk der Versöhnung
vollbracht, die ewige Erlösung gestiftet, und die Verklärung Christi
habe begonnen, wenn das alles gleich nicht schon in der Urwocbe
von jenem Moment an für das Bewusstsein der Jünger offenbar
gewesen sei. Daher müsse nun der ganze Standpunkt der occi-
dentalen Observanz als ein mehr subjectiver, persönlicher, indi^
vidueller, als der geschichtlich stetige und traditionelle, stereotype
charakterisirt werden, der an die ganze äussere Physiognomie
der Urwoche möglichst genau anschliesse. Der Standpunkt der
Orientalen dagegen stelle sich als ein mehr objectiver, dogmati-
scher, universeller und frei bildender dar, sofern ihre ObserviiU
aus dem Bestreben hervorgehe, das Wesen, die innere Bedeutmig
der Heilsthatsache selbst, nicht eine historische Form des Be*
wusstseins über dieselbe in der Art ihrer Feier auszudrücken, so
wie statt der materiellen Physiognomie der Urwoche bei Bestimm
Der t^assahstreit |4ft
mang des Termins der Todesfeier ein in der Urwoche liegendes
ideelles, religionsphilosophisches Moment zum Gesetz zu nehmen 0-
Alles diess Idsst sich geschichtlich nicht begründen, und die ganze
fnge wird dadurch gar zu sehr in das Gebiet apriorischer Vor-
msetzungen und Abstractionen hinübergespielt Auch diess kann
■Ol nicht sagen, das Fasten habe überhaupt nur Sinn, wo die
Srinnemng an den Tod Jesu der leitende Gedanke sei, der Be-
fchloss der Fasten am 14ten könne daher nur die Voraussetzung
m sich schliessen, dass Christus nicht am ISten Nisan, sondern
iffl 14ten als Passahlamm gestorben sei und die Versöhnung be-
wirkt habe *). Das vor Ostern gewöhnliche Fasten, worüber
gleichfalls eine Differenz stattfand, indem, wie Irendus in seinem
Schreiben sagt, Einige einen Tag fasteten, Andere zwei. Andere
Boch mehrere. Einige gar vierzig Tage bei Tag und Nacht, konnte
lüerdings nur auf das Leiden und den Tod Jesu sich beziehen,
tber es wird auch hier ein falscher Schluss gemacht, wenn man
nänt, weil das Fasten Zeichen der Trauer ist, könne der Schluss
des Fastens, das an die Stelle des Fastens tretende Essen nur die
entgegengesetzte Gemüthsstimmung ausdrücken, und die Orienta-
len haben demnach den Todestag Jesu ebenso als Freudenfest be-
gangen, wie die Occidentalen den Tag der Auferstehung. Wenn
man auch bei dem Tode Jesu nur an die vollbrachte Versöhnung
denken konnte, so musste doch das Gefühl der Trauer so überwie-
gend sein, dass man nicht begreift, wie die Orientalen, nur um ih-
rer Freude schon jetzt diesen Ausdruck zu geben, gerade am To-
destage Jesu mit dem Fasten abbrechen konnten. Es kann diess
nistreitig nicht ohne eine besondere Veranlassung geschehen sein,
md man kann daher nur fragen, was bestimmte sie, gerade diesen
Tag, den 14ten, nicht fastend, sondern essend zu begehen? Und
wenn sie an diesem Tage nicht gefastet, sondern gegessen haben,
Bloss man nicht schon desswegen vor allem die Voraussetzung
in Frage stellen, ob sie diesen Tag als den Todestag Jesu gefei-
^ haben? Die Antwort auf diese Frage ist nicht auf dem Wege
blnstlicher Combinationen zu suchen, sie liegt offen genug in den
i) Weitsel, die chrisüiohe Pasflaihfeier der drei ersten Jahrhunderte.
1848. S. 101. 110. 131.
2) RiTBCHL a. a. O. S. 950*
Bfturi di« drei entoa Jahrh. 10
146 Zweiter Absclinitt. Dm Christeiithiim als «llgem. HeÜsprineip.
in der Passahchronik erhaltenen Fragmenten 0- Am bestimmtestea
ist der Grund der Differenz in einem Fragment des Hippolytiu aaih
gesprochen, welcher als Vertreter der occidentalischen Festsitle
den Gegner sagen lasst: „was Christus damals an jenem Tage that,
war das Passah, und dann litt er, desswegen muss auch ich auf
dieselbe Weise, wie der Herr gethan hat, also thun;'' und hierauf
erwiedert: „es ist ein Irrthum, wenn man nicht weiss, daaa Chri-
stus zu der Zeit, in welcher er litt, nicht das gesetzliche Pasaah ass,
denn er war das vorherverkündigte Passah, das an dem bestimoi-
ten Tage sich vollendete/^ In demselben Sinn sagt Hippolytos in
einem andern Fragment, wie der Herr voraus schon gesagt habe,
er esse das Passah nicht mehr, so habe er das Mahl vor dem Passali
gehalten, das Passah aber habe er nicht gegessen, sondern er habe
gelitten, denn es sei ja auch nicht die Zeit für ihn gewesen, dass er
es essen sollte. Hieraus erhellt, so klar als es nur sein kann, dass
die Orientalen den 14ten nicht als den Todestag Jesu feierten, son-
dern als den Tag, an welchem er noch das Passahmahl mit sem^
Jüngern gehalten habe. Die Streitfrage zwischen ihnen und ihren
Gegnern bewegte sich um den Gegensatz des Thuns und Leidens,
oder bestimmter des q>ayetv und des na^ily. Hat Jesus am 14ten
das Passahlamm gegessen, so ist er an diesem Tage nicht gestorben,
und man kann daher an diesem Tage nicht das Andenken seines
Todes begehen, sondern sich nur für verpflichtet halten, dasselbe
zu thun, was er gethan hat, somit nicht zu fasten, sondern zum
Andenken an das von Jesu gehaltene Passahmahl gleichfalls ein
Mahl zu halten, das auf diese Weise von selbst der Schluss der
vor Ostern gewöhnlichen Fastenzeit wurde. Die Occidentalen da-
gegen schlössen umgekehrt: weil Jesus am 14ten gelitten hat und
gestorben ist, so kann er an diesem Tage nicht mehr das Passah-
mahl gegessen haben, und es ist daher überhaupt keine Ursache
vorhanden, an dem Tage, an welchem das jüdische PassahmaU
gehalten wird, das Fasten abzubrechen, und sich in Ansehung
der christlichen Osterfeier nach dem 14ten Nisan zu richten. Gani
dasselbe Resultat ergibt sich aus den Fragmenten des ApoUinaris
von Hierapolis und des Clemens von Alexandrien. Der erstere
gibt die Behauptung der Gegner, der Orientalen, ganz ebenso an,
1) Chrou. pasch. Vol. I. S. 13 f*
Der Pawahstreit. 147
wie Hippolytius, sie sagen, der Herr habe am 14ten das Lamm mit
den Jängem gegessen, am grossen Tage des Festes der ungesäu-
erten Brode aber habe er selbst gelitten, und sie erklären den
Matthaus so, dass er eben das sage, was sie sich vorstellen, was
aber nur die Folge habe, dass ihre Vorstellung mit dem Gesetz
Bicht zusammenstimme, und nach ihnen die Evangelien mit dem
GeselB' zu streiten scheinen. Unter diesem Streit mit dem Gesetz
kann ApoUmaris nur den Widerspruch meinen, in welchen nach
der Behauptung der Gegner die Evangelien mit dem Gesetz kommen
würden, wenn Jesus den Evangelien zufolge nicht an dem Tage
gestorben wäre, an welchem er als Passahlanun nach den Bestim-
■nmgen des Gesetzes über die Schlachtung des Passahlamms ster-
ben mnsste. Auf der Seite der Occidentalen lag daher das ganze
Moment der Streitfrage in der Idee Christi als des Passahlamms,
i Eben diese Idee ist in dem zweiten Fragment des ApoUinaris so
!^ bestimmt ausgesprochen, dass über den ganzen Zusammenhang
i ikrer Ansicht kein Zweifel sein kann 0> Stand den Gegnern der
- 1) Nach solchen Zeugnissen, wie die des Hippolytus und ApoUinaris,
n wdohen auch noch das des Clemens von . Alexandrien kommt , welcher
gleicfafjftlls in einem in der Passahchronik erhaltenen Fragment sagt, in den
vonngegangenen Jahren habe der Herr das Passah mit den Jaden geges-
MO, damals aber sich selbst am ISten als das Passah yerkündigt und sodann
m folgenden Tage gelitten (o dfAVoe r« d'sSt oU itgoßatov iirl ofpap)v dyo-
fuvos — avTos vSv ro rtaa^u^ naXltsgtj&ds vtto 'ibSaimtf), kann nicht wohl
«in Zweifel über die eigentliche Sreitfrage sein. Ebenso klar liegt aber
neh die Wichtigkeit vor Augen, welche die Data des Passahstreits für die
Frage über den apostolischen Ursprung des johanneischen Eyangeliums ha-
ben. Um nun diese nothwendige Consequens abzuschneiden, behauptet
WsiTSBL a. a. O. 8. 16 f., es seien katholische und häretische Quartodeci-
luuier in unterscheiden, die Zeugnisse des Hippolytus und der Andern be-
nehen sich blos auf die häretischen , es sei daher zwischen den beiden
Spoehen des Passahstreits im Jahre 170 und im Jahre 190 der grosse Un-
ten^ied, dass im Jahre 170 nicht Kirche gegen Kirche stand, sondern die
fianptreprasentaaten der Kirche gegen eine yereinzeltc Partei, einige juda-
«innde Laodiceer, welche luerst im Jahre 170 mit ihrem judaistischen Pas-
■ibritiis aufgetreten seien. Allein diese angeblichen häretischen Quartodeci-
>uu)er sind eine reine Fiction, für die sich so wenig etwas Beweisendes
Ittibringen lässt, daas yielmehr der ganze Charakter und Verlauf des Streits
^ solche Yoraossetaung geradezu ausschliesst Wie klar legt das Schrei-
^ des Irenätts, in welchem achon awisoh^n Polykarp und Anicet yon
10 *
l46 Zweiter Absclmitt. Das Chnstentham als allgem. Heiliprineip.
Kleinasiaten vor allem fest, dass Christus das wahre und eigentliche
Passahlamm sei, so folgte hieraus, da Bild und Sache, Weissagimg
und Erfüllung so genau als möglich zusammentreffen müssen, mit
nothwendiger Consequenz , dass Christus an demselben Tage ge-
storben ist, an welchem das jüdische Passahlamm geschlachtet
wurde. War aber der 14te nur der Todestag Jesu und starb Je-
sus als Passahlamm nur dazu, um das Neue, das jetzt da war, von
dem Alten, das seine Bestimmung erreicht hatte, auf immer ab-
zulösen, so konnte man auch kein Interesse haben, den 14ten all
derselben Differenz des trjQitv und fAtj trjgup die Rede ist, wie in dMB
Schreiben des Polykrates zwischen Polykrates und Victor, die Identitlt
nnd Conünuität der Streitfrage yon Anfang an vor Augen? Wären es lil-
retische d. h. judaistische Quartodecimaner gewesen, so müsste sich dooh
auch ihr judaistisches Interesse reiner herausstellen, aher es handelte sich
ja dabei nicht um das Passah als solches, sofern es als jüdisches Fest mit
den Juden zu feiern war, sondern nur um die von Jesu dabei begangene
Handlung, dass er an einem Passah das letzte Mahl mit seinen Jflngon
gehalten hatte. Nicht wegen des Passah^s also, sondern nur zumAndenktB
an Jesus und an das, was er gethan hatte, wie diess der klare Sinn der
angeführten Zeugnisse ist , sollte der l4te gefeiert werden. Was war dem-
nach hier specifisch Judaistisches, was nicht auch bei den kaÜioliscbeB
Quartodecimanem stattgefunden hätte? Wie wenig die alte Kirche tim
häretischen Quartodecimanem in dem hier vorausgesetzten Sinne wusste, H
nun auch aus einer Stelle der erst neuestens bekannt gemachten PhiloMh
phumena (7, 18. S. 274 f«) zu sehen, in welcher von Solchen 6^ Bede
ist, die das Passah am I4ten Tage des ersten Monats nara t^v xS ¥Ofta
S&arayijv feiern, sich dafür auf den Fluch des mosaischen Gesetzes beia-
fen, aber dagegen die Bedeutung des wahren Passahopfers in Christas und
den Ausspruch des Apostels Paulus Gal. 5» 3* nicht beachten. Wie Apol-
linaris und Hippolytus ihren Gegnern Streitsucht und Unwissenheit Yorwe^
fen, so werden auch diese als tpikovt-txot ri^v (pvoiv* iSiuira& ti)v j'yroffir be-
zeichnet, aber nicht als judaistische Häretiker, es wird ihnen vielmehr im Uebxi-
gen ausdrücklich das Zeugniss vollkommener Rechtglaubigkeit gegeben: ff'
Se T0i9 fri(joiS ftTO& ai'fKpvßvSai Trgoi navta ra rij tuiiXtjoi^ vno tiSv mtiO"
aroXiftv TtaftnSkSofibva, Man vgl. über die Passahfrage meine kritisohett Ua*
tersuchungen über die kanonischen Evangelien S. 269. 334 f. S53 f.» uid
die Abhandlungen in den Theol. Jahrbüchern 1847. S. 89 f. 1848* S. 364iE^
1849. S. 2ü9 f. HiL^BNFELD, der Galaterbrief. 1852. S. 84 f. Die Wx^
TZEL^sche Ansicht, welche trotz ihrer evident unrichtigen Yoranssetiang fBt
Viele eine sehr bequeme Auktorität gegen die Resultate der neuem Kritik
ist, wiederholt z. B. Lechler a. a. O. S. '327 f.» ohne auch nur das eigeo^
liehe Moment der Frage richtig aufzufassen.
Der Passahstreit. 149
den stehenden Todestag Jesu festzuhalten, der stehende Tag konnte in
der christlichen Festanschauung nur der Sonntag der Auferstehung
sein, und während bei den Orientalen, da der 14te seine stehende
Feier hatte, auch alles Uebrige nach diesem Tage sich richten
miisste , hatte bei den Occidentalen die Fixirung der Jahresfeier
dieser Tage den entgegengesetzten Ausgangspunkt, der Todestag
konnte nur nach dem Auferstehungstag bestimmt werden und fiel
daher ebenso constant auf den Freitag, wie jener auf den Sonntag.
Obgleich die Sitte der römischen Kirche immer mehr das Ueber-
gewicht gewann, so dauerte doch die Differenz auch in der Folge
noch längere Zeit fort, sie war sogar eine der Veranlassungen der
nidnischen Synode, da es im Orient noch immer mehrere kirch-
Gehe Provinzen gab, in welchen man das Passahfest mit den Juden
feierte ^). Wie man von Anfang an an dem Judaismus der Quarto-
deeimaner Anstoss nahm, so sprach sich das antijüdische Interesse
zuletzt noch in der Erklärung der nicänischen Synode aus, dass es
unschicklich sei, sich nach der Gewohnheit der ungläubigen und
feindlich gesinnten Juden zu richten. Alle Christen des Orients,
die das Passah bisher noch mit den Juden gehalten haben, sollen es
iLänftig in Uebereinstimmung mit der römischen Kirche begehen.
Ja, so wenig wollte man in dieser Feier mit den Juden gemein ha-
ben, dass, wenn der OstervoUmond auf einen Sonntag fiel, Ostern
nicht an diesem Tage, sondern erst an dem darauffolgenden Sonn-
tag gefeiert werden sollte.
Je lebhafter und allgemeiner die Bewegung war, welche durch
diese Streitfrage nicht blos in Kleinasien, sondern unter den christ-
lichen Gemeinden jener Zeit überhaupt entstand, um so merkwür-
diger ist die Stellung, welche das johanneische Evangelium zu der-
selben hat. Es steht auPs Entschiedenste auf der Seite der occi-
dentalischen Tradition. Recht absichtlich sucht es in seiner Dar-
stellung des Todes Jesu, dem Gedanken vorzubeugen, das letzte
Mahl Jesu sei das Passahmahl gewesen, wenn es schon 13, 1 aus-
ditcklich sagt, vor dem Feste des Passah habe Jesus ein Mahl
1) Vergl. Athanasius de Syn. c. 5» wo namentlich ot dno r^s JSiQiag^
*«< KiliMias Mai MsaimoTafilaQ als solche genannt werden, welche ttvtlivop
^>9) T^v (OQT^Vj na\ fjura roiv 'jaSauuv inoiäP rö naaxa» Vergl. Euse«
l^ni de Tita Comit. 3, 5- i8« Sokrates H. £« 1, 9.
130 Zweiter Abschnitt. Das Christenthiini als allgem. Heilspriaeip.
{diinvo¥, nicht to dimvop) gehalten, das bei aller Yenchiedenkeft
von dem synoptischen doch ebenso das letzte ist , wie dieses. Und
die wiederholten Hinweisungen auf das erst bevorstehende Fest,
wie 13, 29. 18, 28 scheinen gleichfalls keinen Zweifel darflber
lassen zu sollen, dass es dasselbe Mahl Jesu mit seinen Jüngern m
der Nacht seiner Gefangennehmung war, wie bei den Synoptiken,
nur mit dem Unterschied, dass es nicht das Passahmahl war.
Zwischen den beiden Darstellungen, der synoptischen und der jo-
hanneischen, ist auch in diesem Punkte besonders eine so durck^
greifende Differenz , dass kaum ein anderes exegetisches Resultat
so feststeht, als die völlige Yergeblichkeit aller Versuche, die eine
Relation in die andere hineinzuerklären. Und doch soll derselbe
Apostel Johannes auch einer der Hauptzeugen fär den acht apos-
tolischen Ursprung der kleinasiatischen Tradition sein, auf dessei
Auktorität sich der hochbejahrte Bischof Polykrates von Ephesni
bei seinen grauen Haaren und bei allem, was ihm heilig und ehr-
würdig war, auf eine Weise berief, welche gegen die geschieht-'
liehe Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses ebenso wenig irgend eine
Einrede gestattet, als jenes exegetische Resultat in Zweifel gezo-
gen werden kann. Wie lässt sich der so klar vor Augen liegende
Widerspruch anders lösen, als durch die Annahme, der Verfasser
des EvangeliuMhi sei ein Anderer, als der Apostel Johannes, der
Verfasser der Apokalypse? Es wird ja durch das geschichtr
1) Nach GiEBELEs Lehrb. der K.G. 4. A. 1 , 1. S. 241 ^ würde sich
freilich dieser Widerspruch sehr leicht so lösen : „lu den christlichen Cfe-
meinden wurde anfangs die jüdische PassahfSeier beibehalten , aber mit Be-
ziehung auf Christum das wahre Passah begangen (1 Kor. 5} 7). So fimi
sie auch Johannes in Ephesus Yor und Hess sie ungeAndert. Nur 8o£ma
sie Yon der Meinung ausging, als ob Christus am Tage vor seinem Tode
i}och das Passah mit den Juden gegessen habe, berichtigte er sie in seinem
Evangelio, indem er deutlich hervorhob, dass Christus am i4ten Nisan ge-
kreuzigt sei. Desshalb brauchte aber jene Feier nicht gelindert zu werden,
vielmehr war nun der I4te Nisan erst auch der wahre christliche Passtb-
tag, die Erfüllung des vorbildlichen Passah war auf denselben Tag mit
diesem gefallen." Wie wenn nicht eben diess der Widerspruch wftre, dass
er das grösste Gewicht auf den 14ten, als den Todestag Christi gelegt, mid es
doch mit der Feier des Tages selbst so leicht genommen haben soU! Wie
konnte er auch nur den Widerspruch des q>aysiv und na&etf an demselbeo
Tage stehen lassen? Wie konnte er ihn durch seine eigene TheilnaliBi«
Das johanneiMche EYAngeliam. 151
liehe Datum, das wir den Nachrichten über den Passahstreit ver-
danken, nur dasselbe Ergebniss bestätigt, das auf so vielen andern
unwiderleglichen Gründen beruht Kann demnach der Ursprung
des Johanneischen Evangeliums nur in eine spätere Zeit gesetzt
werden, so kann es nur in dem Kreise der Bewegungen, welche der
Passahstreit hervorrief, entstanden und nur aus demselben Interesse
kervorgegangen sein, aus welchem die römische Kirche mehr und
mehr eine antithetische Stellung zu den Gemeinden nahm, welche
noch an der ursprünglichen judenchristlichen Tradition festhielten.
Die kleinasiatischen Quartodecimaner hatten unstreitig das Recht
der geschichtlichen Tradition auf ihrer Seite. Wie wir keine Ur-
sache haben, die Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, auf welche sie
nch für den apostolischen Ursprung ihrer Tradition beriefen, in
Zweifel zu ziehen, so trägt auch die mit ihr zusammenstimmende
synoptische Darstellung des Todes Jesu ganz den Charakter der
iitesten geschichtlichen Ueberlieferung an sich. Alle Zeugnisse
stimmen darin überein, dass Jesus am 15ten Nisan gestorben ist,
and am 14ten das Passahmal mit den Jüngern gehalten hat Die
andere Tradition, nach welcher Jesus am 14ten, dem Tage des
Pissahmahles, gestorben ist, und sein letztes Mahl kein Passahmahl
war, gibt sich selbst als die erst später entstandene kund. In der
römischen Kirche berief sich zwar auch Anicet gegen Polykarp
aaf die Tradition seiner Vorgänger, es konnte aber, wie wir aus
dem Schreiben des Irenäus an den römischen Bischof Victor sehen,
die Reihe der römischen Bischöfe, welche von Irenäus als (*n
tfigSi^cfs bezeichnet werden, obgleich sie dabei in einem friedlichen
Verhältniss zu den n^ySi^r^g standen, nicht über Anicet, Pius, Hy-
ginus, Telesphorus und Zystus weiter zurück verfolgt werden,
welcher letztere nach Eusebius CK.G. 4, 4) zur Zeit Hadrians, vom
dritten Regierungsjahre dieses Kaisers bis zum zwölften C^twa
tn der klcinasiatischen Passahfeier sanctioniren , wenn er doch hi seinem
ETangelinm alles that, ihm zu begegnen? Und wie kam er daisu, jene
lidnang an berichtigen, somit auch der allgemeinen, durch die Sjnoptiker
bestätigten Tradition zu widersprechen, nach welcher Christus am tsten
gestorben sein sollte ? Man übersieht es ganz , wie durchgreifend die Dif-
ferenz in Betreff des Todestages Jesu ist, wenn man meint, der Wider-
^rooh, in welchen der Apostel Johannes mit sieh selbst gekommen wttre,
lasse sich so leicht beseitigen.
15S Zweiter Abschnitt Das Chrifltenihiun alfl allgem. Heilsprinoip.
120—129) römischer Bischof war. Welche Ursachen auch za-
sammengewirkt haben mögen, der römischen Kirche im Laufe des
zweiten Jahrhunderts mehr und mehr eine antijudaistische Rich-
tung zu geben, der innere Grund war in jedem Fall die freiere Ent-
wicklung des christlichen Bewusstseins, zu ihrem Ausdruck aber
kam sie hauptsachlich an der alttestamentlichen Typologie, indem
man das Yerhaltniss von Bild und Sache schärfer bestimmte. Auch
Justin stimmte noch, ungeachtet er gleichfalls das alttestamentliche
Passah typisch auf Christus bezieht, mit der synoptischen Relation
über den Todestag Jesu als dem Tage des Passahfestes 0- Mit je
grösserem Nachdruck man den Gegnern gegenüber darauf drang,
dass Jesus das jüdische Passahmahl nicht mehr gehalten habe, um
so mehr musste man sich auch nach Gründen für seine Behauptung
umsehen. Man konnte sie nur dadurch rechtfertigen, dass num
sich über das Yerhaltniss von Bild und Sache genauere Rechen-
schaft gab. Je vollkommener Bild und Sache zusammentreffen, um
so weniger kann das Bild noch irgend eine Bedeutung haben, so-
bald an die Stelle desselben die volle Realität desselben gebreten
ist« Diess war der dabei zu Grunde liegende leitende Gedanke, wie
wir ihn auch bei den gnostischen Schriftstellern jener Zeit fin-
den, welche die Bedeutung der alttestamentlichen Typen und Sym-
bole genauer zu bestimmen suchten ^. Wie überhaupt die alle-
gorische Schrifterklärung als der Schlüssel der heiligen Schrift und
als das höchste Wissen galt, so betrachteten sich auch die, welche
I) Dial. c. Jad. Tr3rpli. c. 111. vgl. c. 40. In der letztem Stelle ist
noch besonders bemerkenswerth , wie Justin das Passahlamm als Tjrpns
Christi beschreibt. Er findet das Typische nur in dem Blute, mit welohea
man die Häuser bestrich und in der Gestalt des Kreuzes, welche das Passahr
lamm, wenn es gebraten wurde, darstellte. Gerade das Merkmal also, taf
welches der Evangelist 19, 36 das Hauptgewicht legt, lässt er ganz unbe-
achtet, wie war diess möglich, wenn ihm das johanneische Evangelium soIkw
bekannt war?
3) Man vergl. besonders den Brief des Gnostikers Ptolbhaub an die
Flora bei Epiphanius H»r. 33, 5* Ilavta ravTa^ sagt Ptolemäus von des
alttestamentlichen Typen, zu welchen er namentlich auch das Passah leob*
net, eiKores nal ovfißoXa oyra, tvs dkij(^tia9 tpavtgoj&siatiS fAer$vt&fjf itmt*
ßiiy t6 (paivo/nspov ual QWfMTtwuQ imskslad'ai avriQi&fji »arct dt to npvf
fiatinov dveX^tp^rjj ttuv fiiv ovofAatwv x(ov avTftiv f/^tv6vx(tiv^ ivtjXXay/iipmv
di T1UV nQay(iato}v,
Das johanneisohe Evangelium. 159
^on diesem Gesichtspunkt aus in das Yerhaltniss von Bild nnd Sache
iefer hineinzublicken glaubten, als die auf einer höheren Stufe der
christlichen Erkenntniss Stehenden. Darauf bezieht sich der Vor-
¥urf der Unwissenheit und der Streitsucht, welcher in den Frag-
nenten des ApoUinaris und Hippolytus den Gegnern gemacht wird,
wfem sie ohne die rechte Einsicht in die Sache , wie sie nur die
haben, welche Bild und Sache richtig zu unterscheiden und auf
einander zu beziehen wissen, aus zäher Anhänglichkeit an das
Termeintlich Ueberlieferte gegen die Gegner bestritten , was diese
selbst weit besser zu verstehen glaubten. So aufgefasst ist der
Passahstreit eines der wichtigsten Momente in der Reihe der Be-
strebungen, durch welche die Kirche des zweiten Jahrhunderts
auf den Punkten, auf welchen das christliche Princip in seiner
freieren Entwicklung begriffen war, von den ihr noch anhängenden
jüdischen Elementen sich zu läutern und zu befreien suchte , und
dis ganz in den Kreis dieser Bewegungen gehörende johanneische
Evangelium ist der reinste Ausdruck der aus diesem Entwicklungs-
process hervorgegangenen höheren Form des christlichen Be«
wnsstseins. Wie es den Bruch des Christenthums mit dem Juden-
thom als eine vollendete Thatsache betrachtet, so setzt es sich auch zu
dem Judenchristenthum in ein analoges Yerhaltniss. Seitdem Christus
lis Passahlamm geopfert ist, geht das Passahmahl die Christen nichts
nehr an. Das Passah ist nun ebenso ein rein jüdisches, für die
Ciiristen abrogirtes Fest (ro ndaxa ro;» 'ludaim» 2, 13, 6, 4, 11,
$5), wie dieses Evangelium auch von dem Gresetz nur als dem Ge-
setz der' Juden spricht Nur im Bewusstsein der hohem, allen
Partikularismus so weit hinter sich zurücklassenden Entwicklungs-
stufe kann sich der Verfasser des Evangeliums mit dem Apostel
Johannes so identificirt haben, wie es zum Charakter seines Evan-
geliums gehört. Kein anderer als Johannes, aber auch nur der im
Geiste seines Evangeliums vergeistigte Johannes ist ihm der höchste
Ansdruck des christlichen Bewusstseins. Darum wird nun auch im
)<Aanneischen Evangelium Johannes als der vertrauteste, Jesu zu-
gehst stehende LiebUngsjünger auf eine Weise, wie sie auch nur
diesem Evangelium eigenthümlich ist , so ausgezeichnet , dass eine
Stellung , in welcher selbst Petrus seiner Vermittlung bedarf und
ihm gegenüber recht absichtlich als der Untergeordnete erscheint,
^on selbst zu einer Einrede gegen den von den Judenchristen dem
154 Zweiter Absolinitt. Das Christenthmn alf mllgem« Heilsprincip.
Apostel Petrus gegebenen Primat wird 0« Und wie der selbst aber
den Apostel Petrus sich stellende Johannes doch nur eine bloi
ideelle, keine geschichtliche Person ist, so steht dem Eyangelistea
der erst nach dem irdischen Leben Jesu in seiner Fülle gekommene
Geist als allgemeines christliches Princip sosehr über der persön-
lichen Auktoritfit auch der Apostel, dass er in dem Gegensatz, la
welchem der Judaismus und der Paulinismus in dieser Beziehung
zu einander stehen, selbst über den letztem noch hinausgeht Das*
selbe Yerhältniss stellt sich uns auch in dem Lehrbegriff dar. Der
Johanneische Lehrbegriff ist die höhere Einheit des jndenchrlst*
liehen und des paulinischen. Der Glaube hat auch in ihm dieselbe
intensive Bedeutung, wie bei dem Apostel Paulus, sein Objekt ist
aber nicht der Tod Jesu mit seiner sündenvergebenden Kraft, son-
dern die Person Jesu überhaupt als des fleischgewordenen Logos,
oder, da Jesus, als der Gesendete, nur in der unmittelbarsten Einhdlt
mit dem ihn Sendenden gedacht werden kann, Gott selbst Das
Verhdltniss Jesu als des Sohnes zum Vater ist der absolute Typus
für das ganze Yerhältniss des Menschen zu Gott Was der Sohn
auf absolute Weise ist, sollen die an ihn Glaubenden durch seine
Vermittlung werden. In demselben Yerhältniss, in welchem der
Sohn zum Yater steht, stehen die Gläubigen nicht Mos zum Sohn,
sondern durch die Yermittlung des Sohns auch zum Yater. Das
bestimmende Princip des ganzen Yerhältnisses aber ist die durch
unbedingte Hingabe und Befolgung des göttlichen Willens sich he*
thätigende Liebe, deren höchstes absolutes Princip die Liebe des
Vaters zum Sohn und Gottes zu der Welt ist Die Liebe ' ist somit
überhaupt der höchste Begriff, von welchem die johanneische An-
schauungsweise ausgeht, und der Punkt, in welchem der johan-
neische Lehrbegriff vom paulinischen sich trennt So hoch auch
der Apostel Paulus die Liebe Gottes stellt, so steht doch bei ihm,
vermöge seiner Ansicht vom Gesetz, der Liebe noch immer die Ge-
rechtigkeit gegenüber. Der Mensch kann vom Gesetz nicht hin-
wegkommen, ohne dass dem Rechtsanspruch des Gesetzes an um
Genüge geschehen, seine Schuldforderung getilgt, das Lösegeld
bezahlt ist Auf dem Standpunkt des johanneischen Evangeliums
ist einerseits das Gesetz dem Gesichtskreis schon so entrückt, dass
1) Vergl. moine krit Unten». S. 320 t ^77 t
Das Johanneische Eyangeliuro. 155
Mine Ansprüche gleicbsam als antiquirt anzusehen sind , und es
nicht erst einer besondem Auseinandersetzung mit demselben be-
darf, andererseits gestattet es die Gesammtanschauung von der
Person Jesu nicht, ein einzelnes Moment so überwiegend hervor-
zuheben, dass der eigentliche Schwerpunict des ganzen Erlösungs-
werks in den Tod Jesu ffillt. Erlösend ist der Tod nur in demsel-
ben Yerhältniss, in welchem es die ganze Erscheinung Jesu ist
Was bei Paulus die Thatsache des Todes ist, ist hier das rein Per-
sönliche , die Person Jesu in ihrer absoluten Bedeutung. In wel-
chem Sinne sie diess ist , wird in der Folge noch gezeigt werden.
Hier kommt zunächst nur das Yerhältniss des johanneischen Stand-
punkts zum paulinischen in Betracht. Es kann nur so bestimmt
werden , dass wir die Gegensätze , durch welche der Paulinismus
sich erst hindurchkämpfen muss, auf dem Standpunkt des johan-
neischen Evangeliums in eine weite Feme entrückt sehen. Der
Glaube und die Werke sind in der Liebe , als ihrer höheren Ein-
heit, aufgehoben, und der Partikularismus des Judenthums mit al-
len an ihm haftenden Gegensätzen entschwindet in dem im Hinter-
gründe der johanneischen Weltanschauung stehenden allgemeinen
Gegensatz der beiden Principien , des Lichtes und der Finstemiss,
welche auch in die sittliche Welt bestimmend eingreifen.
Hiemit hat der Entwicklungsprocess des christlichen Princlps
in der Sphäre , welche hier der Gegenstand der Betrachtung ist,
Sern bestimmtes Ziel erreicht. Das Christenthum ist als allgemei-
nes Heilsprincip festgestellt, und alle Gegensätze, welche es inner-
halb des Partikularismus des Judenthums festhalten wollten, sind im
Universalismus des Christenthums aufgehoben. Es ist diess auf
iwei Punkten geschehen, auf welchen eine doppelte Reihe von Er-
scheinungen jede ihren eigenen selbstständigen Verlauf nimmt Den
einen Punkt bildet das johanneische Evangelium , der andere liegt
in der römischen Kirche. Auf diesen beiden Punkten hat das
christliche Bewusstsein in seiner freieren Entwicklung dasselbe
Ziel im Auge , die Realisirung der Idee der katholischen Kirche.
In dem johanneischen Evangelium stellt sich uns dieser Entwich-
hngsprocess nach seiner ideellen, in der römischen Kirche nach
semer praktischen Seite dar. Während dort die Entwicklung des
christlichen Be?nisst8eins schon den Charakter einer christlichen
Theologie an sich trägt, ist es hier die praktische Idee der Kirche,
136 Zweiter Abschnitt. Das Christenthum als allgein. Heüaprineip.
um deren Realisirung es sich handelt. Hier geht alles von einem
bestimmten Punkte aus , man steht auf dem festen Boden der ge-
schichtlichen Wirklichkeit, es sind bestimmte Gegensatze , um de-
ren Vermittlung es zu thun ist, dort dagegen schwebt die gaue
Anschauungsweise in der Sphäre einer transcendenten IdealitiL
Weiss man doch nicht einmal, wo das johanneische Evangeliom
seinen Ursprung genommen hat. So viele Beziehungen es auch
zu der kleinasiatischen Kirche hat und zu den Streitfragen, welche
diese Kirche im Laufe des zweiten Jahrhunderts zum Mittelpunkt
der kirchlichen Bewegung machten, so hat es doch im Ganzen und
in so manchen einzelnen Zügen ein so entschiedenes alexandrinh*
sches Gepräge und eine so nahe Verwandtschaft mit der späten
alexandrinischen Theologie, dass wir nur die alexandrinische Rich-
tungin ihm repräsentirt sehen können, und wo es auch entstanden seil
mag, hauptsächlich in dieser Richtung der Wurzel seines Ursprung!
nachgehen müssen. Ungeachtet seines ideellen und theologischen
Charakters verliert es aber doch die praktische Aufgabe der Idee
der Kirche in der Einen Heerde und dem Einen Hirten nicht aas
dem Auge, und wie es mit der römischen Kirche dieantijudaistische
Tendenz theilt, so hat es den unmittelbarsten Berührungspunkt mit
derselben in der gemeinsamen Opposition gegen den Judaismus
der kleinasiatischen Quartodecimaner. Dasselbe Streben nach Ein-
heit, das in der römischen Kirche schon die beiden Apostel Petras
und Paulus brüderlich vereinigt hatte , liess dieselbe Kirche nicht
ruhen, ihr katholisirendes Einheitsinteresse auch gegen diesen
Ueberrest der zähen Anhänglichkeit an das Judenthum zu verfolg
gen. So erklärte Judaisten , wie auch die Quartodecimaner noch
waren, sollte es also künftig nicht mehr geben, und hiemit war ein
neues Element, in welchem das Christenthum ursprünglich mit dem
Judenthum zusammenhing, in welchem es aber jetzt nichts mehr
mit ihm gemein haben wollte, aus der christlichen Kirche ausge-
schieden. Wer somit künftig auch nur an einem der jüdischen
Elemente, deren sich das christliche Bewusstsein im Laufe seinÄ
Entwicklung allmählig entledigt hatte, mit der alten Anhänglichkeit
noch festhielt, konnte wenigstens nicht mehr zu der Gemeinschaft
der katholischen Kirche gerechnet werden. Diess ist der Begrüß
welcher sich jetzt, seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts mit dem
Namen der Ebioniten verband. Ebioniten in diesem Sinne sind die^
Die Ebioniten. 157
jenigen Judenchristen, bei welchen wir auch noch in der Folge,
nachdem es schon eine katholische Kirche gab, alles das zusammen
finden, was ursprünglich zwar innerhalb der christlichen Gemein-
schaft selbst als ein wesentliches Moment des Christenthums be-
trachtet, nachher aber von der katholischen Kirche nicht mehr als
solches anerkannt wurde. Als eine von der katholischen Kirche
verworfene Sekte sind die Ebioniten dasselbe, was ursprünglich
die Judenchristen überhaupt im Unterschied von den paulinischen
Christen waren. Irendus, welcher zuerst von den Ebioniten als einer
nichtzur katholischen Kirche gehörenden Sekte spricht 0? und Epipha--
nios, welcher die noch zu seiner Zeit fortbestehenden Ueberreste
derselben beschreibt ^, legen ihnen dieselben Merkmale bei,
welche ursprünglich für die Judenchristen überhaupt charakte-
ristisch waren. Wenn Irenaus von ihnen sagt, sie beten Jerusalem
an, als wäre es das Haus Gottes , so ist dadurch ihre Ansicht von
der absoluten Bedeutung des Judenthums sehr emphatisch bezeich-
net An der Beschneidung hielten die Ebioniten des Epiphanius
ioch so fest, dass sie sie als das Siegel und charakteristische Zei-
chen nicht blos der Patriarchen und der nach dem Gesetze leben-
den Gerechten, sondern sogar der Nachfolge Christi, der ja selbst
beschnitten gewesen sei, betrachteten. Durch ihren Hass gegen
den Apostel Paulus und die ausdrückliche Verwerfung seiner Briefe
unterschieden sich noch spater die Ebioniten von den milder den-
kenden Nazaraern, von welchen wenigstens nicht dasselbe gesagt
wh*d. Auch was von der Passahfeier der Ebioniten gemeldet wird,
setzt die gleiche Beobachtung der jüdischen Festzeit voraus, wie
bei den Quartodecimanern. Die Angabe des Epiphanius , dass die
Sbioniten erst nach der Zerstörung Jerusalems ihren Anfang ge-
nommen haben, ist in jeder Beziehung unhistorisch, und nur aus
der Voraussetzung geflossen, dass nichts, was in der Folge als hä-
retisch galt, ursprünglich zum rechtgläubigen Christenthum selbst
gehört haben könne. Zur Sekte wurden die Ebioniten, da sie ja
lelbst Justin noch nicht als solche betrachtet, erst später, sieht man
«ber auf die Grundsätze, Lehren und Gebräuche, so waren sie,
freilich neben so Vielem, worin sich der schroffe sectirerische
1) AdY. h»r. 1, 36«
1) H»r. 30| 1. f.
156 Zweiter Absclinitt. Das Cbristenthniii als allgem. Heilsprincip.
Charakter ausdrückt , mit dem ursprünglichen Judenchristenthom
so identisch und so eng verwachsen mit ihm, dass es wenigstens
kein unberechtigter Gebrauch des Namens ist, wenn man das Ja-
denchristenthum überhaupt in gewissem Sinne als Ebionitismus be-
zeichnet Im gewöhnlichen engem Sinne aber bedeutet der Name
diejenige Form des Urchristenthums, welche von selbst aus der
Gemeinschaft der katholischen Kirche dadurch sich ausschied,
dass ihre Anhänger nicht gleichen Schritt halten konnten mit der
über das Judenchristenthum hinausschreitenden Entwicklung des
christlichen Bewusstseins 0-
1) Man vergl. über die richtige Bestimmtmg der Begriffe Ebionitisinni
und Judaiainns oder Jadenchristenthum RiTaoHL a. a. O. S. 103 f. KIVstlin
Theo]. Jahrb. 1830. S. 57 t S. S97 f. Beide tadehi mit Reoht u
8cHWEGLEB| dass er den Begriff des Ebionitismus sa sehr erweitert hat
Diese Erweiterung beruhe vor allem darauf, dass eine Reihe ebionitischer
Lehren aufgestellt und nun überall Ebionitismus angenommen wurde, wo
diese Lehren alle zusammen oder theilweise sich finden, wfthrend doch de^
selbe Lehrtypus auf yerschiedenen Standpunkten eine ganz yersohiedene
innere Bedeutung und Tendenz haben konnte. Wenn auch Ebionitismaii
und Judaismus denselben Inhalt haben , so haben sie ihn in einer wesent-
lich yerschiedenen Form. Es ist aber auch der Inhalt nicht derselbe. Der
Ebionitismus trennt sich vom Judaismus dadurch, dass er mit Bewusstsein
und Vorsatz festhalten wollte, was der Judaismus nicht mehr als wesent-
lich christlich anerkennen konnte. Dem Ebionitismus sind Judenthnm und
Christenthum so identisch, dass das Christenthum selbst sein Princdp im Ji-
denthum hat, er verhält sich daher gegen alles specifisoh Christliche (l«ek-
gültig, der Judaismus dagegen ist sich des Unterschieds des Chrietenthnmi
vom Judenthnm bewusst, und sein Bestreben geht, statt das Chrirtenthnm
auf das Judenthnm zurückzuführen, dahin, sich in das Christenthum zu ve^
tiefen und sich der absoluten Bedeutung seines Princips bewusst zu werden.
Das Letztere gilt auch vom Paulinismus, den Unterschied macht aber dfe
verschiedene Stellung zum Gesetz. Bitscbl versteht unter dem Ebionitis-
mus nur die Secte und unter dem Judenchristenthum die Identität von Ji-
denthum und Christenthum. Das Letztere bringt Ritbchi/s starrer Begriff
vom Judenchristenthum von selbst so mit sich, das Erstere verengert den
Begriff ebenso willkürlich als ihn die ScnwEGLEB^sche Definition erweitat
Warum sollen die Gegner des Apostels in der galatischen und korinthiaehcn
Gemeinde nicht mit Recht Ebioniten genannt werden ? Wo das Jndeaefari-
■tenthum noch einen so specifischen Zug hat, wie die Opposition gof^n den
Apostel Paulus, oder auch mit ascetischen Elementen verbunden ist, wie bei
den römischen Judenchristen Rom. K. 14» gibt auch diess ein Recht, es
als Ebionitismus zu bezeichnen.
1
Dritter Abschnitt.
Das Christenihiim als absolutes Weltprincip,
und seine geschichtliche Schranke.
Die Hfäresen des Gnosticismus und MontanismuSy
und die katholische Antithese in dogmatischer
und kirchlicher Beziehung.
L Die Häresen.
1. Der Gnosticismus.
Mit dem Namen und Begriff des Gnosticismus, dessen Zusam-
menstellung mit dem Hontanismus erst in der Folge näher erklärt
werden kann, treten wir in ein von dem bisher beschriebenen 6e*
Uet der ältesten Kirche völlig verschiedenes. Die Frage ist nicht
nehr, ob das Christenthum ein particuläres oder allgemeines Prin-
cip des Heils ist, an welche Bedingungen die Erlangung der Selig-
keit geknüpft ist, welche das Christenthum ertheilt, es handelt sich
nicht mehr blos darum, die Schranken zu durchbrechen und zu be-
sdtigen, die der freieren und universelleren Entwicklung des
Christenthums im Wege stehen. Der Gesichtskreis ist ein ganz
inderer. Gott und Welt , Geist und Materie , Absolutes und End-
fidieSf Weltentstehung, Weltentwicklung und Weltende sind die
Begriffe und Gegensätze, in deren Sphäre man sich hier hineinge-
stellt siehL Das Christenthum ist mit Einem Worte nicht als Heils-«
princip, sondern als Weltprincip aufzufassen. Die Erscheinungen,
von welchen hier die Rede ist, haben ihren eigenen Anfangspunkt,
^d sie bilden einen so eigenthümlichen Kreis , dass es im Grunde
i^ur der Name des Christenthums ist, in welchem sie mit dem Ueb-
160 Dritter Abschnitt. Das Christenthum als absolates Wel^irindp.
rigen, das zum Inhalt der ältesten Kirchengeschichte gehört, ihren
getneinschaftüchen Berührungspunkt haben. Und doch haben auch
sie für die Entwicklungsgeschichte der katholischen Kirche eine
nicht minder wichtige Bedeutung. Die katholische Kirche muss
zwar vor allem, ihrer Idee gemäss, über alles Partikularistische hin-
wegstreben und es zur Allgemeinheit des christlichen Princips auf-
heben, auf der andern Seite aber gehört es ebenso sehr zu ihrer
Aufgabe, das positiv Christliche festzuhalten. Sie ist überhaupt
eine katholische Kirche nur dadurch, dass sie, als die versöhnende
Mitte aller Richtungen, das eine Extrem ebenso von sich fem hält
als das andere. Wäre das Christenthum , wenn die aus ihm iid^
entwickelnde Idee der katholischen Kirche den Partikularismus des
Judenthums nicht überwunden hätte, selbst nur eine Sekte des Ju-
denthums geworden, so drohte ihm dagegen auf der andern, gegen
das Heidenthum hin liegenden Seite die nicht minder grosse Ge-
fahr der Verallgemeinerung und Verflüchtigung seines Inhalts durch
Ideen, in welchen das christliche Bewusstsein in seiner schran-
kenlosen Erweiterung seinen specifischen geschichtlichen Charak-
ter völlig verlieren musste. Diese Tendenz hatte die Gnosis, und
der allgemeinste Gesichtspunkt, unter welchen sie dieser Tendenz
zufolge gestellt werden muss, ist, dass sie das Christenthum nicht
zunächst als Heilsprincip betrachtet, sondern als di^ die ganxe
Weltentwickelung bedingende Princip. Es ist somit mcht sowohl
ein religiöses , als vielmehr ein spekulatives, philosophisches In-
tei-esse, das ihr zu Grunde liegt, und auf die Philosophie, als das
höchste Erzeugniss des menschlichen Geistes in der heidnischen
Welt, zurückführt
Hiemit ist das Wesen der Gnosis im Allgemeinen schon ange^
deutet, die genauere Bestimmung und Entwicklung ihres Begrift
aber ist auch nach so Vielem , was besonders in der neuesten Zeit
über sie verhandelt worden ist, noch immer keine sehr leiohte and
einfache Sache. Die Aufgabe ist immer noch unter so Vieles
Unbestimmten, Vagen, blos Umschreibenden und nur theilwmie
Wahren, die Punkte zu treffen, welche den klaren Begriff der
Sache selbst geben. Am gewöhnlichsten ist es, die Gnosis zunächst
als theologische Speculation aufzufassen. Auch Oiessler ^
1) K.G. i, 1. S. 179 t 4. A.
Die Qnosis. 101
xeichnet sie so, und erklärt sie^ ihrer philosophischen Basis nach,
theils aus der alten Frage über den Ursprung des Bösen, theils dar-
aus, dass die Philosophie, je mehr sich die Idee der höchsten Gott-
heit ausgebildet hatte, desto weniger dieselbe als Weltschöpfer be-
trachten zu dürfen geglaubt habe, und desto geneigter geworden
sei^ das unvollkonunene Gute in der Welt von geringeren Wesen,
das Böse aber von einem bösen Princip abzuleiten, welche Ideen
sodann in der christlichen Ansicht von dem Christentbum, Juden-
tham und Heidenthum, als dem Vollkommenen, Unvollkommenen
und Bösen einen Halt erhalten haben. Neander geht vom Ari-
stokratismus der alten Welt, dem Gegensatz der Wissenden und
Glaubenden, dem eklektischen Charakter des Gnosticismus aus,
imd hebt sodann besonders hervor, aus dem Eingehen des Chri-
stenthums in das Geistesleben habe das Bedürfniss entstehen müssen,
des Zusammenhangs der durch die Offenbarung mitgetheilten
Wahrheiten mit dem schon früher vorhandenen geistigen Besitz-
thom der Menschheit, so wie des innem Zusammenhangs der christ-
lichen Wahrheit selbst als eines organischen Ganzen, sich bewusst
zu werden. Wo aber ein solches Bedürfniss, statt seine Befriedi-
gang zu finden, mit Gewalt unterdrückt werden sollte, habe darin
die einseitige Richtung der Gnosis ihre Berechtigung gefunden.
Je unklarer diess ist und je weniger die beliebte NEANDEa'sche Ka-
tegorie der Reaktion hier an ihrer Stelle ist, um so mehr sieht man
der Lösung des Rathsels in Folgendem entgegen : Das Spekulative
ia den gnostischen Systemen sei nicht das Erzeugniss einer von
der Gesdiichte sich losreissenden Vernunft, welche alles aus ihren
eigenen Tiefen schöpfen wolle. Die Leere , in welche eine blos
negative Philosophie versenke , habe den nach dem Realen ver-
langenden Geist eine positivere wieder suchen lassen. Wir können
in den gnostischen Systemen mit einander verschmolzene Elemente
idatonischer Philosophie, jüdischer Theologie und altorientalischer
Theosophie auffinden, doch werden sie sich nimmer aus einer Ver-
mischung und Zusammensetzung solcher allein erklären lassen , es
sei ein eigenthümliches beseelendes Princip, welches die meisten
dieser Zusammensetzungen belebe. Die Zeit habe ihnen ein ganz
eigenthümliches Gepräge aufgedrückt Wie es gewisse Richtun-^
i) K.a. i, i. B, 6S9 f; 9« A,
Banr« dto dnl cntM Jalirh. * *
16S Dritter Abschnitt. Das Gbrittenihiim als absolutes Wel^rindp.
gen and Ideen gebe , welche eine wunderbare Macht über alles in
einer Zeit ausüben , so sei es damals die Macht des dualistischen
Princips gewesen, welches der vorherrschenden Stimmung der
Gemüther zusagte, und in welchem sich diese wieder abspiegelte.
Der Grundton in vielen ernsteren Gemüthem dieser Zeit sei dai
Bewusstsein von der Macht des Bösen gewesen , auf welchen nun
auch noch auf eine ganz besondere Weise das Christenthum einge-
wirkt habe. Aus der Macht des dualistischen Princips wäre dem-
nach Ursprung und Wesen der Gnosis zu erklären , und unstreitig
gehört der Dualismus zum wesentlichen Charakter der gnostischen
Systeme, da aber diese Macht des dualistischen Princips in den
gnostischen Systemen selbst erst zu ihrer Erscheinung kommt, so
kann daraus das Wesen der Gnosis nicht erklärt werden. D»
Richtigste, was Neander über den Gnosticismus sagt, kommt am
Ende nur darauf hinaus: er habe die Religtonslehre von einer spe-
kulativen Beantwortung aller jener Fragen, mit welchen die Spe-
culation sich vergeblich abgemüht hatte, abhängig machen, da-
durch derselben erst ihre feste Begründung und ihr rechtes Ver-
ständniss geben wollen, so dass man dadurch erst das Christen-
thum habe begreifen lernen, dadurch erst die wahre, von nichtt
Aeusserlichem abhängige Festigkeit der Ueberzeugung habe er*
langen sollen. Die Gnosis wäre also mit Einem Worte Religionf-
philosophie, aber in welcher Weise ist sie diess?
Der Name Gnosis ist nicht ausschliesslich dem Kreise von Er-
scheinungen eigen, um dessen geschichtliche Erklärung es hiern
thun ist Gnosis ist ein allgemeiner Begriff, dessen nähere Be-
stimmung erst die Gnosis zu der christlichen Gnosis in dem spe-
eiellen Sinne macht, in welchem wir sie hier nehmen müssen. Gno-
sis ist höheres Wissen, ein seiner Grunde, seiner Vermittlung Am
bewusstes Wissen, oder ein solches Wissen, das ganz das ist, wtf
es als Wissen sein soll. In diesem Sinne bildet die Gnosis den na-
türlichen Gegensatz gegen die Pistis; soll das Wissen in seineia
specifischen Unterschied vom Glauben bezeichnet werden, so kann
diess durch kein anderes Wort bezeichnender geschehen, als durch
das Wort Gnosis. Aber schon in diesem allgemeinen Sinne ist dal
als Gnosis bezeichnete Wissen vorzugsweise ein religiöses ^ nickt
speculatives Wissen überhaupt, sondern ein solches, das sein Ob^
jekt in der Religion hat So gebraucht auch schon der Apostel
Die Gnosif. l6S
Paulas das Wort ypwatg^ wenn er 1 Kor. 8, 1. f. die Ansicht von
dem Gennss des Götzenopferfleisches, die sich selbst als die freiere,
tafgfeklärtere, dem Wesen der Sache entsprechende geltend machte,
mit diesem Worte bezeichnet, und wenn er 12, 8 von einem X6/og
ptivHog spricht, welcher im Unterschied von dem Xoyog aoq>Ug
nur von einem durch die Tiefe seines Inhalts sich auszeichnenden
religiösen Vortrag verstanden werden kann. Bemerkenswerth ist
für unsem Zweck besonders, dass das Wort yw^otq in speciellerem
Sinne namentlich von einem solchen religiösen Wissen gebraucht
wird, das auf allegorischer Schrifterklärung beruht 0- Gnosis
und Allegorie sind an sich schon verwandte Begriffe; da nun in den
meisten gnostischen Systemen, und besonders in denjenigen, in
welchen sich uns die ursprüngliche Form der Gnosis darstellt, die
Allegorie eine sehr bedeutende Rolle spielt, so haben wir hierin
ein sehr specifisches Merkmal und können hauptsachlich auf diesem
Wege dem Ursprung der Gnosis naher kommen.
Die Allegorie ist bekanntlich die Seele der alexandririischen
Religionsphilosophie und mit ihrem Wesen so innig verwachsen,
dtss äre Entstehung selbst nur aus dem Wesen der Allegorie be-
griffen werden kann. Die Allegorie ist überhaupt die Vermittlerin
zwischen der Philosophie und der traditionellen, auf positiver Ueber-
lieferung beruhenden Religion, überall , wo sie im Grossen auftritt,
hat sie diese vermittelnde Bedeutung in einer Zeit, in welcher auf
der einen Seite neben der bestehenden Religion und unabhängig
T(m ihr eine philosophische Ansicht sich gebildet hat, und auf der
indem Seite gleichwohl das Bedurfniss vorhanden ist, die Ideen
and Lehren der Philosophie mit dem Inhalt des religiösen Glaubens
iaUebereinstimmung zu bringen. Der einfache Weg, auf welchem
dieM geschieht, ist, dass der letztere im Sinne der erstem gedeu-
tet, somit religiösen Vorstellungen und Erzählungen ein von ihrem
wörtHehen bihalt völlig verschiedener bildlicher Sinn gegeben
wird. Auf diese Weise entstand die Allegorie schon bei den Grie-
chen. Als zuerst Plato und nach ihm noch mehr die Stoiker das
hteresse hatten, Mythen der Volksreligion für ihre philosophischen
Ideen vbl benutzen, und das philosophische Bewusstsein mit dem po-
pulären in vermitteln, schlugen sie den Weg der Allegorie, der
1} V«^ meiBe Belnift: die ohr. Gnosis S. 85 f.
l64 Dritter Absolinitt. Das Christenthum als absolutes Weltprinoip.
allegorischen Mythendeutung ein. Von den Stoikern namentlich ist
bekannt, welchen ausgedehnten Gebrauch sie von der allegorischen
Auslegung machten, um in den Göttern des Volksglaubens und den
Erzählungen von ihnen ihre naturphilosophischen Ideen nachzu-
weisen. Eine noch weit grössere Bedeutung erhielt jedoch die al-
legorische Erklärung in Alexandrien, wo sie die wichtige Aufgabe
zu lösen hatte, die neuen Ideen, welche in das denkende Bewusst-
sein des Juden eingedrungen waren, mit seinem Glauben an die
Auktoritat seiner heiligen Religionsschriften zu vereinigen. Die
Allegorie allein machte es möglich, dass man auf der einen Seite
ebensosehr die Philosophie der Griechen, namentlich die des Plato,
bewundem und ihre Ideen sich aneignen, als auf der andern die Schrif-
ten des A. T. als die einzige Quelle der göttlich geoffenbarten
Wahrheit -verehren konnte. Man durfte ja nur die heiligen Schrif-
ten allegorisch erklaren, so konnte man alles, was man wollte,
selbst die spekulativsten Gedanken der griechischen Philosophie
in ihnen selbst finden. In welchem weiten Umfang diess in Alexan-
drien geschah, bezeugen die Schriften Philo's , in welchen wir den
ausgedehntesten Gebrauch von der allegorischen Erklärung ge-
macht und den Inhalt des A. T. mit allem, was die Systeme der
griechischen Philosophie darbieten konnten, aufs Innigste ver-
schmolzen sehen. Man würde sich jedoch eine ganz irrige Vor-
stellung machen, wenn man meinte, nur Willkür und das freie Spiel
der Phantasie sei es gewesen, was die allegorische Schrifterklärung
hervorrief und ihr so grossen Einfluss verschaffte. Sie war für den
alexandrinischen Juden auf der Stufe der geistigen Entwicklung}
auf welcher er damals stand, mit seinem zwischen dem altväter-
lichen Hebraismus und dem modernen Hellenismus getheilten Be-*
wusstsein, eine nothwendige Bewusstseinsform, und so wenig hatte
er auch nur eine Ahnung davon , dass das künstliche Band , durch
welches er so heterogene Elemente mit einander verknüpfte , nur
sein eigenes Produkt war, dass ihm alles, was er in den Systemen
der griechischen Philosophen als Wahrheit erkannte, sogar nur ein
Ausfluss der alttestamentlichen Offenbarung zu sein schien. Dfl
nun auch die gnostischen Systeme grösstentheils sehr vielfachen
Gebrauch von der allegorischen Erklärung machen, so kann uns
schon diess daraufhinweisen, dass wir sie unter denselben Gesichts"
punkt zu stellen haben, wie die alexandrinischeReligionsphilosophic*
Die Gnosis. 165
Die Schriften der Gnostiker waren, so weit wir sie noch kennen,
voll allegorischer Deutungen, die sich zwar nicht ebenso, wie wir
diess bei Philo finden, auf die Schriften des A. T. bezogen, da ihre
Stellung zu demselben eine andere war, um so mehr aber auf die
des N. T., die für sie dasselbe waren, wie für Philo die des A.
Um ihren Ideen ein christliches Gepräge zu geben, deuteten sie die
Personen und Begebenheiten der evangelischen Geschichte und be-
sonders auch die in ihr vorkommenden Zahlen so viel möglich alle-
gorisch, wie z. B. den Valentinianem die Zahl dreissig im N.T., na-
mentlich im Leben Jesu, die Zahl ihrer Aeonen bedeuten sollte,
das verlorene, irrende Schaaf war ihnen ihre Achamoth, und selbst
Aussprüchen Jesu, welche eine ganz einfache religiöse Wahrheit
enthalten, gaben sie einen auf die Lehren ihres Systems sich be-
ziehenden Sinn. Welche ausgedehnte Anwendung die Gnostiker
von der allegorischen Erklärung machten, ist nun noch bestimmter
aus den erst neuestens bekanntgewordenen Philosophumenazu
ersehen, deren ungenannter Verfasser es sich zur Aufgabe machte,
die sammtlichen Häresen zu widerlegen 0« Sie wandten sie nicht
Mos auf die Schriften des A. und N. T. an, sondern auch auf Schrif-
ten der griechischen Literatur, wie namentlich die Homerischen
Gedichte; ihre Anschauungsweise war überhaupt so sehr eine al-
legorische, dass sie aus dem ganzen Gebiet der alten Mythologie,
Astronomie, Physik alles herbeizogen, um dieselben Ideen, die der
höchste Gegenstand ihres Denkens und Wissens waren, überall
wieder ausgedrückt zu finden 0. Wie aber die allegorische Be-
1) *SiQiyivtii q:iloooq>suBvat ij itard Ttaaotv alfjiasmv aXtyxoe» E codice
Parisino nunc primum edidit Emmanuel Miller. Oxonii 1851.
2) Man vgl. die Philos. 5| 8 S. 106: rsrots xnl to'iC rut^rois tirofAS-
*o* Ol &avfAaaiojrarot rv/joTtMoi, icp6V(jaTai xsv^Q t^x^'V^ ygafifitnuilQ, tov
ittvTÖiv TrgogiijTTfv ' Ouijgov ravra ngo^aivovTa aggr^rutS Su^d^HOt nal tüS
•fiviJToS Tai dytas ygat/ds tis roiavrae tvt-oiaS awdyovrts ivvßgiZtiai» 4} 46«
8» 81 : "iva Bi aaq>iartga to7s Ivrvyxdvsat rd grj&rjaoutva (pnv/Jt Soxsi xai
'a Tuf Ago-Xiif TtttfgovTiüfiiva ittgX t^9 xard tujv agaviwv ciargwp Sin&i-
WtoC iia&Ttsiv^ vU Tivii th rd vjto rvßv Pga^ojv stg^uita d^tiMOvi^ovzsQ
■fra aXlr^yogtiOi, fAsrd (leg. dnatav oder nkavav) tov vhv Tuir irgoae/cv-
tfo» nsigwusvoh vit&at'oU Xoyois ngoadyovrsQ avTüi ngoc a ßaloi rat, ^ivop
vttvfia, ivStiHvvßitroit vU xaTr^oTegiafiivwp tujv vn avTOtv Xtyouivmv, 5, 20.
°> 143 wird von den Sethianem gesagt: tati di 6 Xoyoe avrußv aiyxeiusvoe
tn tfvaiHvSv nal irgos tttga tigijfiivüiv gij/AaTWVf a 9iS xov dtSiOv Xoyo» ^fi-
106 Dritter Abichnitt. Das Chrittepthmn als absolutes Weltprindp.
trachtungsweise überhaupt nur das Mittel ist, einem aus Tcrsohie^
denartigen Elementen bestehenden Inhalt eine demselben ent-
sprechende, auch für das Heterogenste gleich durchsichtige Form
zu geben, so ist auch bei der Gnosis nach der innem Beschaffen-^
heit des Inhalts zu fragen, für welchen die Allegorie eigentlich nur
die äussere Form der Darstellung ist Auch in dieser Beziehung
steht die Gnosis in einem so nahen Verwandtschaftsverhältniss za
der alexandrinischen Religionsphilosophie, dass sie im Wesentlichen
nur als eine Fortbildung derselben zu betrachten ist Auch sie
nahm, wie jene, ihren Hauptinhalt aus der griechischen Philosophie,
und wie man das System Philo's ein speculatives Religionssystem
nennen kann , so haben auch die gnostischen Systeme einen ganz
ähnlichen Charakter. Unter diesen Gesichtspunkt stellten schon
die alten Kirchenlehrer die Gnosis, sie erklärten sie im Gegensati
zum Christenthum für eine rein weltliche Weisheit und machten es
der Philosophie zum Vorwurf, dass sie die Urheberin der Häresen
sei , wie namentlich Tertullian 0« Und nicht blos im Allgemeine
TayovTSi Sujyavrat» S. 144: "Eon dk avroiQ ij näaa 3tdaoxaXia xb liyt
vTto r<Sv nalaiwv d'aokoyuiv Maaaia xal ^ps, nal rS reis rakarai nal xi
fAvat^QM nataSti^avTOQ 'öQ^pifos, Von der gnostischen Secte der TJf^eerM
heisst es 5, 13- S. 137 1 dass sie iwtipevad/ievoi rtf r^c aXij&^taQ opoftuu
OiS XgiarS Xoyov nartjyye^Xav altuvojv araaiv nal diroaraaiat dya&tuv Sih-
pd/iBüi» 8is naxd ü. s. w. Die ganze Phantasie der Astrologen über die
Sterne deuten sie in ihrem Sinne, woraus man sehen könne, dass ihre l#fM
twv doTQokoyojv 6fioXoyofM,ivw9 elalv 8 Xq^otü.
1) De pmscT. hier. c. 7. Hsb sunt doctrinae hominum et daemoniorom
prurientibus auribus natae , de ingenio sapientiae secularis , quam Dominos
stultitiam Yocans, stulta mundi, confusione etiam philosophiae ipsius, elegit
Ea est enim materia sapientiae secularis, temeraria interpres divinae nators
dispositionis. Ipsae denique haereses a philosophia Bubomantur. Inde aeones et
formae nescio quae, et trinitas hominis apud Yalentinum, Platonicus fherat
Inde Marcionis Deus melior de tranquillitate, a Stoicis yenerat, et uti anima in-
terire dicatur, ab Epicnreis observatur. Et ut camis restitutio negetnr , de
una omnium philosophorum schola sumitur. Et ubi materia cum Deo aequa-
tur, Zenonis disciplina est, et ubi aliquid de igneo Deo allegatnr, HeracUtiu
intervenit. Eaedem materiae apud haereticos et philosophos yolutantnr,
iidem retractatus implicantur. Unde malum et quare, et unde homo et
quomodo ? et quod proxime Valentinus proposuit, unde Deus ? soilicet de en-
thymesi et ectromate. Sequitnr Aristotelem, qui illis dialecticam institoit,
artificem struendi et destruendi, yersipellem in sententiis, in conjectmis
duram, in argumentis operariam, contentione molestam etiam sibi ipd, oror
nia traotantem, ne quid omnino tractayerit
Die Gnosis. 167
leitete man die GnosLs aus der Philosophie ab, sondern man suchte
auch im Einzelnen nachzuweisen, aus welchen philosophischen
Systemen die Gnostiker die Hauptideen und Principien ihrer Systeme
entlehnt haben. Nach dem Vorgang des Irenäus und Tertullian ist
es besonders der Verfasser der Philosophumena, welcher diesen
Gedanken im weitesten Umfang ausführte. Das ganze Werk ist
darauf angelegt, die Widerlegung der gnostischen Häresen, die es
bezweckt, besteht nur in der Nachwetsung, dass der Eine diesem,
der Andere jenem griechischen Philosophen gefolgt sei , wie na-
mentlich der Magier Simon Heraklit, dem Dunkeln , Valentin dem
Pythagoras und Plato, Basilides dem Aristoteles, Marcion dem Em-
pedokles. Um diese Uebereinstimmung so genau als möglich dar-
zathun, hat der Verfasser der Philosophumena die Lehren der
griechischen Philosophen von Thaies an der Reihe nach auseinan-
dergesetzt Seine Beweisführung ist zwar nicht sehr überzeugend,
da er sich mehr nur an Einzelnheiten und äussere Analogien halt,
im Ganzen aber wird auch durch seine Darstellung die allgemeine
Ansicht bestötigt, dass es die philosophische Anschauungsweise des
Alterthums ist, welche der Gnosis zu Grunde liegt, und von ihr
luf das Christanthum übergetragen und mit demselben zu einem
lus verschiedenen Elementen bestehenden, aber von einer und der-
selben Grundanschauung getragenen System verschmolzen worden
ist Nach dem allgemeinen Eindruck, welchen solche Parallelen
und Analogien machen, kann man nur das Urtheil fällen, dass die
Gnosis eine Umdeutung und Umbildung der griechischen Philoso-
pliie oder der aus ihr hervorgegangenen alexandrmischen Reli-
gionsphilosophie in das Christenthum ist Der substanzielle Inhalt
ist aus der heidnischen Philosophie, was vom Christenthum hinzu-
gekommen ist, ist mehr nur ein Accidens an der Substanz der
Gnosis.
Um aber ihr Wesen genauer kennen zu lernen, ist sie nach
ihren Hauptbestandtheilen so zu analysiren, dass jeder ihrer cha-
rakteristischen Begriffe darauf angesehen wird, ob in ihm mehr die
litidnische oder die christliche Anschauungsweise ausgedrückt ist
Der Grundcharakter der Gnosis in allen ihren Formen ist
dualistisch und nichts Anderes bezeichnet sie so unmittelbar als ein
Enengniss der heidnischen Anschauungsweise, als ihr so scharf
ausgeprägter, durch alles hindurchgehender Dualismus. Wie das
16S Dritter Abschnitt. Das Chriitenthinn als absolutes Wel^rincip.
heidnische Alterthum nie über den Gegensatz von Geist und Ma-
terie hinauskam, und sich keine durch die freie schöpferische Thi-
tigkeit eines rein persönlichen Willens hervorgebrachte Welt den-
ken konnte, so bilden auch in den gnostischen Systemen die beides
Principien Geist und Materie den allgemeinsten Gegensatz, in des-
sen Sphäre alles, was ihren Inhalt ausmacht, sich bewegt Da die
beiden Principien nicht in einem abstrakten Gegensatz einander ge-
genüberstehen können, so kann der Hauptinhalt der gnostischen
Systeme nur der aus der gegenseitigen Berührung der beiden Prin-
cipien entstehende Process der Weltentwicklung sein. Die Weh
ist der Inbegriff der durch die Beschränkung des absoluten Gegen-
satzes bedingten, relativen und gebundenen Gegensätze, alles hat ii
ihr seinen bestimmten Verlauf, je nachdem das wechselnde Ueber-
gewicht auf die eine oder die andere Seite des allgemeinen Geges-
satzes fällt. Die sollicitirende Thätigkeit geht entweder von der
einen oder der andern Seite aus, geht sie von der Materie aus, lo
ist die Materie in ihrer Selbstthätigkeit auch das Princip des Bösen,
und der Process der Weltentwicklung nimmt die Gestalt zweier
feindlichen gegen einander reagirendcn Mächte an, eines fortge-
henden Antagonismus. Die Materie, als das Reich der Finstemiff}
hat den natürlichen Trieb der Feindschaft gegen das Lichtprind^
Liegt der erste Impuls der Weltentwicklung auf der Seite des gei*
stigen Princips, so kann er auch nur geistiger Art sein, das be-
wegende Princip ist der Process des Geistes mit sich selbst, deseei
naturgemässes Streben dahin geht, sich von sich selbst zu unte^
scheiden und in dem Unterschied der verschiedenen, durch die
denkende Thätigkeit fixirten Momente zum selbstbewussten, in wk
reflectirten Geist zu werden. Von dieser höchsten Höhe eines reia
geistigen Processes geht der Process der Weltentwicklung erst u
der Sphäre des physischen und materiellen Lebens fort, die Materie
ist selbst nur die Grenze des geistigen Seins, der sich selbst objeo-
tiv und äusserlich gewordene Geist. So negativ aber auch derBe-
griff der Materie ist, die dualistische Betrachtungsweise behauptet
wenigstens darin den absoluten Gegensatz ihrer Principien , dm
schon in dem Drange des Geistes, aus sich selbst herauszugehei
und sich zu objectiviren, das Princip der Materie gesetzt ist, esirt
der nicht weiter erklärbare Hang des sich selbst materialisirendet
Geistes zur Materialität* Ist es nun auch ebenso sehr im Wesea
Die Gnosis. Geint und Materie. J09
des geistigen Princips begründet, dass der Geist der Gewalt, welche
die Materie über ihn erhalten hat, sich wieder entledigt, das abso-
lote Uebergewicht über jede Beschränkung und Verdunklung
durch die Materie gewinnt, und der ganze Verlauf der Weltent-
Wicklung zuletzt nur damit endigt, dass der Geist als reiner Geist
in sich selbst zurückkehrt, so bleibt doch der absolute Gegensatz
der Principien in letzter Beziehung immer noch darin, dass der-
selbe Process der Weltentwicklung immer wieder von Neuem be-
ginnen und denselben Verlauf nehmen kann. Das Princip der Ma-
terie kann nie so aufgehoben und der Gegensatz der beiden Prin-
cipien nie so abstrakt gedacht werden, dass nicht für den Geist die
Möglichkeit oder Nothwendigkeit vorhanden ist, in einer unend-
lichen Reihe von Welten immer wieder in denselben Process der
Weltentwicklung hineingezogen zu werden. Da die Materie sich
nicht zum Geist erheben, wohl aber der Geist zur Materie sichent-
iossem und in sie herabsinken kann , so sind es die Emanationen
mid Projektionen (n^oßoXai) des Geistes, durch welche die unend-
liche Kluft zwischen dem Geist und der Materie ausgefüllt und der
llebergang vom Geist zur Materie so viel möglich vermittelt wird.
Daher nehmen in den meisten gnostischen Systemen die Aeonen,
als die Formen des sich objectivirenden Geistes, eine sehr wichtige
Stelle ein, und es ist diesen Systemen hauptsächlich auch dadurch
das Gepräge der alterthümlichen Anschauungsweise aufgedrückt,
da die Aeonen nichts anders sind, als die personificirten Ideen, die
Urbilder der endlichen Welt, mit welchen auch der Gegensatz der
idealen und realen, oder der obem und untern Welt gegeben ist,
Welcher gleichfalls für die gnostischen Systeme eine tiefer ein-
greifende Bedeutung hat
Ein weiterer Hauptbegriff derselben ist der Demiurg. Da die
iK^iden höchsten Principien der Geist und die Materie sind, und
«ben dadurch der eigentliche Begriff einer Weltschöpfung ausge-
schlossen ist, so ist es ein charakteristischer Zug der gnostischen
Systeme, dass sie den Weltschöpfer von dem höchsten Gott tren-
nen, und ihm eine demselben untergeordnete Stellung geben. Er
irt daher nicht sowohl Weltschöpfer als Weltbildner. Wie kommen
aber überhaupt die Gnostiker zu ihrem Demiurg? Aus seiner
Identificirung mit dem Gott des Judenthums könnte man schliessen,
er sei einzig nur aus dem Judenthum in ihre Systeme gekommen,
170 Dritter Absohnitt. Das Cbristenthum als absolutes Weliprinoip.
und sein Beg^riff gehöre daher auch nur dem Standpunkt der ju-
dischen Religion an. Allein auch der Piatonismus hatte ja schon
seinen Demiurg, und zwar an derselben Stelle, wie die Gnosis.
Auf der einen Seite steht zwar der platonische Demiurg über den
^tot ^mv, den Göttern der mythischen Naturreligion, als d^
Eine Gott und der Vater der Werke, welche von ihm geschaffen,
so lange er will, nicht aufgelöst werden, auf der andern aber hat
er selbst wieder ein höheres Princip über sich. Denn was ist es
anders als Abhängigkeit von den Ideen, wenn der platonische
Gott sein Schöpfungswerk nur so vollbringen kann, dass er aof
das stets sich gleich Bleibende, die Ideen, als seine Urbilder hin-
blickt? Da nun auch bei Plato der Demiurg dieselbe nnterge(Mrd-
nete Stellung hat, wie bei den Gnostikern, so kann auch die An-
schauung, welche dabei zu Grunde liegt, bei beiden nur dieselbe
sein. Wie bei Plato überhaupt auch das Mythische seine inuna-
nente Wahrheit hat, sofern ihm der Mythus eine nothwendige Fonn
für die Darstellung der abstracten philosophischen Idee ist, so ist
auch sein Demiurg eine mythische Gestalt, es ist in ihm die schö-
pferische Macht der Ideen mythisch personificirt, aber diese Per-
sonification ist die Form, in welcher sich allein die mythische
Anschauung mit dem philosophischen Bewusstsein vermittelt* In
dem platonischen Demiurg löst sich der mythische Polytheismus
in einen Monotheismus auf, dessen höchste Wahrheit eben darin
besteht, dass an die Stelle des unbestimmbar Vielen das schlecht-
hin Eine tritt, in welchem zwar die Einheit der Ausdruck der ab-
soluten Idee ist, aber auch das mythische Element sich dadurch
in seinem Rechte behauptet, dass der Eine Weltschöpfer ein firen
thätiges persönliches Wesen derselben Art ist, wie die Götter
des mythischen Volksglaubens. Aus demselben Gesichtspunkt ist
nun auch der gnostische Demiurg aufzufassen. Sagt man, die
Gnosis habe ihren wesentlichen Inhalt aus der griechischen Phi-
losophie genommen, so ist diess nur die eine Seite der Sache,
die andere ist, dass sie diesen Inhalt in einer Form der Darstel-
lung gibt, in welcher sich die mythische Anschauungsweise d^
griechischen Volksreligion reflectirt Nicht blos die griechische
Philosophie, auch die griechische Mythologie ist ein wesentlicher
Bestandtheil der Gnosis. Alle jene Wesen der Aeonenwelt, in
welchen die Idee des Absoluten in ihren verschiedenen Besie-
Die Qnosis. Der Demiarg. J71
hangen dargestellt ist, sind mythische Gestalten, und der Demiarg
anterscheidet sich nur dadurch von ihnen, dass gemäss der nie-
drigen Stufe, auf welcher er steht, auch seine mythische Form
eine um so concretere ist Er ist der Reflex und Repräsentant
des populären mythischen Gottesbewusstseins. Dass die Gnosti*
ker den Demiurg mit dem Gott des Judenthums identificirten, hat
seinen nächsten Grund darin, dass der Gott des Alten Testaments
vorzugsweise als Schöpfer und Herr der Welt geschildert wird, aber
es spricht sich darin auch die Ansicht aus, welche die Gnostiker
von der alttestamentlichen Religion hatten. Sie konnten sie nur auf
eine Stufe der religiösen Entwicklung stellen, auf welcher das
religiöse Bewusstscin sich noch nicht über eine Vorstellung er-
hoben hatte, welche, wie die des Demiurg, noch so viele sinn-
liche Elemente an sich hatte. An dem gnostischen Demiurg haupt-
sächlich ist zu sehen, dass der Inhalt der Gnosis nicht sowohl
Philosophie als Religion ist Was aber die Religion von der Phi-
losophie unterscheidet, ist die concretere, sinnlichere Form der
Darstellung, in welcher die an sich abstracte philosophische Idee
erscheint Da nun die Gnosis allen Vorstellungen dieser Art eine
mehr oder minder untergeordnete Stufe anweist , sie um so nie-
driger stellt, je sinnlicher ihr Gepräge ist, so stellt sie sich mit
ihrem denkenden Bewusstsein über die Sphäre der mythisch-reli-
giösen Vorstellungsweise, sie ist eben desswegen weder Philo-
sophie noch Religion an sich, sondern beides zugleich, indem sie
diese beiden Elemente ihres Wesens, das philosophische und das
religiöse, in ein solches Verhältniss zu einander setzt, dass sie
ihrem allgemeinen Charakter nach nur als Religionsphilosophie
bezeichnet werden kann. Wie das Verhältniss der Religion zur
Philosophie verschieden bestimmt werden kann, je nachdem beide
nach Inhalt und Form mehr oder minder identisch gedacht wer-
den, so zeigt sich diess am gnostischen Demiurg. Je enger, wie
wir diess bei dem platonischen Demiurg sehen, mit dem Demiurg
die absolute Idee Gottes sich verbindet, um so mehr erscheint
das mythisch Persönliche als eine an sich nothwendige, mit dem
Inhalt unzertrennlich zusammenhängende Form der Darstellung,
je tiefer aber, wie in den gnostischen Systemen, der Demiurg un-
ter den absoluten Gott gestellt und je schärfer er von ihm ge-
trenni wird, um so mehr drückt sich darin die Entschiedenheit
179 Dritter Abschnitt. Das Chrittenthnm als abtolates Weltprindp.
aus, mit welcher die philosophische Betrachtung über das sinnlich
Concreto der religiösen Vorstellungsweise sich hinwegsetzt. Das
Verhältniss aller dieser Begriffe, Standpunkte und Gegensätze hat
die Gnosis dadurch fixirt, dass sie nicht blos zwei, sondern drei
Principien aufstellt, und das in der Mitte zwischen dem Pneuma-
tischen und Materiellen stehende Psychische als das eigenthüm-
liche Gebiet des Dcmiurg betrachtet. Die drei Principien sind die
Elemente alles natürlichen und geistigen Seins, namentlich theilen
sich durch sie die Menschen in drei wesentlich verschiedene Klas-
sen. Ist es überhaupt möglich, dass die beiden Principien, Geist
und Materie, sich vereinigen, so kann diess nur durch eine solche
Form geschehen, welche, wie das Psychische, vermittelnd da-
zwischen trat Das Psychische ist so zwar ein drittes Princip, da
es aber an sich nur zwei Principien sind, und das eigentlich Sub-
stanzielle in dem Psychischen doch nur das Pneumatische in ihm
ist, so liegt es in der Natur des Psychischen, dass es sich zuletzt
in das Pneumatische auflöst. Es ist das Endliche, Vergängliche,
wie ja die ganze Welt des Demiurg zuletzt wieder ein Ende neh-
men muss. Der Unterschied des Pneumatischen und Psychischen,
auf welchen auch der Unterschied der Philosophie und der Reli-
gion zurückzuführen ist, beruht daher in letzter Beziehung darauf,
dass es überhaupt verschiedene Standpunkte der Betrachtung gibt,
auf welchen der an sich identische Inhalt in verschiedener Form
sich darstellt
Was der Demiurg auf der einen Seite der gnostischen Sy-*
steme in der nach unten gehenden Richtung ist, ist auf der andern
in entgegengesetzter Richtung Christus. Wie es abwärts geht,
muss es auch wieder aufwärts gehien, und die gnostischen Sy-
steme beurkunden ihren christlichen Charakter nicht blos dadurch,
dass sie Christus diese bestimmte Stelle in dem Organismus ihres
Systems geben, sondern auch durch das grosse Gewicht, das sie
auf diese Seite desselben legen. Der Wendepunkt des durch seine
verschiedene Momente sich hindurchbewegenden Systems liegt in
Christus. Alles, was in irgend einer Beziehung dazu dient, das
Euie mit dem Andern zu vermitteln, den Zusammenhang des Ganzmi
aufrecht zu erhalten, das Abgerissene wieder anzuknüpfen, das
Abgefallene zurück zu bringen, aus der untern Welt zur obern
zu gelangen, überhaupt alles dahin zu führen, wo die Vollendung
Die Gnofiis. ChristiiB. 173
und der Abschluss des ganzen Weltverlaufs liegt, alles diess knüpft
sich an die Namen Christus und Jesus und die mit ihnen verwand-
ten Begriffe. In ihnen liegt das Ziel, nach welchem die ganze
Weltentwicklung strebt* Was ursprünglich nur eine Erlösung im
sittlich religiösen Sinne ist, ist in den gnostischen Systemen die
Wiederherstellung und Vollendung der gesammten Weltordnung.
Wie Christus schon in der Aeonenwelt die gestörte Harmonie wie-
der herstellt, als zusammenhaltendes, befestigendes und einigen-
des Princip wirkt, so hat der durch die Maria geborene Jesus,
der Soter in diesem bestimmten Sinne, in der untern Welt dieselbe
Aufgabe der dioQ&maig oder inapoQ&cDGtg, wie dieGnostiker ihren
Begriff der Erlösung bezeichnen. Christus ist nicht sowohl Heils-
princip, als vielmehr allgemeines kosmisches Princip. Wie das
System der gnostischen Weltanschauung auf der einen Seite, auf
welcher der Hervorgang des Endlichen aus dem Absoluten ange-
schaut und begriffen werden soll, seine Richtung von oben nach
unten nimmt, und immer tiefer herabgeht, bis «s zuletzt auf den
Punkt kommt, auf welchem der allgemeine Umschwung erfolgen
muss, so begreift das Christenthum alles in sich, was auf der
andern entgegengesetzten Seite in der Richtung von unten nach
oben liegt Die Anknüpfungspunkte und Elemente einer solchen
Auffassung des Christenthums enthält auch schon der paulinische
Lehrbegriff, wenn Adam und Christus an der Spitze der beiden
grossen Weltperioden stehen, und als die beiden Principien des
Psychischen und des Pneumatischen, des Todes und des Lebens,
einander gegenüber gestellt werden, wenn Christus es ist, durch
welchen als den Sieger über Sünde, Tod und Hölle Gott alles so
uiterworfen wird, dass Gott zuletzt ist Alles in Allem. Noch ver-
wandter ist, aber ohne Zweifel schon durch die Einwirkung der
Gnosis selbst, die auf emen so hohen und allgemeinen Standpunkt
sich stellende Christologie der beiden Briefe an die Epheser und
Kolosser. Allein nur in den gnostischen Systemen ist Christus in
einen Zusammenhang hineingestellt, in welchem seme Erschei-
nung und Wirksamkeit, oder das Christenthum überhaupt, nur au4
dem Gesichtspunkt eines Processes aufgefasst werden kann, in
welchem die Weltentwicklung von Anfang bis zu Ende ihren
bestimmten, durch den Gegensatz der Principien bedingten Ver-
lauf nimmt
J74 Dritter Abschnitt. Dm Christentham als absolutes Weltpiiiieip.
Ehe das Wesen der Gnosis weiter entwickelt werden ktnii,
sind die verschiedenen Sekten, Formen und Systeme derselben
in ihrer geschichtlichen Folge kurz zu überblicken.
Der erste bekannte christliche Gnostiker ist der Judenchrist
Cerinth, bei welchem auch nach der neuen Quelle für unsere
Kenntniss der gnostischen Lehren das Charakteristische der
Gnosis schon darin hervortritt, dass er die beiden Begriffe Gott
und Weltschöpfer von einander trennte. Die Welt sei, soll er
gelehrt haben, nicht durch das erste Wesen entstanden, sondern
durch eine von dem aligemeinen Princip getrennte Macht, welche
den über alles erhabenen Gott nicht kannte. Das christliche Ele-
ment seiner Gnosis drückt sich in der Behauptung aus, Jesus sei
der natürliche Sohn Josephs und der Maria gewesen, von den übrigei
Menschen nur dadurch verschieden, dass er gerechter und wdser
als sie war, nach der Taufe sei auf ihn Christus, der Sohn des
höchsten Gottes, in der Gestalt einer Taube herabgekonimefl, er
habe den unbekannten Vater verkündigt, zuletzt aber habe
Christus ihn wieder verlassen, und während Jesus litt und anf-
erweckt wurde, sei Christus leidenslos geblieben.
Nach den Kirchenvätern soll der Magier Simon der ersie
Gnostiker, der Stammvater aller gnostischen Sekten gewesen sein,
eine Behauptung, deren völlige Grundlosigkeit schon daraus er«
hellt, dass, wenn Simon wirklich der Urheber aller der Lehren
gewesen wäre, welche die Kirchenväter ihm zuschreiben, der
Ursprung der Gnosis in eine Zeit zurück datirt werden müssle,
welche allen geschichtlichen Data zufolge demselben noch sehr
fern liegt. Der Magier Simon der Kirchenväter ist, wie schon
bemerkt worden ist, eine durchaus apokryphische und mytUsehe
Gestalt, in welcher man nur eine Personification der Gnosis sehen
kann. In dem Vorgeben, er sei selbst der höchste Gott, ^scheint
er selbst nur als der Träger der in ihm personificirten gnostischen
Idee des Urwesens. Die Grundanschauung der Gnosis aber, die
in ihm und der ihm beigegebenen Helena mythisch symbolisirt wer-
den soll, ist die gnostische Idee der Syzygie. Indem die Gnosti'
i) Phnos. 7, 33. 8* 256 f» Vgl. Ifeh. i, 2d*
3) roy yvwatoy Ttaviga heisst es Philo»« S* 357» es mtiss abef ayvoi^
Qtov beissen, nach Irenäus a. a« O.
Die Gnofiis. ChristiiB. 173
und der Abschldss des ganzen Weltverlaufs liegt, alles diess knüpft
sich an die Namen Christus und Jesus und die mit ihnen verwand-
ten Begriffe. In ihnen liegt das Ziel, nach welchem die ganze
Weltentwicklung strebt* Was ursprünglich nur eine Erlösung im
sittlich religiösen Sinne ist, ist in den gnostischen Systemen die
Wiederherstellung und Vollendung der gesammten Weltordnung.
Wie Christus schon in der Aeonenwelt die gestörte Harmonie wie-
der herstellt, als zusammenhaltendes, befestigendes und einigen-
des Princip wirkt, so hat der durch die Maria geborene Jesus,
der Soter in diesem bestimmten Sinne, in der untern Welt dieselbe
Aufgabe der dioQ&aung oder inapo^^matg, wie dieGnostiker ihren
Begriff der Erlösung bezeichnen. Christus ist nicht sowohl Heils-
princip, als vielmehr allgemeines kosmisches Princip. Wie das
System der gnostischen Weltanschauung auf der einen Seite, auf
welcher der Hervorgang des Endlichen aus dem Absoluten ange-
schaut und begriffen werden soll, seine Richtung von oben nach
unten nimmt, und immer tiefer herabgeht, bis es zuletzt auf den
Paukt kommt, auf welchem der allgemeine Umschwung erfolgen
muss, so begreift das Christenthum alles in sich, was auf der
uidem entgegengesetzten Seite in der Richtung von unten nach
oben liegt. Die Anknüpfungspunkte und Elemente einer solchen
Auffassung des Christenthums enthält auch schon der paulinische
Lehrbegriff, wenn Adam und Christus an der Spitze der beiden
grossen Weltperioden stehen, und als die beiden Principien des
Psychischen und des Pneumatischen, des Todes und des Lebens,
einander gegenüber gestellt werden, wenn Christus es ist, durch
welchen als den Sieger über Sünde, Tod und Hölle Gott alles so
unterworfen wird, dass Gott zuletzt ist Alles in Allem. Noch ver-
wandter ist, aber ohne Zweifel schon durch die Einwirkung der
Cnosis selbst,: die auf einen so hohen und allgemeinen Standpunkt
sich stellende Christologie der beiden Briefe an die Epheser und
Kolosser. Allein nur in den gnostischen Systemen ist Christus in
einen Zusammenhang huieingestellt, in welchem seine Erschei-
nung und Wirksamkeit, oder das Christenthum überhaupt, nur au4
dem Gesichtspunkt eines Processes aufgefasst werden kann, in
Welchem die Weltentwicklung von Anfang bis zu Ende ihren
bestimmten, durch den Gegensatz der Principien bedingten Ver-
ruf nimmt.
176 I>ritter Abschnitt. Dm Chiistenthiim als absolutes Weltprincip.
Princip gedacht ist, so ist auch das in ihm enthaltene differensi-
rende Princip geistiger Art, es ist der Gedanke, die denkende
Thätigkeit des höchsten Wesens, die inlvoia. Mythisch personi-
ficirt ist sie in der dem Simon znr Seite stehenden Helena, nadi
der Weise der Gnostiker, die bildlichen Formen zur Darstellung
ihrer speculativen Ideen auch aus der griechischen Mythologie n
entlehnen 0-
Die ältesten gnostischen Sekten sind ohne Zweifel diejenigen,
welche ihren Namen nicht von einem bestimmten Sektenstifler ha-
ben, sondern in ihm nur den allgemeinen Begriff der Gnosis aus-
drücken. Ein solcher Name ist der der Ophiten oder Naassener.
Ophiten, Schlangenbrüder, werden die Gnostiker genannt, zwar
nicht nach der Schlange, mit welcher die Kirchenväter die Gncm
verglichen, um das gefährliche Gift ihrer Lehre zu bezeichnei
und sie als die vielköpfige, immer wieder ein neues Haupt erhe-
bende Hydra darzustellen, sondern weil ihnen die Schlange, die
schon bei dem Sündenfall als das intelligente Wesen erscheint,
das mit seiner Dialektik Gutes und Böses so in einander zu ver-
flechten weiss, dass damit der im Antagonismus der beiden Prin-
cipien sich entwickelnde Process der Weltgeschichte seinen An-*
fang nahm, das Symbol ihres höheren Wissens selbst war. Die
ersten Priester und Vorsteher des Dogma waren, wie der Ver^
fasser der Philosophumena sagt, die sogenannten Naassener, wie
sie mit dem hebräischen Namen der Schlange bezeichnet werden,
darauf nannten sie sich Gnostiker, weil sie behaupteten, allein die
Tiefen zu erkennen, und von diesen aus theilte sich die Eine Hi*
rese in verschiedene Zweige, indem sie in verschiedenen Dogmen
dasselbe lehrten. Nachlrenäus und Epiphanius hatten sie ein durch
verschiedene Momente durchgeführtes, dem valentinianischen sehr
ähnliches System ^. Einfacher erscheint ihre Lehre in den Phi-
losophumena. Wie angeblich Simon, bestimmten auch sie das Ur-
objectirt bat, gebt er aus dieser Selbstentäassenuig in die Einheit des Ptb*
Oips snrack).
1) Pbilos» 6i 19* wird Yon Simon gesagt, dass er h fiovov rd Mwtimi
iitaii(ni%vfjaa9 alt 6 ißbketo fn^rjQfirjvBvoBVi alld *al td rtSv 'xoifjxoiv, £r
repräsentirt aacb darin ganz das alles dorcb allegorisobe Erklttrting an sieh
siebende Wesen der Gnosis. Vgl. die cbristUcbe Gnosis S. 305 f«
%) Vgl. die ohxisOicbe Gnosis S. I7l £i
Die Ophiten. 177
wesen als ein mannweibliches, nannten es aber Mensch und Men-
schensohn, oder Adamas CAdam), und unterschieden in ihm die
drei Prinzipien, das geistige, psychische und materielle. Mit der
Erkenntniss des Menschen sollte die gnostische Vollkommenheit
beginnen, um mit der Erkenntniss Gottes zu enden 0* Dem Urmen-
schen stellten sie Jesum gegenüber. Alles, was der Urmensch in
sich vereinigte, das Geistige, Psychische und Materielle, sei, be-
haupteten sie, zusammen auf den Einen Menschen, den von der
Maria geborenen Jesus, herabgekommen. Gleicher Art sind die
bisher nur dem Namen nach bekannten Peraten, mit deren Lehre
erst der Verfasser der Philosophumena die Geschichte dieser Hä-
retiker bereichert ^. Sie nahmen drei Principien an, das erste
ist das ungezeugte Gute, das zweite das selbsterzeugte Gute, das
dritte das erzeugte. Alles ist dreifach getheilt, und Christus ist
der Inbegriff aller Dreitheilungen. Aus den zwei obem Welten,
der ungezeugten und selbsterzeugten, seien in diese Welt, in wel-
cher wir sind, die Samen aller möglichen Kräfte herabgekommen,
aus der Ungezeugtheit sei nun auch Christus von oben her gekom-
men, um durch seine Herabkunft alles, was dreifach getheilt ist,
zu retten, durch ihn wird alles, was von oben nach unten gekom-
t men ist, zurückkehren. Die dritte Welt muss zu Grunde gehen,
die beiden obem Welten aber sind unvergänglich. Als Stifter der
peratischen Härese werden genannt Euphrates, der Peratiker, und
Kelbes der Karystier, der Name scheint sich aber vielmehr darauf
\ za beziehen, dass die Peraten als die, welche allein wissen, was
das nothwendige Gesetz des Entstandenen ist, und auf welchen
Wegen der Mensch in die Welt gekommen ist, auch allein die zu
^ behaupteten, welche die Vergänglichkeit überwinden können
{(kil&iiv xal mgaaui rnjp qf&ogoip') *). Das Princip des Vergäng-
lichen setzten sie in das Wasser. Diess ist der Tod, sagten sie,
welcher die Aegyptier im rothen Meere ergriff. Alle Unwissenden
ftber sind Aegyptier. Deswegen soll man Aegypten verlassen, d. h.
den Leib. Den Leib betrachteten sie als ein kleines Aegypten, und
1) PhiloB. 5) 6« S. 95: *jiQXV '^^Xeiciaeios yviuoi9 äv&Qdint/i &6u di
pfnoiQ dittjQTtofiivrj TsXsiatais. ->
3) Philos. 5, 12. S. 123 £.
3) Philos. 5, 16. S. 131.
Bnur, die drei erfiten Jnhrh. *^
I7S Dritter Abschnitt. Das CliriHtenthnm als absolutes Weltprineip.
verlangten, dass man durch das rotlie Meer, d. h. das Wasser der
Vergänglichkeit, das Kronos ist, hindurchgehe, und in die Wüste
sich begebe , d. h. über die zeitliche Welt hinaus dahin gelange,
wo alle, die Götter des Verderbens und der Gott des Heils, zusam-
men sind. Die Götter des Verderbens sind die Sterne der verän-
derlichen Welt, welche alles Werdende der Nothwendigkeit unter-
werfen. Moses nannte sie die stechenden Schlangen der Wüste,
welche die tödteten, die das rothe Meer zurückgelegt zuhaben
meinten. Den in der Wüste Gestochenen zeigte er die wahre
Schlange, die vollkommene, wer an sie glaubte, wurde in der
Wüste nicht gestochen. Niemand kann die retten, die aus dem
Lande Aegypten ausziehen, d. h. aus dem Leibe und aus dieser
Welt, als allein die vollkommene Schlange. Wer auf sie seine
Hoffnung setzt, wird von den Schlangen der Wüste nicht ver-
nichtet , d. h. von den Göttern der zeitlichen Welt Die Bedeu-
tung, welche die Schlange in mehreren Stellen des Alten Te-
staments hat, als heilskräfliges Symbol in der Wüste, als der wun-
derthätige Stab des Moses in Aegypten C2 Mos. 4, 17.), und vor
allem in der Geschichte des Sündenfalls 0? stellte sie in den Au-
gen der Gnostiker so hoch, dass sie in ihr eines ihrer höchsten
Principien anschauten. Die Schlange war dasselbe, was der Soki
war. Zwischen dem Vater auf der einen und der Materie auf der
andern Seite ist der Sohn, der Logos, die Schlange, die sich im'
mer sowohl gegen den bewegungslosen Vater, als die sich bewe-
gende Materie bewegt, bald wendet sie sich zum Vater und ninunt
seine Kräfte in sich auf, bald wendet sie sich mit diesen Kräto
zu der Materie, und die formlose Materie prägt die Ideen von
Sohne in sich aus, welche der Sohn vom Vater in sich ausgeprägt
hat. Und wie die Schlange die Vermittlerin zwischen dem Vater
und der Materie ist, um die Kräfte der obern Welt in die untere
herabzubringen, so j^t sie, oder der Sohn, auch allein das rettende,
die Rückkehr bewirkende Princip I^er wesentliche Inhalt die-
ser Lehren, die sich immer wieder auf dieselben Probleme, die
Einheit, Zweiheit, Dreiheit der Principien, ihre Gegensätze und
ihre Vermittlung, die Herabkunfl aus der oberen Welt in die un-
1) Philos. S. 133: o xa^ohnoS otpiS ötos Motiv 6 aotpoQ xijQ JSvaf koyoi'
2) Philos. S. 155 f.
Valentin. i 79
lere und die Rückkehr aus der untern in die obere beziehen, ist
so allgemein, dass sie längst vor dem Ursprung der specifisch
christlichen Gnosis vorhanden sein konnten, und so erst in der Folge,
je mehr sie in der allegorisirenden und synkretistischen Anschau-
ungsweise sich erweiterten, ihre christliche Färbung und Modifi-
cation erhielten. Es ist durchaus das zerflossene und zerfahrene,
an alles Mögliche sich anhängende, in dem ganzen bunten Gemisch
der allen Symbole und Mythen immer wieder einen neuen Aus-
druck für die allgemeine Grundanschaung suchende Wesen der
Gnosis, das uns in den angeblichen Lehren der Ophiten, der Gno-
stiker, derPeraten, derSethianer Cauch dieser Name gehört in die-
selbe Reihe) besonders in einer Darstellung, wie die der Philosophu-
mena ist, entgegentritt
Die Gnosis in ihrer ausgebildeteren Gestalt, ihrer strengeren
Haltung und durchgeführteren Konsequenz, in der Form, in wel-
cher das Christliche ein so wesentlich organischer Bestandtheil des
ganzen Systems ist, dass es davon nicht getrennt werden kann,
stellt sich uns erst in den Systemen dar, welche uns unter dem
Namen ihrer Urheber bekannt sind. Die bedeutendsten sind die der
drei berühmten gnostischen Sektenhäupter, Valentin, Basilides,
Marcion. Der Anfang dieser Hauptperiode der Gnosis fällt in die
ersten Decennien des zweiten Jahrhunderts. Die bewährtesten
Zeugnisse über den Ursprung der Gnosis stimmen darin überein,
dass die Stifter der gnostischen Häresen im Zeitalter Trajans und
Badrians auftraten 0« Basilides soll um das J. 125 in Alexandrien
gelebt, Valentin um das J. 140 von Alexandrien nach Rom sich be-
geben haben. Um dieselbe Zeit kam ebendahin aus Sinope in Pon-
tos Harcion, man setzt die Periode seiner römischen Wirksamkeit
In die Jahre 140—150. Auch schon diese äussern Data, Alexan-
drien als Vaterland mehrerer Gnostiker und der gemeinsame Zug
nach Rom bei so bedeutenden Sektenhäuptern, wie Valentin und
Karcion, sind für die Geschichte der Gnosis sehr beachtenswerth.
Das tiefsinnigste dieser Systeme und zugleich dasjenige, das
uns am genauesten bekannt ist, ist das des Gnostikers Valentin,
oder da sich nicht bestimmen lässt, was ihm selbst oder seinen
Schülern angehört, das valentinianische. Es ist ganz darauf ange-
1) Hegesippns bei Eusebius K.G. 3, 32. Clemens von Alex. iStrom. 7i 1 7*
12»
ISO Dritter Abschnitt. Das Chrlstcnthnm als absolutes Weltprindp.
legt, die Aeonenwelt nach ihren Zahlen und Kategorien auszumes-
sen. Die Gesammtzahl der Aeonen ist dreissig, sie theilen sich aber
in mehrere Grundzahlen, eine Achtzahl, Zehnzahl, Zwölfzahl, immer
aber sind es zwei Aeonen, welche zusammengehören und ein '
Aeonenpaar bilden , da die Idee der Syzygie auch hier einer der
Grundbegriffe ist, aufweichen das System beruht. Nur ob auch
mit dem höchsten Wesen selbst ein weiblicher Aeon zusammenzu-
denken sei, scheint unter den Schülern Valentins eine verschieden
beantwortete Frage gewesen zu sein. Die Einen wollten den Vater
schlechthin allein haben, die Andern hielten es für unmöglich, dass
aus einem Männlichen allein etwas habe entstehen können, und ga-
ben daher dem Vater des Alls, um Vater werden zu können, die
Stille (oiyti') als av^vyog bei. Aber auch diese Stille ist n\ir ein
Ausdruck für den abstrakten Begriff seiner absoluten Einheit oder
seines Alleinseins. Da er jedoch die Einsamkeit nicht liebte und
ganz Liebe war, die Liebe aber nicht Liebe ist, wenn es nicht auch
einen Gegenstand der Liebe gibt, so hatte der Vater den Drang in
sich, das Schönste und Vollkommenste, das er in sich hatte, zu er-
zeugen und hervorzubringen. So erzeugte er allein, wie er war,
den Nus und die Aletheia, dieDyas, welche die Mutter aller Aeonen
innerhalb des Pleroma ist Der Nus und die Aletheia selbst erzeug-
ten den Logos und die Zoe, und diese beiden den Anthropos und
die Ekklesia. Um den vollkommenen Vater durch eine vollkom-
mene Zahl zu verherrlichen, erzeugten der Nus Und die Aletheia
zehen Aeonen, der Logos und die Zoe aber konnten nur die unvoll-
kommene Zahl von zwölf Aeonen aus sich hervorgehen lassen.
Wie sich auch die Valentinianer das Verhältniss dieser Zwölfzähl und
Zehnzahl gedacht haben mögen, die Hauptreihe der Aeonen bilden
in jedem Falle die sechs Uräonen, der Nus und die Aletheia, der
Logos und die Zoe , der Anthropos und die Ekklesia , das Haupt'
moment der weiteren Entwicklung des Systems aber liegt in dem
bekannten, auf die Sophia sich beziehenden Mythus. Die Sophia ist
die zwölfte der Zwölfzahl, die jüngste der acht und zwanzig Aeonen
und als schwächstes und äusserstes Glied der ganzen Aeonenreihe
ein weiblicher Aeon. Je grösser aber in ihr der Abstand von dem
Urprincip war, um so mehr kam in ihr die Grösse des Abstands
zum Bewusstsein, daraus entstand in ihr der Drang, sich unmittel-
bar, durch üeberspringung aller Mittelglieder, mit dem ürwesen
Valentin. Igl
ZU verbinden, sie sprang in die Tiefe des Vaters zurück, und
wollte allein für sich, wie der Vater, nichts Geringeres als der Va-*
ter erzeugen , ohne zu wissen , dass nur der Ungezeugte als das
Princip des Ganzen, als die Wurzel, die Tiefe, der Abgrund, allein
für sich zu erzeugen im Stande ist. Nur im Ungezeugten ist alles
zugleich, im Erzeugten aber bringt das Weibliche die Substanz her-
vor und das Männliche formt die vom Weiblichen hervorgebrachte
Substanz. So war das von der Sophia Erzeugte nur ein €xr(>ai/ua,
wie es die Valentinianer nannten. Innerhalb des Pleroma war Un-
wissenheit in der Sophia, und Formlosigkeit in ihrem Erzeugniss,
es entstand Verwirrung im Pleroma, die ganze Aeonenwelt war in
Gefahr, formlos und mangelhaft zu werden und zuletzt dem Ver-
derben anheimzufallen. Alle Aeonen flüchteten sich mit der Bitte
zum Vater, die über ihr Erzeugniss betrübte Sophia zu beruhigen.
Der Mythus will, wie leicht zu seh«n ist, den Hervorgang des End-
tichen aus dem Absoluten erklaren, das Endliche kann nur aus dem
Absoluten entstehen, und doch verträgt sich das Endliche nicht mit
dem Begriff des Absoluten. Wenn nun auch das Endliche schon
mit dem Begriff der Syzygie und der Erzeugung in das Absolute
selbst gesetzt ist, so soll doch in der Reihe der^^eonen, in welcher
Aeonen von Aeonen erzeugt werden, der dadurch gesetzte Unter-
schied immer wieder als ein mit der Einheit sich ausgleichender
gedacht werden, endlich aber muss es doch, wenn anders das End-
liche als solches entstehen soll, zu einem nicht weiter vermittelten
Bruch mit dem Absoluten kommen. Es ist also in dem Absoluten
selbst zu einem Bruch, einem Riss , einer die Absolutheit des Ab-
soluten in Frage stellenden Spaltung gekommen und die weitere
Aufgabe kann nun nur sein, einerseits trotz dieses Bruchs den Be-
griff des Absoluten in seiner Reinheit aufrecht zu erhalten, ande-
rerseits das Ehdliche von ihm abzulösen und aujszuscheiden. Hier
ist nun schon der Punkt, wo die specifisch christliche Idee der
Wiederherstellung in das System eingreift Aus Mitleiden mit den
Thränen der Sophia und aus Rücksicht auf die Bitte der Aeonen
befahl der Vater eine neue Projektion und die Dreissigzahl der
Aeonen wurde dadurch voll, dass der Nus und die Aletheia Chris-
tus und den heiligen Geist hervorgehen Hessen, um das 6xrpcu/ua
zu formen und abzutrennen, und die Sophia zu trösten und zu be-
ruhigen. Christus trennte das formlose ixiQotfia von den gesamut-
188 Dritter Abschnitt. Das Christenthuni als absolute» Weltprinoip.
ten Aeonen, damit der Anblick seiner Formlosigkeit nichts Stören-
des für die vollkommenen Aeonen hätte, und damit es überhaupt
für sie nicht mehr sichtbar wäre, Hess der Vater noch einen Aeon
hervorgehen, den Stauros, welcher die Grösse und Vollkommenheit
des Vaters in sich darstellend und die gesammten dreissig Aeonen
in sich zusammenhaltend, der Grenzpfahl des Pleroma sein sollte.
Horos heisst er, weil er die Grenze ist zwischen dem draussen be-
findlichen ugeprjfia und dem nktiQuifia, Theilhaber (/moxfvg)^ weil
auch er Theil hat an dem vgeg^jf^a, undStauros, weil er unwandel-
bar feststeht, so dass nichts von dem ugegtjfia auch nur in die Nähe der
innerhalb des Pleroma befindlichen Aeonen kommen kann. Ausser-
halb des Horos oder Stauros war die sogenannte Ogdoas, die aus- |
serhalb des Pleroma befindliche Sophia. Sobald diese von Chri-
stus geformt worden war, sprang er mit dem heiligen Geist in das
Pleroma zum Nus und zu der Aletheia zurück, und alle Aeonen
waren in Frieden und Einigkeit. Innerhalb des Pleroma ist also die
Harmonie wiederhergestellt, derselbe Process nimmt nun aber sei-
nen weiteren Verlauf ausserhalb des Pleroma, wo die Sophia, ge-
trennt von dem, der sie geformt, aber wieder verlassen hatte, in
grosser Furcht sich befand. Sehnsuchtsvoll richtete sie in ihrem
Leiden ihre Bitte an ihn, und Christus und die übrigen Aeonen alle
hatten mit ihr Mitleiden. An die Stelle von Christus tritt nun Jesus
oder der Soter, welcher die gemeinsame Frucht der sämmtlichen
Aeonen des Pleroma genannt wird. Christus und die andern Aeonen
schickten ihn ausserhalb des Pleroma als ov^vyog der äussern
Sophia, um sie von den Leiden zu befreien, die sie in ihrem Ver-
langen nach Christus erduldete. Er befreite sie dadurch , dass er
der verschiedenen AS'ektionen, in welchen es bestand, sie ent-
äusserte und aus ihnen das Psychische schuf, das Reich des Pe-
miurg. Die psychische Substanz dachten sie sich feurig, sie nann-
ten sie auch den Ort, die Hebdomas, den Alten der Tage, auch der
Deniiurg ist feuriger Natur, und es gilt von ihm, was Moses sagt (5
Mos. 9, 3): „der Herr dein Gott ist ein verzehrendes Feuer". Alles,
was das Psychische vom Pneumatischen unterscheidet, macht das
Wesen des Demiurgs aus. Es fehlt ihm das intelligente Bewusst-
sein, ohne dass er weiss, was er thut, wirkt die in der Ogdoas über
ihm schwebende Sophia alles in ihm, während er meint, er selbst
bewirke durch sich die Schöpfung der Welt, und in dieser Meinung
Valentin. 183
sagt er: ^ich bin Gott, und ausser mir istkeinAnderer^^C5Mos.32,
39). Der Demiurg ist der Schöpfer der Seelen, welchen er Leiber
aus der materiellen und diabolischen Substanz gegeben hat. So
wohnt der innere Mensch, der psychische, in dem materiellen Leib,
bald ist die Seele für sich, bald mit Dämonen zusammen, bald mit
den loyoi, welche von oben her, von der gemeinsamen Frucht des
Pleroma und der Sophia, wie Keime in diese Welt ausgestreut wor-
den sind. Von dem mit der ausserhalb des Pleroma befindlichen
Sophia verbundenen Jesus, welcher eigentlich der zweite Christus
nach jenem ersten ist, unterscheiden die Valentinianer noch als
dritten den durch die Maria geborenen. Wie der erste Christus
das Pleroma wieder in Ordnung brachte, der zweite dieOgdoasder
Sophia, so soll der dritte dasselbe in der jetzigen Welt thun, was
nur dadurch geschehen kann, dass durch ihn, der nicht blos vom
Demiurg, sondern auch von der Sophia gekommen ist, das enthüllt
wird, was auch vor dem Demiurg noch verhüllt war. Der Demiurg
war zwar schon von der Sophia darüber belehrt worden , dass er
nicht der alleinige Gott sei, sondern ein höherer über ih^n, und das
grosse Geheimniss des Vaters und der Aeonen war ihm nicht un-
bekannt geblieben, allein er hatte es für sich behalten und niemand
mitgetheilt Daher fällt die Offenbarung des Geheimnisses gar nicht
in die Sphäre des Demiurg, sondern als es Zeit war, dass der auf
dem Bewusstsein der psychischen Menschen liegende Schleier hin-
weggenommen und alle diese Mysterien ans Licht gebracht wur-
den, wurde Jesus durch die Maria geboren. Worin anders kann
demnach in diesem Zusammenhang das Christenthum bestehen, als
darin, dass das, was zwar auch schon der Demiurg wusste, aber
nur an sich, oder nur für sich, nun das allgemeine Bewusstsein der
Menschheit wird ? Erst durch das Christenthum weiss man also,
dass der Demiurg nicht der höchste Gott ist, dass über ihm die
Aeonen weit, das Pleroma und der ewige Vater steht, erst mit Chri-
stenthum erwacht also das Bewusstsein des Absoluten. Dieses
Wissen selbst aber ist nur der Fortgang vom Psychischen zum Pneu-
matischen. Der Demiurg weiss ja blos desswegen von der über
ihm stehenden hohem Weltordnung nichts, weil er blos auf der
Stufe des Psychischen steht und das Psychische das Pneumatische
nicht in sich aufnehmen kann. Wenn also das , was dem Demiurg
noch verhüllt ist, durch Christus enthüllt wird , so ist diess übor-
184 Dritter Abschnitt. Das Cliristenthnm als absolutes Weltprincip»
haupt der Fortschritt von der* Periode des psychischen Princips za
der des pneumatischen, es gelit der Menschheit ein neues höheres
Bewusstsein auf, sie wird sich einer hohem, über die irdische hin-
ausliegenden Weltordnung, des an sich Seienden, des Absoluten
und seines Verhältnisses zum Endlichen bewusst. Aber zum Psy-
chischen ist ja das Pneumatische selbst erst geworden. Es sind
somit zwei einander gegenüberliegende Seiten des Weltentwick-
lungsprocesses zu unterscheiden, auf der einen versenkt sich das
Pneumatische in das Psychische, auf der andern erhebt sich das
Psychische zum Pneumatischen. Das Psychische ist nur ein Durch-
gangsmoment für das Pneumatische , das Pneumatische entäussert
sich zum Psychischen , um aus dem Psychischen sich in sich selbst
zurückzunehmen. Da das pneumatische Princip der Geist ist in
seinem Unterschied von der Materie, so ist die Reihe der Momente,
in welchen das Pneumatische zum Psychischen wird und das Psy-
chische zum Pneumatischen, derProcess des Geistes mit sich selbst
Der Geist, oder Gott als der Geist an sich, geht aus sich heraus, in
dieser Selbstoffenbarung Gottes entsteht die Welt, die in ihrem Un-
terschied von Gott auch wieder an sich mit Gott eins ist Wie man
aber auch dieses immanente Verhältniss von Gott und Welt betrach-
ten mag, als Selbstoffenbarung Gottes oder als Weltentwicklung,
es ist an sich ein rein geistiger, im Wesen des Geistes begründeter
Process. Der Geist stellt in den Aeonen , die er aus sich hervor^
gehen lässt, sein eigenes Wesen aus sich heraus und sich gegen-
über, da aber das Wesen des Geistes an sich das Denken und Wis-
sen ist, so kann der Process seiner Selbstofienbarung nur darin be-
stehen, dass er sich dessen bewusst ist, was er an sich ist, die
Aeonen des Pleroma sind die höchsten Begriffe des geistigen Seins
und Lebens, die allgemeinen Denkformen, in welchen der Geist das,
was er an sich ist, in bestimmter konkreter Weise für das Bewusst-
sein ist Mit dem Wissen des Geistes von sich, demSelbstbewusst-
sein des sich von sich unterscheidenden Geistes, ist aber auch schon
nicht blos ein Princip der Differenzirung, sondern, daGottundWelt
an sich Eins sind, auch ein Princip der Materialisirung des Geistes
gesetzt Je grösser der Abstand der das Bewusstsein des Geistes
vermittelnden Begriffe von dem absoluten Princip ist, um so mehr
verdunkelt sich das geistige Bewusstsein, der Geist entäussert sich
. seiner selbst , er ist sich selbst nicht mehr klar und durchsichtig.
Valentin. jg5
das Pneumatische sinkt zum Psychischen herab, das Psychische
verdichtet sich zum Materiellen, und mit dem Materiellen verbin-
det sich in seinem Extrem auch der Begriff des Dämonischen und
Diabolischen 0* I^& &her auch das Psychische an sich pneuma-
i) Der wichtigste Punkt des ganzen Systems ist eigentlich der in den
Leiden der Sophia reranschaalichte Uebergang vom Pneumatischen zum
Psychischen. Es ist die äusserste Qual und Noth des mit sich ringenden,
an sich selbst rerzweifelnden Geistes, wenn er seiner selbst sich entäussem
und ^twas anderes werden soll, als er an sich ist. Die Philosophumena enthal-
ten hierüber folgende Stelle S. 191: inoirjütv av ojs TtjkittStosaioivHalTTaPToS
tS nkriQtofiaxoi ^nyopcf (Jesus oder der Soter), imijvat ta nd&rj an avr^g^ nal
iTtoifjosv avra vnoiäxai saiaSy xal top fikv tpoßop \ffv%M^v iitoirjatv ini"
^vuiav^ t^v 8b IviTijv vXmrtVf tt^v Sa dnogiav Saifiovutv, tijv dt iirtggotpyp
ual 8ii}at,v nal insttlav oSov nal fitrdvoiav nal Srrafuv ipr^tn^S HoiaS^
i^r«g naXeitai Se^id (vergl. ehr. Giiosis S. 134) o Srjuiagyo^t aTro rS tfoßo'
tire^tv, o Xiyet^ cprjo'iv^ jj Y^^^V ' -^QXV outpias (poßoi nvgis. Avtr^ yag otQXV
rtnv riJQ ao(pia9 na^oiv itpoßijd'tj ydgj slra iXviTtjd'ij^ stra iqnoQijaBy nal St<oS
inl iiriaiv nal inireiav uardtpvysv. Es sind also vier Zustände dieses Lei-
dens: ans der Furcht entsteht das Psychische, aus der Betrübniss das Hy-
lische , aus der Verzweiflung das Dämonische , nun folgt noch ein viertes
Moment, das von den drei andern sehr verschieden zu sein scheint. Tie-
fer kann der Geist nicht herabkommen, als wenn er sich zuletzt sogar in
das Dämonische verkehrt, ebendesswegen ist nun aber das vierte Moment
der Umschwung und Wendepunkt An der Gränze seiner Selbstentäusserung
geht der Geist in sich zurück, nimmt sich in sich selbst zusammen, um den
Ausweg aus dieser Pein zu finden. Kann etwas Anderes der Sinn der Worte
i96ft uBtavoitt^ dvvnuic sein? Auch in der von Petermann, Berlin 185t)
uns einer koptischen Handschrift herausgegebenen gnostischen Schrift /fi-
nis ^otf,ia macht das Leiden der Sophia und ihre fit-rdvota den Hauptin-
halt des ersten Theils aus. Jesus steigt nach seiner Himmelfahrt wieder
herab, nur um seinen Jüngern die ganze volle Wahrheit von Anfang bis zu
£nde offen und unverhüllt mitzutheilen. Er erzählt den Fall der Sophia.
Als die Tli^is ^otfia in dem dreizehnten der Aeonen war, an dem Ort aller
ihrer Schwestern, der dognToi^ welche selbst die vier und zwanzig ngnßo-
Ittl des grossen dogaros sind, geschah es auf Befehl des ersten Mysterium,
dass sie in die Höhe blickte und das Licht des naraTT^raoua des iftiaavgoi
des Lichts sah. Sie hatte das Verlangen, an jenen Ort zu gehen, vermochte
es aber nicht, und statt das Mysterium des dreizehnten Aeon zu thun, rich-
tete sie Hymnen an den Ort der Höhe. Darüber hassten sie alle Archon-
ten der zwölf Aeonen, weil sie in ihren Mysterien nachliess und über ihnen
sein wollte. Am meisten hasste sie der grosse rgiSt'va/jioe atxfdStfSj der
der dritte rgiScfauos im dreizehnten Aeon ist, und er Hess eine' grosse
Kraft mit einem Löwengesicht aus sich hervorgehen und aus seiner 'ilr^ eine
186 Dritter Abschnitt. Das Christentham als absolatos Weltprincip.
tischer Natar ist, und Keime des geistigen Lebens überall zurück-
geblieben sind, so muss das Pneumatische die materielle Verdunk-
lung des geistigen Bewusstseins auf der Stufe des psychischen Le-
bens wieder durchbrechen und die Decke abwerfen , die in der
Welt des Demiurg auf dem Bewusstsein des Geistes liegt Die
ganze Weltentwicklung ist die Continuität desselben geistigen Pro-
cesses, es muss daher auch einen Wendepunkt geben, in welchen
der Geist aus seiner Selbstentausserung zu sich selbst zurückkehrt
und wieder zum klaren Bewusstsein dessen, was er an sich ist,
kommt Diess ist der gnostische BegriiT der christlichen Offenba-
rung. Die Wissenden im Sinne der Gnostiker, die Pneumatischen,
die als solche auch das wahrhaft christliche Bewusstsein in sich
haben, sind ein neues Moment des allgemeinen geistigen Lebens,
die höchste Stufe der Selbstoifenbarung Gottes und der Weltent-
wicklung. Diese Periode des Weltverlaufs beginnt mit der Er-
scheinung Christi und endet zuletzt damit, dass durch Christus und
die Sophia alles Geistige in das Pleroma wieder aufgenommen wird
Da Christus, wie auf jeder Stufe der Weltentwicklung, so auch
schon in den höchsten Regionen der Aeonenwelt, in welcher alles
seinen Ausgangspunkt hat, und von Anfang an auf dieses Resultat
des Ganzen angelegt ist, als das wiederherstellende, in der Einheit
mit dem Absoluten erhaltende Princip thätig ist, so bat er in der
grosse Menge von ni^ßolal vAtxat, die er in die untern Orte in das Cliaos
schickte, um der WuQ ^otpia nachzustellen und ihr ihre Kraft zu nehmeD*
Als nun die Sophia die rom jiv^aSrjt ausgegangene Lichtkraft in der Tieft
sah, glauhte sie, es sei das Licht , das sie in der Höhe gesehen hatte, und
aus Begierde nach diesem Licht kam sie in das Chaos herab, wo sie ▼<>&
den n^ofiokal vlittal des y^v&tidtjf gepeinigt wird. In ihrer Noth rief sie
das Licht, das sie zuerst gesehen hatte, um Hülfe an. Sie hat ihm ^on
Anfang an geglaubt und in ihrem sie nie verlassenden Vertrauen zu der
Macht des Lichts, von welchem sie den Namen Tfigis ^otf^ia hat, richtet sie
an dasselbe ihre fAtravuia. In zwölf fitravoiai klagt sie ihre Noth UD^
Qual und bittet um Vergebung ihrer Sünden. Auf die zwölf fAsravouii^ die
den zwölf Aeonen entsprechen, in welchen sie gefehlt hat, folg^ noch eine
dreizehnte, weil der dreizehnte Acon, der roirot SixaioavvyjQ , der Ort ist»
aus welchem sie herabkam. Mit der dreizehnten fitravoia Ist ihre Zeit
erfüllt, die Reihe ihrer ^Uifsis vollendet und sie wird durch den vom ersten
Mysterium zu ihrer Hülfe gesendeten Jesus aus dem Chaos in die H5lie
zurückgeführt.
Basilidcs. JS7
VTeltanschauung der Gnostiker durchaus die Bedeutung eines ab-
soluten Weltprincips 0«
Kein anderes System lässt uns in den eigenthümlichen Charak-
ter der Gnosis , den innern Zusammenhang ihrer Weltanschauung
and den tiefern geistigen Gehalt des Ganzen so klar hineinschauen,
wie das valentinianische. Keines hatte auch eine so grosse Zahl von
Anhangern. DieValentinianer bildeten eine weitverzweigte Schule,
und die am meisten hervorragenden Schüler und Nachfolger Valentins,
wie namentlich Sekundus, Ptolemäus, Herakleon, Marcus,
Colarbasus, haben dasSystem ihrer Schule in verschiedenenFor-
men der Darstellung weiter bearbeitet.
Unter den dem Valentin und seinen Schülern gleichzeitigen
und mit ihnen näher zusammengehörenden Gnostikern war, neben
den beiden Syrern Bardrsanes und Satürnin, der Aegyptier Basi-
UDEs, mit seinem Sohne Isidor, der bedeutendste und selbststän-
digsle. Da unsere bisherige Kenntniss seines Systems durch die in
den Philosophumena neu hinzugekommene Quelle sehr berei-
chert und modificirt wird, so ist es hier um so mehr in seinen
Hauptzügen kurz darzustellen.
Wie die Gnostiker überhaupt nicht Ausdrücke genug finden
können, um die Idee des Absoluten auszudrücken und es zuletzt
doch nur negativ als das über jeden Ausdruck und Begriff Erha-
bene bestimmen, so stellte Basilides an die Spitze seines Systems
das schlechthinige Nichts, um auch von Gott nicht als dem Seienden,
sondern dem Nichtseienden zu reden. Es war schlechthin Nichts,
nicht Materie, nicht Substanz, nicht Substanzloses , nicht Einfaches,
nicht Zusammengesetztes, nicht Mensch, nicht Engel, nicht Gott,
schlechthin nichts von allem, was man wahrnehmen oder sich vor-
stellen kann. Gleichwohl aber hat der nicht seiende Gott eine nicht
seiende Welt aus dem Nichtseienden geschaffen, aber freilich
nur so, dass auch von diesem Schaffen, oder dem göttlichen Wil-
1) Ich habe mich bei dieser Darstellung hauptsächlich an die neue
Qaelle in den Philos. 6» 29. f. 3. 184 f. gehalten. Die Hauptpunkte des
Systems treten in ihr sehr klar hervor und ergänzen sich leicht aus der
aosfTihrlicheren Darstellung, welche ich nach den andern wesentlicli über-
einstimmenden Quellen in der ehr. Gnosis S. 124 f< gegeben habe.
2) 7) 19. f. S. 230 f. Vgl. Jacobi: Basilidis philosophi gnostici scn-
tentias n. s. w. Berlin, 1852.
188 Dritter Abschnitt. Das Christentham als absolutes Wel^rincip.
lensakt alles Positive verneint wird 0* Wie überhaupt, meinte er,
die Ausdrücke, deren man sich bedient, den Dingen, die sie be^
nennen, nicht entsprechen, so kann noch weit mehr, wenn vom Ab^
soluten die Rede ist, alles Positive und Negative nur ein Zeichen
dessen sein, was man sagen will. Man sieht deutlich, es wurde dem
Basilides nichts schwerer, als der Anfang. Gott ist, und ist nicht,
ebenso auch die Welt, sie ist und ist nicht, man weiss nicht, wie
sie geworden ist, sie ist schlechthin. Um jede Vorstellung einer
Emanation oder Projektion aus Gott zu entfernen O9 dachte er sich
die Welt, wie in der Genesis, als einzig nur durch das Wort des
Sprechenden gesetzt, obgleich er sonst auch wieder keinen Anstand
nahm, von der Welt als einer göttlichen ngoßohj zu reden. Basi-
lides steht insofern auf einem andern Standpunkt als Valentin , als
die Grundanschauung seines Systems nicht sowohl das Herausgehen
aus Gott ist, als vielmehr das Zurückgehen in Gott Ein Hauptbe-
gritr seines Systems ist die Scheidung der Kräfte und Elemente.
Geschieden werden kann aber nur , was zuvor gemischt worden
ist Eine ursprüngliche Mischung dessen, was nachher wieder ge«
schieden werden sollte, musste daher auch Basilides annehmen,
und man hat in dieser Beziehung immer die avyxvatg ägx^^i I
welche Clemens von Alex, ihm beilegt ^ , als charakteristisch für
sein System angesehen, ohne recht zu wissen, wie man sie zu neh'
men habe. Nach der neuen Quelle für die Kenntniss seiner Lehre
können wir sie nur als eines der Postulate seines Systems betrach-
ten, die er machen musste, um überhaupt auf einen Anfang der
Entwicklung zu kommen. Was er in der Entwicklung seines Sy
Sterns sagt: Alles sucht von unten nach oben zu kommen, aus dem
Schlechten zum Bessern, nichts aber ist so thöricht, dass es aus dem
Bessern nach unten hinabgeht, findet auch hier seine Anwendung.
Er konnte nicht erklären, wie es zu einer trvyx^a^g dg^xi^ kam,
und doch musste er sie voraussetzen, wenn er die Weltentwicklung
aus dem Gesichtspunkt eines Scheidungsprocesses betrachten wollte.
i) Philos. S. 331* y4»o^T(ui^ dpata&tjiwif dßüXvtt^^ ditQoaiQivotiy an»'
&wSf dvsni&vfii^Tcae ttoafMV rj&iltjas TToi^oai, To de ^d'ikrjQS Xiyoßf q^tjat^mj"
fiaaiaC X^Q^^f d&el^rwg nnl dvo^ratS Hai dvaia&^vcos»
2) Philos. S. 232: tpavyet yaQ ndvv aai didoiKS vdf nard itffoßoltjf
rojp yeyovoTwv soias 6 BaaiXaidffs,
3) Vgl. die ehr. Gnosis S. 211. f.
Basilides. 189
In diesem Sinne sprach Basilides von einem onigfAu xS xoaftä, das
alles, was zum ganzen Inbegriff der Welt gehört, wie im kleinsten
Keim in sich enthält % und nun erst, nachdem einmal dieser Welt-
embryo als Weltprincip aus Gott herausgesetzt ist, nimmt die Welt-
entwicklung ihren bestimmten Verlauf. Die in der Urwelt enthal-
tenen göttlichen Keime nannte Basilides die Sohnschafl (vioFtjg), ^
in welcher er wieder drei verschiedene Bestandtheile unterschied.
Der feinste Theil kehrt sogleich , sobald es zur ersten Projection
des anfQfAu gekommen ist, mit einer Schnelligkeit, welche Basilides
mit dem poetischen Ausdruck (iait nngop ijt porjfia ^ bezeich-
net, zu dem Nichtseienden zurück, wohin, von seiner überschwang-
lichen Schönheit angezogen, jede Natur strebt, die eine so, die an-
dere anders. Der dichtere strebt jenem nach, bleibt aber in dem
onipfia zurück, doch beflügelt auch ersieh aufähnliche Weise, wie
die Seele bei Plato. Das beflügelnde Element ist der heilige Geist,
welcher zu diesem Theil der vldrrjg sich so verhält, dass beide ein-
ander ebenso behülflich sind, wie der Flügel und der Vogel, von
welchen keiner ohne den andern sich in die Höhe heben kann. So
erhebt sich zwar der Geist und kommt in die Nähe jenes feinsten
Theils der viortj^, aber seine Natur kann die reinste, über alle Na-
men erhabene Region des nicht seienden Gottes und der vlovtjg
nicht ertragen, er bleibt daher zurück, wie aber ein mit einer wohl-
riechenden Salbe gefülltes Gefäss , auch wenn es geleert ist, den
Geruch noch behält, so hat auch der heilige Geist gleichsam einen
Geruch von der vloxtiQ^ und dieser vom heiligen Geist herabkom-
mende Geruch dringt bis zur formlosen untern Welt herab. Nach
diesem ersten und zweiten Aufschwung der vioxrig bleibt der heilige
Geist in der Mitte zwischen dem Ueberweltlichen und der Welt 0>
1) Philos. 8. 331: rd di anigfia tS Koofi« Ttavra bIx^v i» iavrtf^ tito tS
otvdnawe nonnos iv ila%iii^ avXXaßtnv ^x^i Ttdaae 6/iS ras ^i^a^ — «rctic s% v»p d'soe
holtjaB nöofMv uk wv (orro) c£ sn ovrotv, xaTaßalXofisvos ual vno^ijaaQ onifffun
tp 8XOV ndaav iv kavrta Ttjv tS noo/j^s navaiTBQuiav, Alles war in ihm, aber
noch unentwickelt nnd formlos, daber nennt er diese ^ara7r£()/cifa eine dfiog—
fla Ttf a(uQ8, S. 339*
2) Die ittXoyi^ Moofia bei Glemeks von Alex. Yergl. die cbr. Gnosis
S. 223 f.
3) Hom. Od. Vn, 36.
4) Daber das Ttvsvfia fisi^og^ov. Von derselben yermittelnden Thfttig-
keit (dem etagyaTiiy") beisst der Geist bei Clemens von Alex, das nvevfsa
9ta9eov8iu€Voy.
190 Dritter Abschnitt. Das Christenthnm als absolutes Weltprincip.
und nachdem diese beiden Theile des Seienden durch eine Feste
geschieden sind , reissl sich von dem ondQ^a xocr/u»jcoV (und der
nai'tTTTf^ftfa tS amgS) der grosse Archon, das Haupt der Welt los,
welcher, da er nicht weiss, dass über ihm etwas Weiseres, Mäch-
tigeres und Besseres ist, sich für den Herrn, Gebieter und weisen
Weltbaumeister hält und alles Einzelne der Welt zu schaffen be-
ginnt. Das Erste war, dass er, weil er nicht allein sein wollte, nach
dem Plan, welchen der nicht seiende Gott schon damals entwarf,
als er in der navtrnfpfAta den Grund der Welt legte, aus dem vor-
handenen Stoff seiner Welt sich einen Sohn erzeugte, weicher weit
besser und weiser als er selbst war. Seine Schönheit überraschte
ihn und er setzte ihn zu seiner Rechten. Mit seiner Hülfe schuf er
die ätherische Welt, welche als das Reich des grossen Archon Ba-
silides die Ogdoas nannte. Nach der Vollendung dieser bis zum
Mond herabgehenden ätherischen Welt, stieg noch ein anderer Ar-
chon aus der navunfgfiia auf, der auch grösser ist , als alles unter
ihm, mit Ausnahme der noch zurückgebliebenen vloTrjg. Sein Ort
ist die Hebdomas, und auch er hat einen Sohn , der verständiger
und weiser als er selbst ist Von diesen Welten wird nun noch
die Region unterschieden, welche Basilides als die Basis der gan-
zen Weltentwicklung den crw()oV und die TiuvanfQfAla nannte. Sie hat
keinen eigenen Vorsteher, Ordner oder Demiurg, sondern es genügt
für sie der Gedanke, welchen der nicht Seiende bei der Schöpfung in
sie hineinlegte. In ihr ist noch die dritte vloxrig zurück, die auch
geoffenbart und dahin hinaufgebracht werden muss, wo über den
Geist hinaus die beiden ersten Theile sind und der nicht Seiende.
Das ist die seufzende und auf die Offenbarung der Kinder Gottes
harrende Kreatur, und wir sind, sagte Basilides, diese Kinder, wir
die hier noch zurückgebliebenen Pneumatischen. Als nun wir, die
Kinder Gottes, um deren Willen die Kreatur seufzte, geoffenbart
werden sollten, kam das Evangelium in die Welt, nicht so, dass die
selige viovtig des undenkbaren, seligen, nicht seienden Gottes her-
abkam, sondern wie der Naphthas aus weiter Entfernung ein Feuer
entzündet, so empfing die Gedanken der viovtig durch die Vermitt-
lung des Geistes der Sohn des grossen Archon. Der Archon erkannte,
dass er nicht der Gott des Ganzen sei , sondern den Unnennbaren,
nicht Seienden über sich habe. Er ging in sich, erschrak über die
Unwissenheit, in welcher er sich bisher befand, und wurde nun von
Basilides. 191
seinem neben ihm sitzenden Sohn , welcher jetzt Christus genannt
wird, darüber belehrt, wer der nicht Seiende ist, was die vlovrjg
ist, was der heilige Geist, wie das Ganze eingerichtet ist, wohin es
zurückgeht Auch Basilides wandte auf die Furcht, die den Archen
ergriff, die Worte an: ciQX'i ooq>iug q>6ßog %vqi& (Prov. 1, 5), und
auf die Reue, mit welcher er die Sünde seiner Selbsterhebung be-
kannte, die Stelle Ps. 31, 5. Dieselbe Belehrung wurde der gan-
zen Ogdoas zu Theil, und von dieser kam sodann das Evangelium
auch zur Hebdomas. Der Sohn des grossen Archen Hess das Licht,
das er von oben herab von der vlottjg erhalten hatte, dem Sohn des
Archen der Hebdomas aufgehn. Dadurch erleuchtet verkündigte er
das Evangelium dem Archen der Hebdomas, bei welchem es den-
selben Eindruck hervorbrachte, wie bei dem Archen der Ogdoas.
Nachdem alle diese Regionen mit ihren unendlich vielen ctg^ui,
kvdfAng und iioaiat und den 365 Himmeln, deren grosser
Archon Abrasax ist, evangelisch erleuchtet waren, musste das Licht
auch noch zu der dfiOQq>ia in der untersten Welt, in welcher wir
sind, herabkommen und der gleich einem ixTQütfia in der dfiOQq>ia
zurückgelassenen vioTfjg das bisher unbekannte Geheimniss geof-
fenbart werden. So kam das aus der viotfjg durch den Geist in die
Ogdoas und von dieser zur Hebdomas gekommene Licht bis zur
Maria herab, und ihr Sohn Jesus wurde von ihm erleuchtet. Die
Kraft des Höchsten, welche die Maria überschattete, ist die Kraft
der xghig^ der Scheidung. Solange muss die Welt bestehen , bis
die ganze zur Hülfe für die Seelen in der aVo(>Wa zurückgebliebene
viortjg Jesu nachfolgt und gereinigt zurückgeht, sie wird so fein,
dass sie, wie die erste, durch sich selbst sich aufschwingt Um
diese ngla^g und die dnoxazd^aat^g^ die durch sie bewirkt werden
soll, handelt es sich nun noch ganz besonders 0* I^i^ ganze evan-
gelische Geschichte ist von Anfang an darauf angelegt, dass alles,
was ausserhalb der Ogdoas und der Hebdomas noch formlos ge-
nüscht ist, durch Jesus geschieden wird. Diese Scheidung ge-
schieht an allem, was noch zurück ist, auf dieselbe Weise, wie sie
^ Jesus selbst geschehen ist. Sein Leiden hatte keinen andern
l) Philos. S. 244: oAjy yuQ avrwv ij vno^soiiyaiyxvati otov6l iravonsQ'
^o.i %al tpvkoMQivTiai,^ lutl dnoxardgaate t€üv ovynBxvgjiivoiV tis rd oittslok»,
198 Dritter Abschnitt. Das Christenthum aU abRolntc» Woltprincip.
Zweck als die Scheidung des Gemischten. Das Leidende in ihm
war das Körperliche, das er aus der dfto^q)la hatte, dieses kehrt»
zur aiAogqila zurück, ebenso kehrte das Psychische ans der Hein
domas zur Hebdomas, das aus der höheren Region des grossoi
Archen zu diesem zurück, und was vom Geiste war, blieb bd
diesem. Die dritte noch zurückgebliebene vlittig aber schwof
sich durch alles diess hindurch zur seligen viottiq auf. Alles komat
also an seinen Ort wieder zurück, und wenn es an demselben iit,
soll es daselbst bleiben, denn unvergänglich ist alles, was ai
seinem Orte bleibt, vergänglich aber, was seine natürlichen Gren-
zen überspringt Daher soll in derselben Epoche, in welcher du
Christenthum das bisherige Geheimniss offenbarte, eine grosse Un-
wissenheit über die ganze Welt gekommen sein, damit in keines
eine widernatürliche Begierde entstehe. Der Archen der Heb-
domas weiss nicht, was über ihm ist, damit er nicht nach Unmög-
lichem verlange, und Trauer und Schmerz empfinde. Dieselbe Un-
wissenheit ergreift den grossen Archen der Ogdoas. Die allge-
meine dnonaTaarafftg besteht dahe|r überhaupt darin, dass alles
zu der bestimmten Zeit dahin gelangt, wohin es seiner natürlichen
Beschaffenheit nach gehört 0-
Derselbe Grundgedanke, wie bei Valentin, zieht sich bei Ba-
silides durch das ganze System hindurch. Wie das geistige Prindp
sich zum Psychischen und Materiellen entäussert, so muss es AA
aus dieser Yeräusserlichung wieder in sich selbst zurücknehmen.
Diess ist der Process der Weltentwicklung, welcher imChristenthotf
zu seiner Vollendung kommt Vollendet werden aber kann er nur
dadurch, dass die geistigen Naturen dessen, was sie an sich suid,
d. h. des an sich seienden, absoluten, überweltlichen geistigen
Princips, mit welchem sie auch in ihrem durch das Psychische
und Materielle verhüllten und verdunkelten Dasein an sich Eins
sind, sich bewusst werden. Dieses Bewusstsein des an sich Sei^
enden, Ueberweltlichen , macht das eigentliche Wesen des Chri^
stenthums aus. So definirte es daher auch Basilides '3. Wenn attck
1) Philos. S. 242: xai SroiS ij ditoxardaTaaic iarai ndvriov re&t/^
Xtuifiivoiv fiev iv tw ontQfiari tojv oIojv iv dgx^y dnontaraataftiiftof ^
xaiQOiS iSiots,
2) Philos. S. 243 : EvayyiXiov tan mar* avzbi «J züi» int^MOfät^
yvdtioif.
BMÜides. Marcion. 19^
las, was im Christenthum zu seiner Vollendung kam, schon auf den
löheren Stufen, durch welche der Weltentwicklungsprocess her-
ibstieg^, vorbereitet wurde, so kam es doch erst da, wo die Selbst-
sntäassening des Geistes ihren äussersten Punkt erreichte, zu sei«
ler vollen Realität Wie Valentin einen dreifachen Christus un-
terschied, so hat bei Basilides Jesus den Sohn des Archon der
Ogdoas und den des Archon der Hebdomas zu seiner Vorausse-
tning. Diese drei sind an sich Eins, es ist dasselbe, die einzelnen
geistigen VTesen mit dem Urprincip vermittelnde, ihren Zusam-
menhang mit ihm erhaltende und herstellende und sie zur Einheit
nruckführcnde Princip, und wie bei Valentin steht auch bei Basi-
lides Christus der ihm untergeordnete heilige Geist in derselben
Beziehung zur Seite. Die Sophia Valentin's fällt bei Basilides mit
Christus und dem heiligen Geist zusammen, sie fehlt bei ihm, weil
sein System überhaupt den concreleren Begriff der Syzygie nicht
hat Im Evangelium ist nur allgemein ausgesprochen, was zuvor
auch schon da war, aber nur als ein Geheimniss, das je weiter
man zurückgeht, um so tiefer verborgen war 0»
Wenn man die dualistische Weltanschauung als den Grund-
charakter der Gnosis betrachtet, so scheint diese Bestimmung auf
die beiden Systeme, welche hier als die Hauptrepräsentanten der
Gnosis näher entwickelt worden sind, nicht sehr zu passen. Wenn
sie auch ihre dualistische Grundlage nicht verbergen können, so
tritt sie doch in ihnen so zurück, dass man sie kaum für das Haupt-
biterium halten kann , das System des Basilides scheint sogar den
gewöhnlichen Schöpfungsbegriff an ihre Stelle zu setzen. Ihren
eigentlichen Charakter würde demnach die Gnosis erst in dem-
jenigen System vollends ausgebildet haben, das wir wegen seiner
strengem dualistischen Form von den bisher dargestellten unter-
scheiden, und als eine neue Entwicklungsstufe der Gnosis be-
trachten müssen. Wenn auch bei Marcion die Hauptsache die
1} In diesem Sinne sagte Basilides S. 238 die Ogdoas sei a^^rfvoe, die
Hebdomas aber ^rjtov. Der Archon der Hebdomas habe zu Moses gesagt:
H bm der Grott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und den Namen des Gottes
"*be ich ihnen nicht kund gethan (2 Mos. 5, 6.)> nemlich des a^(ffjTos
*'*o6» des Archon der Ogdoas. In der Periode von Adam bis Moses, wel-
a»e die eigentliche Periode des Archon der Ogdoas ist, itdvra ijv tfvXaaao^
^aur, dl« drei ersten Jahrh. 13
194 I^ritter Abschnitt. Das Christentlmm als absolutes Weltprindp.
scharfe dualistische Trennung des Gesetzes und des Evangeliomfi
war, so gehört er doch mit vollem Rechte in die Reihe def Gno-
stiker, da seine Ansicht vom Gesetz und Evangelium auf dem all-
gemeinen Gegensatz der beiden, seine Weltanschauung beatian
menden Principien beruhte. Es nahm nicht nur eine dem höchatea
Gott gleich ewige Materie an, sondern setzte auch den Weltscho-
pfer, welchen auch er von dem höchsten Gott unterschied, in ein
solches Ycrhältniss zu dem letztern und zu der Materie, dass «
nur mit der Materie unter einer und derselben Grundanschauung
begriffen werden konnte 0. Dieser strengere Dualismus hatte
aber die Folge, dass Marcions System überhaupt einen von dem
der übrigen gnostischen Systeme wesentlich verschiedenen Chat*
rakter erhielt Es hat mit ihnen, abgesehen von den vier Princi-
pien, dem höchsten Gott, der Materie, dem Demiurg und Christas
sonst nichts gemein, es hat kein Pleroma, keine Aeonen, keiae
Syzygien, keine leidende Sophia, und da alle diese Wesen nur die
Bestimmung haben, den allgemeinen Weltentwicklungsprocesa ein-
leitend und vermittelnd auf den Punkt fortzuführen, auf welches
das an sich schon Vorhandene im Christenthum zu seiner Reali-
tät und Vollendung kommen soll , so geschieht überhaupt in Mar-
cions System alles auf unvermittelte und unvorbereitete Weise»
schroff und plötzlich. Recht absichtlich ist bei ihm alles daraif
angelegt, den Zusammenhang des Christlichen mit dem Vorchrist*
liehen völlig zu zerreissen. Das Heidenthum hat ohnediess nichts
dem Christenthum Verwandtes, aber auch das Judenthum steht
so tief unter dem Christenthum, dass Marcion beide nur aus dem
Gesichtspunkt des schroffsten Gegensatzes betrachten kann. Der
Demiurg ist nicht blos ein beschränktes und unvollkommenes, son-
dern ein dem höchsten Gott und Christus feindlich wideratrebea-'
des Wesen 0. Während bei Valentin und Basilidei? der Demiarg
vor Christus sich beugt und in sich geht, ist er es bei Mardtfi}
welcher den Tod Christi veranstaltet. Sein Hauptprädikat ist zwar
der Begriff der Gerechtigkeit, aber Gute und Gerechtigkeit stehea
in der Ansicht Marcions so weit auseinander, dass Gerechtigkeit
1) Vgl. die christliche Gnosis S. 276 f.
2) Philos. 7, 31. S. 254: Kaxos d' iarlvy oU Uyeiy o driu^y^yo^i ^
Tura rd TTOttjuara,
Maroion. 195
mir so viel als Strenge und Harte ist. Anch der Begriff der Ge-
rechtigkeit soll nur den Unterschied und Gegensatz des Juden-
ttinins und Christenthums bezeichnen, und Marcion hebt daher
überhaupt nichts stärker hervor, als das schlechthin Neue, Un-
mitlelbare. Unvorbereitete und Unbegreifliche des Christenthums.
Der von Christus geofTenbarte Gott ist ein völlig unbekannter, von
welchem man weder in der heidnischen, noch in der jüdischen
Welt zuvor auch nur eine Ahnung gehabt hat Es ergibt sich
hieraus, dass die marcionitische Gnosis, wenn wir sie mit derjeni-
gen Form der Gnosis zusammenhalten, deren Hauptrepräsentant
Valentin ist, die derselben gerade entgegengesetzte Tendenz hat
In allen denjenigen Systemen, welche zur ersten Form der Gnosis
gehören, geht die gemeinsame Richtung dahin, so viel möglich
Termittelnde Glieder einzuschieben zwischen den absoluten An-
fangspunkt und den Punkt, auf welchem das Christenthum als
neues Moment eintritt, sie machen es sich recht absichtlich zur
Anfgabe, eine so viel möglich anschauliche und concrete Yor-
stelhmg des ganzen Entwicklungsprocesses zu geben, in welchen
das Christenthum auf solche Weise eingreift, dass sein ganzes
Dasein und Wesen nur aus allem demjenigen, was es zu seiner
Toraussetzung hat, begriffen werden kann. Alles diess ist bei
Marcion ganz anders, in der gerade entgegengesetzten Richtung
«Dcht er vielmehr aus derselben Sphäre, welche jene Systeme mit
Ihren idealen Wesen ausfüllen, alles, was für das Christenthum
^e vermittelnde Bedeutung haben könnte, zu entfernen, es soll
nnr der reine Gegensatz festgehalten werden. Und doch, so ent-
gegengesetzt die beiden Richtungen zu sein scheinen, wenn die
eme ebenso sehr vermittelnd und anknüpfend als die andere allen
Znsammenhang zerreissend und abschneidend ist, es kann der Un-
tenichied nur ein relativer sein, wofern anders das System Mar-
^'s, so gut wie das eines Valentin und Basiiides, unter den Ge-
sichtspunkt der Gnosis gehört, es sind nur verschiedene Formen
^d Modificationen einer und derselben Anschauungsweise. An-
glers ist es ja auch nicht, wenn man die Sache näher betrachtet
Mag auch der von Christus geoffenbarte Gott noch so plötzlich
^A unvermittelt erschienen und in die Welt- und Religionsge-
^Uchte eingetreten sein, es ist diess doch niir. seine äussere
Erscheinung und Offenbarung für das Bewusstsein der Mensch-
13»
196 I>ritter Absohnitt. Das CliriBtenthfim als absolutes Wel^rindp.
•
heit, welche das absolute Sein des bis dahin unbekannten Gottes
zur Voraussetzung hat, und so verschieden auch der Demiurg
Marcions von dem der beiden andern Gnostiker ist, so kann dock
auch nach Marcions Ansicht der von Christus geoffenbarte Gott
nicht eintreten, ehe das Reich des Demiurg, als des Beherrschers
der vorchristlichen Weltperiode, ihm vorangegangen ist, und w«m
auf diese Weise die ganze Welt- und Religionsgeschichte in diese
zwei Perioden sich theilt, von welchen die eine die andere zo
ihrer nothwendigen Voraussetzung hat, und dieses Verhältniss selbst
nur aus einem Princip begriffen werden kann, in welchem der
Gegensatz selbst wieder seine Einheit hat, so bleibt das Gemein-
same immer diess, dass alles, was zum Wesen des Christenthttms
gehört und den wesentlichen Inhalt des christlichen Bewusstseins
ausmacht, durch seinen Gegensatz vermittelt werden muss. Es
macht somit weder der Dualismus noch der Demiurg für sich das
Wesen der Gnosis aus, sondern nur das Verhältniss, in welchem
der Demiurg zu Christus steht, dass Christus selbst nicht sein kann,
ohne die Voraussetzung des Demiurg. Hierin also ist Marcion so
gut Gnostiker als irgend ein Anderer, und wenn wir weiter er-
wägen, dass der gnostische Demiurg selbst nichts anders ist, ab
eine mythische Personification in demselben Sinn, in welchem die
alterthümliche Anschauungsweise überhaupt ihre Begriffe zu sym*
bolisiren und zu personificiren pflegte, so sehen wir den Marcioa
gerade da, wo er in seinem christlichen Bewusstsein von der vor-
christlichen Welt nichts wissen will, nur um so fester in ihr©»
Anschauungsformen stehen. Auch er kann sich die vorchristliche
Welt in ihrem Unterschied von der christlichen nicht denken, ohne
sie in einem Wesen, wie der Demiurg ist, anzuschauen, auch er
steht noch auf einem Standpunkt, auf welchem sein christliches
Bewusstsein wesentlich durch die allgemeinen Gegensätze seiner
Weltanschauung überhaupt bestimmt ist Nur ist er freilich, was
ihn von andern Gnostikern charakteristisch unterscheidet, aber
auch nur die Folge des strengen Gegensatzes ist, in welchen^
sich zu allem Vorchristlichen setzt, schon im Begriff, aus der trans-
cendenten Sphäre des objectiven Weltbewusstseins, in welcher die
Weltentwicklung in dem Gegensatz des Geistes und der Materie,
oder des PneumaUschen und des Psychischen, sich bewegt, in die
Sphäre des subjectiven Bewusstseins überzugehen, in welcher
Du System der psendo-olementituscheii Homilien. 197
r Gang der Weltentwicklung vorzugsweise an den ethischen Be-
iffen des Gesetzes und des Evangeliums, der Gerechtigkeit und
r Güte, der Furcht und der Liebe fixirt wird 0» Der allge-
rine gnostische Gegensatz von Geist und Materie steht schon
Hintergrund, es ist mehr nur der Gegensatz des Sichtbaren und
[Sichtbaren, welchen Marcion zur Basis seiner Weltbetrachtung
er seines religiösen Bewusstseins macht , um Gesetz und Evan-
lium in ihrer ganzen Weite auseinanderzuhalten.
Wie die Gnosis Marcion's die Aeonen fallen lässt, und den
^miurg beibehalt, dafür aber den Dualismus um so mehr schärft,
fragt sich, ob es nicht noch eine dritte t^orm gibt, in welcher
wohl der Demiurg, welcher in seiner Trennung von dem hoch-
m Gott auch bei Marcion noch am meisten ein heidnisches Ge-
ige an sich trägt, als auch der Dualismus zurücktritt, und doch
imer noch etwas Charakteristisches vom Wesen derGnosis bleibt,
enigstens darin, dass das Christenthum gleichfalls aus dem Ge-
chtspunkt des allgemeinen Weltentwicklungsprocesses betrachtet
ird. Es gehört hieher das in den pseudoclementinischen Homi-
en enthaltene System , das zwar von den gewöhnlich zur Gnosis
«rechneten Systemen so verschieden iist, dass man mit Recht fra-
"en kann, ob es in ihre Reihe zu stellen ist , auf der andern Seite
ber doch auch wieder alle gnostischen Begriffe auf eine solche
feise in sich vereinigt, dass es nur für eine neue Form der Gne-
is gehalten werden kann.
Wäre freilich die Trennung des Weltschöpfers von dem höch-
ten Gott in der Weise, wie man sie gewöhnlich nimmt, als das
«uptkriterium der Gnosis anzusehen, so könnte ein System , das
cb so ausdrücklich gegen diese Trennung erklärt, wie das pseu-
)clementinische , nicht für gnostisch gehalten werden. Allein
an kann jenes Kriterium der Gnosis vollkommen anerkennen, und
ich behaupten, dass das System der Homilien durchaus einen
loatischen Charakter an sich trägt« Es lautet nicht nur antigno-
isch, sondern ist auch ganz antignostisch gemeint, wenn die Ho-
ilien mit allem Nachdruck als die Grundwahrheit aller Religion
m Satz geltend machen, dass der höchste Gott auch der Welt-
höpfer sei, und diese beiden Begriffe so unzertrennlich mit ein-
I) Veigl. die ehr. Gnoflis B. 851. f.
198 Dritter Abschnitt. Das Christenthom als absolutes Wel^rindp.
ander verbunden wissen wollen, dass sie sogar sagen, selbst wenn
der Weltschöpfer das allerschlimmste Wesen wäre, wurde ihn
doch allein in jedem Falle die ganze Verehrung des Menschen ge-
bühren, da der Mensch doch nur von ihm sein Dasein haben kann,
für das religiöse Bewusstsein des Menschen also die beiden Be-
griffe Gott und Weltschöpfer schlechthin identisch sind 0« Man
sehe nun aber nur, wie die Homilien diese beiden Begriffe, unge-
achtet ihrer Identität, doch wieder trennen. Vor allem ist Gott aock
nach den Homilien nicht Schöpfer der Materie, auch sie kennen
keine Schöpfung aus Nichts, da auch sie eine ursprüngliche Materie
annehmen, nur setzen sie sie in das Wesen Gottes selbst, und las-
sen sie mit den verschiedenen Substanzen, welche die Hauptgegen-
sätze bildeten, substanziell aus Gott hervorgehen. Auch so weit
Gott Weltschöpfer ist, ist er es wenigstens nicht unmittelbar, son-
dern nur durch die Vermittlung der Sophia. Die mit Gott als Seele
stets verbundene Sophia ist das weltschöpferische Princip, durch
welches Gott aus sich hervorgeht und die Monas zur Dyas wird.
Die Sophia wird daher ausdrücklich die demiurgische Hand Gottes
genannt ^), und der Unterschied der Sophia der Homilien von (j^r
der gnostischen Systeme wäre somit nur , dass sie nicht von Gott
getrennt, sondern in dasselbe immanente Verhältniss zum Wesen
Gottes gesetzt wird, in welchem auch die Materie zu ihm steht
Noch analoger wird das System der Homilien den andern gno-
stischen Systemen dadurch, dass Gott auch nicht der eigentliche
Regent der Welt ist, welcher der gnostische Demiurg vorsteht,
sondern ein Wesen, das nach einer Seite hin sogar noch in eine»
schärferen Gegensatz zu Gott steht, als der Demiurg Marcion's*
Als die vier Grundstoffe aus Gott herausgetreten waren und sich
vermischt hatten, entstand aus ihnen ein Wesen, welches das Be-
streben hatte, die Bösen zu verderben. Dieses Wesen ist nirgends
her als von Gott, von welchem alles ist , aber seine Bosheit hat es
nicht von Gott, sondern diese entstand erst ausserhalb (jott und ans
dem eigenen Willen der sich mischenden Grundstoffe, doch nicht
gegen den Willen Gottes, ja nicht einmal ohne denselben, da km
Wesen , am wenigsten ein hegemonisches , einer grossen Zahl an-
1) Hom. 18, 22.
2J Hom. 16> 12: x^fQ dfjf/i&B^yaoa ro nuv*
• \
Dtt System der psendo-clementinisclieii Homilien. 190
lerer vorgesetztes, nur zufällig, ohne Gottes Willen, entstehen kann.
Sben diesem Wesen, das so weit wenigstens als böses beschrieben
irird, hat Gott die Herrschaft über die gegenwärtige Welt nebst
ler Vollstreckung des Gesetzes, oder der Bestrafung des Bösen,
ibertragen. Die ganze Weltordnung theilt sich daher in zwei
leiche, in die gegenwärtige und die künftige Welt, oder die linke
ind die rechte Hand oder Kraft Gottes. Dem bösen Herrscher der
Ifegenwärtigen Welt steht der gute der künftigen, oder Christus,
jfegenüber 0- Das böse Wesen soll demnach nur nicht ein so
schlechthin böses sein, dass es nicht als ein aus Gott hervorgegan-
Ifenes und die Zwecke Gottes realisirendes gedacht werden kann,
las Streben des Systems geht auch hier nur dahin, die dem gno-
»tischen Dualismus entsprechenden Begriffe in der Einheit des Prin-
zips so zu begreifen, dass sie durch sie nicht aufgehoben wird. Je
mehr aber durch alles diess der Dualismus und der durch denselben
bedingte Process der Weltentwicklung beschränkt wird, um so mehr
nossman fragen, worin zuletzt noch sein eigentlich gnostischer Cha-
rtikter besteht? Es hat gleichfalls seinen Weltentwicklungsprocess,
iber es hat ihn nur in der Form seiner Syzygien. Den Begriff der
Syzygie nehmen die Homilien in einem andern Sinn, als er sonst
der Gnosis eigen ist, indem es vorzugsweise der Gegensatz ist, in
welchem die Zusammengehörigkeit der eine Syzygie bildenden Be-
griffe liegt. Das Gesetz des Universums ist das Gesetz des Gegen-
satzes, oder der Syzygien. Gott selbst, der von Anfang an Eine,
hat alles in Gegensätze gespalten , in Rechtes und Linkes , in Him-
mel und Erde, Tag und Nacht, Licht und Feuer, Leben und Tod.
Vom Menschen an aber wurde die Ordnung der Syzygien umge-
kehrt. Wie zuerst das Bessere voranging und das Geringere nach-
folgte, so wurde jetzt das Schlechtere das Erste und das Bessere
das Zweite. Auf Adam, den nach Gottes Bild geschaffenen Men-
ichen, folgte zuerst der ungerechte Kain und dann erst der gerechte
Ibel. Adam selbst wurde nach jener ersten göttlichen Ordnung
geschaffen. In der Syzygie, die er mit der Eva bildet, geht er als
las bessere Glied voran und die Eva folgt als das schlechtere nach.
Das Umschlagen der Syzygien ist in diesem System dasselbe , was
n dem valentinianischen der Fall der Sophia aus dem Pleroma ist.
1) Hom. 15, 7. 7, 3* 3, 19. 62.
JltOO Dritter Abschnitt. Das Ckristenthom als absolut«« Wel^rincip.
ein in das Ganze der Weltordnung geschehener Riss , welcher ir-
gend einmal geschehen muss, sich aber nicht weiter erklaren lassl
Ist das Dasein der Syzygien, die Dualität eines männlichen und eines
weiblichen Princips, die Spaltung in Gegensätze, an sich schon ein
der Endlichkeit der Welt anhängender Mangel, so wird dieser
Mangel, diese schwache Seite des Weltganzen, dadurch um so vor-
herrschender und überwiegender, dass das Weibliche dem Männ-
lichen vorangeht, das Schlechtere immer das Erste ist, das erst von
dem Bessern überwunden werden muss. In dieser Ordnung ent-
wickelt sich daher hier der weltgeschichtliche Process, dessen be-
wegendes Princip hier nicht der reale Gegensatz des Pneumatiscben
und Psychischen, sondern der ideelle der wahren und der falschen
Prophetie ist. Es gibt eine doppelte Art derProphetie, eine männ-
liche und eine weibliche, welche beide, wie Wahrheit und Irrthum,
oder wie die künftige und die gegenwärtige Welt, sich zu einand^
verhalten. Das Verhältniss, in welchem die gegenwärtige Welt
zur künftigen steht, ist der Typus für die Ordnung, in welcher die
Glieder der Syzygien auf einander folgen. Das Kleine ist das Erste
und das Grosse das Zweite , wie Welt und Ewigkeit. Die jetzige
Welt ist zeitlich, die künftige ewig. Zuerst ist Unwissenheit, dann
Erkenntniss. So sind nun auch die Führer der Prophetie geord-
net Denn wie die jetzige Welt weiblich ist und als Mutter der
Kinder die Seelen gebiert, die künftige Welt aber männlich ist vaA
als Vater die Kinder aufnimmt, so sind auch in dieser Welt die Pro-
pheten, die als Söhne der künftigen Welt mit der wahren Erkennt-
niss auftreten, die nachfolgenden 0* Angewandt wird dieses Ge-
setz der Syzygien auf die Welt- und Religionsgeschichte nur so-
weit, dass von Adam gesagt wird, er sei zu verschiedenen Zeiten
unter verschiedenen Namen wieder erschienen, in Henoch vor der
Fluth, nach derselben in Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Moses und
zuletzt in Christus, in welchem die Syzygie bestimmter hervortritt
und in dem Gegensatz zur Anschauung kommt, in welchem er 20
seinemVorläuferJohannes, oder Elias, steht. Beide verhalten sichzn
einander, wie Mond und Sonne. Dasselbe Verhältniss wiederholt
sich sodann in dem Magier Simon, der schon unter den Jüngern des
Täufers der Erste war und nach seinem Tode ganz an seine Steile
I) Hom. 2, 25.
Dm System der pseado-clementinischcn Homilien. JTOl
trat, und dem Apostel Petrus. Derselbe Gegensatz also, welcher in
dem Verhältniss der gegenwärtigen und der künftigen Welt sich
darstellt, zieht sich durch die gegenwärtige in verschiedenen For-
men hindurch, das Schlechtere geht immer als das Weibliche vor-
an und das Bessere folgt als das Männliche nach, aber was ist, wenn
sich immer nur derselbe Gegensatz wiederholt und Christus am
Ende nur dasselbe ist, was schon am Anfang der mit ihm identische
Adam war, das allgemeine Ziel der Entwicklung? Es kann nur
darin liegen, dass die gegenwärtige Welt zur künftigen sich auf-
hebt und in sie übergeht, es geschieht diess aber nicht durch einen
Entwicklungsprocess, wie der sonst in den gnostischen Systemen
geschilderte ist Die allgemeine Anschauungsform, welche dem
System der Homilien zu Grunde liegt, ist nicht sowohl die Zeit und
die Bewegung in der Zeit, als vielmehr der Raum und die Ausdeh-
nung im Raum. Der Eine wahre Gott, welcher in der vollkommen-
sten Gestalt dem All vorsteht, und, als das Herz des Alls, überall,
wo er auch ist, in dem Centrum des Unendlichen ist, lässt von sich
als dem Centrum sechs Dimensionen ins Unendliche ausgehen, in
die Höhe und Tiefe, zur Rechten und Linken, nach vornen und hin-
ten. Wenn nun auch gesagt wird, dass er auf diese sechs Dimen-
sionen hinblickend, als auf eine nach allen Seiten hin gleiche Zahl,
in sechs Zeiträumen die Welt vollende, so ist doch die Grundan-
schauung das Räumliche , das im Räume ruhende Sein. Als der
Ruhepnnkt alles Daseins hat er in der zukünftigen unendlichen Zeit
sein Bild, als Anfang und Ende von Allem. Denn zu ihm gehen die
sechs unendlichen Richtungen zurück und von ihm nimmt alles seine
Ausdehnung ins Unendliche. Das ist das Geheimniss der Sieben-
zahl. Denn er ist der Ruhepunkt von allem, und wer im Kleinen
seine Grösse nachahmt , den lässt er in sich zur Ruhe gelangen 0*
Ein in der Zeit sich fortbewegender Weltentwicklungsprocess
kommt also hier wenigstens nicht zur Anschauung, und doch bleibt
das System der Homilien dem gnostischen Grundcharakter darin
treu, dass auch ihm alles durch Gegensätze vermittelt werden muss.
Wie schon in Marcion's System der reale Weltentwicklungsprocess
durch die ethischen Begriffe , welche den Hauptgegensatz bilden,
eine ideelle Bedeutung erhält, und eine dem subjektiven Bewusst-
1) Hom. 17, 7.
SOS Dritter Abschnitt. Dm Christenthnm als absolatet WeHprioeip.
sein zugekehrte Richtang nimmt, so hat im System der HomiUen
die Yermittiung durch Gegensätze ihr wesentliches Moment in der
Beziehung auf das subjektive Bewusstsein. Nicht objektiv, sofern
die Weltentwicklung an sich keinen andern Verlauf nehmen kann,
sondern nur subjektiv, für das Bewusstsein des Menschen , ist die
ganze Weltordnung auf das Gesetz der Syzygien gegründet Ab
Lehrer der Wahrheit, um dem Menschen die Erkenntniss des Seien-
den möglich zu machen O9 h^^ Gott in der von ihm geschaffenen
Natur den Kanon. der Syzygien vor Augen gestellt, damit an ihn,
als dem höchsten und allgemeinsten Kriterium, die Wahrheit er-
kannt und der Irrthum unterschieden werden kann. Diesem Kanon
zufolge erkennt man den Magier Simon als falschen Propheten dar-
aus, dass Petrus erst nach ihm gekommen ist, und auf ihn folgt,
wie Licht auf Finstemiss, Erkenntniss auf Unwissenheit, Heilung
auf Krankheit folgt Zuerst muss das falsche Evangelium durch
einen Betrüger kommen und dann erst kann das wahre verbrdtet
werden zur Widerlegung der kommenden Haresen. Und nach die-
sem muss wiederum zuerst der Antichrist kommen, und dann erst er-
scheint der wahre Christus, Jesus, worauf, wenn das ewige Liebt
aufgeht, alles Dunkel verschwinden wird ^. Auf diese Weise folgt
Gegensatz auf Gegensatz, damit die durch die Gegensätze vermit-
telte Erkenntniss der Wahrheit immer intensiver und allgemeiner
werde. Da die Wahrheit von Anfang an eine und dieselbe ist,
selbst zwischen dem Mosaismus und dem Christenthum intler Iden-
tität ihres Inhalts kein wesentlicher Unterschied ist, so kann die ganse
Entwicklung nur darauf hinzielen, die Wahrheit zur Erkenntniss zu
bringen, und in das allgemeine Bewusstsein der Menschheit einzufüh-
ren. Auch das Christenthum macht daher nur dadurch Epoche,
dass es durch die Verbreitung des Evangeliums auch unter den
Heiden der vollendete Universalismus ist Darin aber trifft auch
dieses System wieder mit der Gnosis zusammen, dass Christus auch
hier die Bedeutung eines allgemeinen Weltprincips hat Der ganze
weltgeschichtliche Process, dessen bewegendes Princip das Gesetz
der Syzygien ist, hat seine Einheit darin, dass es immer nur derselbe
1) Hom. 2) 15: o d'soe didaaxakwp T8S dv^gwitai irgos r^v rtnv of'
2) Hom. 2, 17.
Die drei Formen der Gnoiis« 903
Eine wahre Prophet ist, der von Gott geschaiFene, mit dem heiligen
Geist Christi ausgestattete Mensch, welcher vom Anfang des Welt-
laufs an, zugleich mit den Namen die Gestalten wechselnd, die Pe-
rioden des Weltlaufs durchläuft, bis er in der Folge der ihm be-
stimmten Zeiten, wegen der Arbeit, die er auf sich genommen, mit
Gottes Erbarmen gesalbt, auf immer zur Ruhe gelangt 0*
Der Unterschied zwischen dem System der Homilien und den
übrigen gnostischen Systemen besteht in letzter Beziehung darin,
dass der gnostische Dualismus durch die strenge Festhaltung des
Princips der Einheit eine dem Monotheismus immanente Bedeutung
erhält, und die aligemeine Weltanschauung aus der transcendenten
Metaphysik der gnostischen Kosmogonie in die Sphäre der Welt-
und Religionsgeschichte herabsteigt, um in ihr die Gegensätze zu
verfolgen, durch welche die Erkenntniss des an sich Wahren und
an sich Seienden vermittelt wird. Der Uebergang dazu ist schon
in den altern Systemen durch den Begriff des Pneumatischen be-
gründet. Das Element der pneumatischen Naturen ist das Wissen,
sie sind dervon der materiellen und psychischen Verdunklung seines
Bewusstseins befreite, selbstbewusste, wissende, das an sich Wahre
erkennende Geist. In allen ihren Formen ist die Gnosis die Er-
kenntniss des Absoluten, das absolute Wissen, nur das Objekt ist
verschieden bestimmt, in den altern Systemen ist es ilas Absolute
überhaupt mit dem Gegensatz der Principien, bei Marcion der Ge-
gensatz des Christlichen und Vorchristlichen, oder des Gesetzes
und Evangeliums, in den Homilien der Gegensatz der falschen und
der wahren Prophetie.
Man kann die drei Formen der Gnosis, die sich uns aus der
bisherigen Entwicklung ergeben haben, auch nach den drei Reli-
gionsformen unterscheiden, deren verschiedenartige Elemente den
Inhalt der Gnosis bilden. In den altern Systemen herrscht noch am
meisten die symbolisch mythische Anschauungsweise des heidni-
schen Alterthums vor, das Vorchristliche ist schon die Vorstufe des
Christlichen, und es ist zwischen beiden im Grunde nur ein flies-
sender Unterschied, dem System Marcion's ist es am meisten um den
reinen, von allen fremdartigen Elementen gesonderten Begriff des
Christlichen zu thun, in dem System der Homilien ist das Christen-
1) Hom. 3| 20.
804 Dritter Abschnitt. Das Christenthmii als al>solates Wel^vrindp*
thum nur das gereinigte und erweiterte Judenthum. Während die
altem Systeme das Judenthum auf eine sehr untergeordnete Stufe
setzten, Marcion ihm sogar allen religiösen Wertb absprach, ist es
dagegen dem System der Homilien die absolute Religion. Diese
Bedeutung konnten aber die Homilien dem Judenthum nur vermit-
telst der Willkür verleihen, mit welcher sie alle Stellen des A. T.,
auf welche die altem Gnostiker ihre Degradirung des Judenthums
stützten, indem sie in ihnen die Hauptbeweise für ihre Behauptung
fanden, dass der Demiurg als der Judengott nur ein schwaches und
beschranktes Wesen sei , für falsche Zusätze der Schriften des A.
T. erklarten. Wie auf diese Weise die eine Form der Gnosis die
Verneinung der andern ist, so stehen sie auch geschichtlich in die-
sem gegensatzlichen Verhältniss zu einander. Wenn Marcion die
Allegorie verwarf, so trat er schon dadurch den altern Gnostikem,
die so Vieles auf die Allegorie bauten , bestreitend entgegen , und
gegen seine Lehre selbst erhob sich wieder das System der Ho-
milien. Es leidet keinen Zweifel, dass die Irrlehre, welche die Ho-
milien an dem Magier Simon als eine neue Form des heidnischen
Polytheismus bestreiten, die marcionitische Gnosis ist Indem diese
Formen der Gnosis nicht blos geschichtlich aufeinander folgten, son-
dern auch in einem innem Zusammenhang mit einander stehen und
sich gegenseitig ergänzen, hat die -Gnosis in ihnen ihren Begriff
erschöpft und ihren Lauf vollendet. Ist sie wesentlich nichts an-
ders als das Bestreben, die Momente der Religionsgeschichte ab
das, was sie an sich sind, oder philosophisch aufzufassen, so konntiß
sie den absoluten Standpunkt, auf welchen sie sich stellte, entwe-
der in einer dem Heidenthum sich so viel möglich annähernden
Form des Christenthums, oder im reinen Christenthum, oder in dem
mit dem Judenthum identischen nehmen ^).
1) Eine eigene Form der Gnosis, die ohne Zweifel schon einer späteren, den
Manichäismus berührenden Zeit angehört, ist noch das System der oben (S. 185)
genannten nians 2o(pia. Der schwierigen Aufgabe, die Hanptideen dieser Schrift
in einen klaren Zusammenhang zu bringen, und eine übersichtliche DarsteUong
des ganzen Systems zu geben, hat sich Köstlin in den Theol. Jahrb. 1854 '^
der Abb.: Das gnostische System des Buches niaris JSotfia, auf eine sehr dait-
kenswerthe Weise unterzogen. Es unterscheidet sich dieses System, wie ea
Köstlin charakterisirt, von andern gnostisohen Systemen theils durch seinen
monistischen Charakter, theils durch seine praktisch religiöse Bichtong.
Der DoketUmofi. )|05
Noch ist diejenige Seite der Gnosis nicht in nähere Erwägung
jrezogen worden, die man mit dem Namen des Doketismus zu be-
>ie Grandansohanung bewegt sich aucli hier in dem G^gensatr Ton Geist
ind Materie, aber die Materie ist, obgleich unrein, kein ursprünglich böses
Mncip, das ganze Universum ist auf dem Wege der Emanation entstanden,
ind die höchste über alle Welten und Himmel unendlich erhabene Region des
;öttlichen Lichtreiclis, in welchem der InefFabilis mit freiem Willen die in
einem Sehoose ruhenden, zu eigener für sich seiender Realität hervorstrbbenden
Jchtwesen aus sich heraustreten iRsst, ist sosehr ein rein g^istig^s Reich
'ollkommener Gesetzmässigkeit und Harmonie , dass die Sophia aus ihrem
\itze im valentinianischen Pleroma in eine weitere Sphäre herabgerückt ist.
Jm die Idee des Abfalls vom Unendlichen und der Rückkehr zu demselben
landelt es sich auch hier durchaus , und zwar so , dass das Schicksal der
k>phia, sowohl ihr Fall als ihre Busse und Erlösung, der vorbildliche Typus
!8r dasjenige ist, was ganz in derselben Weise an der Menschheit sich ver-
inrklichen soll. Die Welt ist nur dazu erschaffen , d. h. mittelst des ersten
Uysteriums aus dem Ineffabilis herausgetreten, damit dieses und die übrigen
„mysteria purgatores und remissores^S d* k. die der Entsündigong der Welt
durch Bekehrung und Busse vorstehenden verborgenen Kräfte der Gottheit
eben diese ihre entsündigende, auch den Abfall und Widerstand gegen das
Qnte überwindende Thätigkeit in dem ganzen Umkreis eines durch sie her-
Toigebrachten nnermesslichen Universums verwirklichen und so die ewige
Mabenheit des Göttlichen über alle Endlichkeit, die unendlich versöhnende
oad beseligende Macht und Lebensfulle des guten Princips zur Darstellung
bringen können. Zum Eigenthümlichen des Systems gehört insbesondere auch
leine Mysterienlehre. In dem Begriff der Mysterien ist alles dasjenige ver-
änigt, wovon das Bestehen und Heil der Welt und der Menschheit abhängt,
^ Mysterien erzengen , regieren, versöhnen und retten die unter ihnen ste-
henden Wesen, und das ganze Christenthum ist daher nichts als die durch
Christus vermittelte Mittheilung oder Herabfuhrung der Mysterien in die
Welt, durch welche diese mit dem Reich des Lichts bekannt gemacht, ver-
söhnt, und auf ewig vereinigt werden soll. Die beiden gleich wesentlichen
Qnmdideen des Systems sind die der Gerechtigkeit und die der Gnade.
Entweder durch Bekehrung und Besserung, oder durch völlige Yemichtung
muss das Böse verschwinden, und der letzte Zweck des ganzen Weltpro^
cesses, die Reinigung des Universums von allem Unwürdigen und Verkehr-
ten, erreicht werden. So sehr hier die practisch religiöse Frage voransteht
Ukd das Ganze darauf berechnet ist, dem Menschen seine Endlichkeit, seine
Abhängigkeit von den Mächten des niedem weltlichen Daseins, seine Un-
fähigkeit zur Erhebung aus derselben ohne eine höhere erlösende Kraft in
ihrer ganzen Grösse und Schwere vor Augen zu stellen, ebenso aber auch
ihm die Gewissheit zu geben, dass eine erlösende Kraft im Weltall wirklich
forhanden und in Christus erschienen ist, so wesentlich ist doch aach hier
)(06 Dritter Abschnitt. Das Cbristenthnm als absolates Wel^rincip.
zeichnen pflegt Auch hier handelt es sich um eine in das Wesen
der Gnosis tiefer eingreifende Frage, die für unsere Auffassung
noch besonderes biteresse hat Je allgemeiner, umfassender, über-
schwänglicher der Gesichtspunkt ist, unter welchen die Gnosis das
Christenthum stellt, um so mehr dringt sich die Frage auf, wie
sich das gnostische Christenthum zum geschichtlichen verhalt, ob
nicht durch die Gnosis die Realität der geschichtlichen Thatsachen
des Christenthums und der geschichtliche Charakter des Christen-
thums überhaupt auf eine mit dem christlichen Bewusstsein un-
verträgliche Weise in Zweifel gestellt wird. Dass diess wirklich
geschehen sei, sagt der Name Doketismus, sofern mit demselben
überhaupt die Ansicht der Gnostiker vom Christenthum als mehr
oder minder doketisch bezeichnet wird. Man versteht unter die-
sem Namen die Behauptung, dass Christus, wie schon 1 Job. 4, 2.
gesagt wird, nicht im Fleische gekommen sei, d. h. keinen wahren
wirklichen Leib, wie ein anderer gewöhnlicher Mensch, gehabt
habe 0- Da nun der Leib die materielle Basis der menschlichen
Existenz ist, so liegt darin sogleich das weitere Moment, dass,
wenn Christus keinen wahren wirklichen Leib hatte, eben damit
auch die Realität der an seine Person geknüpften geschichtlichen
Thatsachen und der geschichtliche Charakter des Christenthums in
Frage gestellt ist. Alles, was mit dem Leibe geschehen sein soll,
jst nichts wirklich Geschehenes, wie namentlich sein Leiden, man
meint nur, es sei so geschehen, es ist blos etwas Vorgestelltes,
ist nur doutjoH oder «aro dontjaip, etwas blos Doketisches 0* ^
dieses praktisohe Interesse durch die gnostisch metapliysisolien QnmdlagOA
des Systems bedingt, und es muss sich erst dem Auge der Blick in die
unendliche Erhabenheit und Herrlichkeit der überhimmlischen Lichtregion
und ihrer Principien eröfihet haben, wenn man die Art und Weise begreifett
will, wie das Endliche zum Unendlichen zurückkehrt, oder vielmehr yom
Unendlichen selbst, aus dem es hervorgegangen, wiederum mit sich ver*
einigt imd in sich aufgenommen wird. Es steht daher auch dieses System ifl
der nächsten Verwandtschaft mit den zur ersten Hauptform gehörenden Syste-
men, besonders dem ophitischen, es erhebt sich aber über sie, wie durch seinen
sittlichen Geist, so durch seinen vom gnostischen Dualismus und Partikular
rismus freieren Charakter.
1) Man vgl. die Briefe des Ignatius Ep. ad Smym. c. 5: toV Mv^to¥
BXaOifrjUiXi fi^ Ofiokoyviv avtov ait(jK0(pu(iOv,
2) IgQ« a, a« 0. c. 2: ^jimatoi r$v6S Xiyttoiv rJ ^onuv avrCy mnor^
Der DoketütmoB. 807
der Ansicht der gnostischen Systeme von der Beschaffenheit des
Leibes Christi und den verschiedenen Modificationen derselben liegt
daher auch ihre mehr oder minder abweichende Ansicht von dem
Geschichtlichen des Christenthums. Am wenigsten scheint Basili-
les von der gewöhnlichen Vorstellung von dem Leibe Christi und
94v€U9 aveol tu Sonttv ovtbß. Obgleich der Doketismus zam Charakter der
Inosis überhaupt gehört, ist doch bisweilen aach von Doketen als einer
jesondem gnostischen Sekte die Bede. Clemens von Alezandrien nennt
Strom. 3) 13- den von der Schule Yalentin^s ausgegangenen Cassian, wel-
cher mit Tatian die Grundsätze der Enkratiten theilte, als den iiaQx^^ ^V^
^on^oturc. Ohne einen Stifter der Sekte zu nennen, führt der Verfasser der
PhiloBophumena im achten Buche die Doketen neben Monoimos, Tatian,
Hermogenes, den Quartodecimanem , Montanisten und Enkratiten als eine
eigene Sekte auf, die sich selbst den Namen Doketen gegeben habe. Sie
dachten sich Gott als erstes Princip unter dem Bilde eines Samens, welcher
im unendlich Kleinen das unendlich Grösste in sich schloss. Die Welt
miohs aus Gott wie der Feigenbaum aus dem Samen hervor, und wie der
Feigenbaum aus Stamm, Blättern und Frucht besteht, so sind ans dem er-
sten Princip drei Aeonen entstanden, welche wegen der Vollkommenheit
der Zehenzahl sich zu dreissig Aeonen verzehnfachten. Der Erlöser ist das
gemeinsame Produkt der sämmtlichen Aeonen und der Ausdruck ihrer Ein-
heit, oder die Einheit des in allem Gewordenen mit sich identischen Prin-
cips. Wie es dreissig Aeonen gibt, so nimmt der Erlöser ebenso viele Ge-
stalten {iöia9) an. Daher kommt es, dass jede Härese eine andere Vorstel-
lung Yon dem Erlöser hat und jede den nach ihrer Vorstellung gedachten
i&r den allein wahren hält {Sid tbxo roaavzai al^flatti ^^rSai tov *It^a8y
^tQtfiaxfjTujt , itat tatt 'naaau olxttof avrais , alki] 3s alloe o(iOtuivoi a:r'
^^8 TvTT&f itf>* ov tmaora [inaoTi]) (ft^erat, tpf^aivf uat antvSti Soxtiaa tStov
fiVM fiopov, oe tartv avrtji avyytv^s ^ i^to^ utal TtoXlrij^ etc. 8» 10* S. 268)*
£i drückt sich somit auch in dieser lichre der Doketen nur der aUgemeine
Charakter der Gnosis aus, er ist hier in der Grundanschauung aufgefasst,
dau der Objektivität des Einen absoluten Princips gegenüber alles Gewor-
dene nach der Verschiedenheit des Gesichtspunkts, unter welchem es sich
in dem vorstellenden Bewusstsein reflectirt , nur eine subjective Vorstellung
ist. Der gnostische Doketismus ist mit Einem Worte die Seite der Gnosis,
die man, da sie selbst von iSiai spricht, mit um so grösserem Becht Idea-
haau nennen kann. In ihrem Bestreben, das Absolute zu begreifisn, oder
d«8 an sich Seiende für das Bewusstsein zu vermitteln, drang sich ihr selbst
d«8 Bewusstsein auf, dass sie sich in einem rein phänomenologischen Pro-
vas bewegt, und mit ihrer Metaphysik über die Subjeotivität des Bewusst-
■eins nicht hinauskommt. Gerade da, wo sich ihr die Elemente ihrer Con-
itiaction zur concreten Bealität des Daseins zusammenschliessen sollten, wie
*A der Person des Erlösers, löste sich ihr das Sein in ein blosses doM*y «of«
808 Dritter Abschnitt. Das Christentham als absolates WeUprindp.
seiner Geburt aus der Jungfrau Maria sich entfernt zu haben 0*
Nach Valentin und andern Gnostikern aber sollte er nicht aus der
Maria, sondern nur durch (did) die Maria geboren, durch sie nur
wie durch einen Kanal hindurch gegangen, seine Geburt somit
eine blosse Scheingeburt gewesen sein 0* Di^ Yalentinianer schrie-
ben Christus in jedem Falle nur einen psychischen Leib zu, es
war aber diess bei ihnen eine sehr streitige Frage, wegen wel-
cher sie sich in zwei Schulen trennten, die anatolische und die
italiotische. Die letztere, zu welcher Herakleon und Ptolemius
gehörten, behauptete, der Leib Jesu sei ein psychischer gewesen,
und desswegen sei bei der Taufe der Geist auf ihn herabgekom-
meuy die erstere aber Cwie namentlich Axionikos und Adresianes)
hielt den Leib des Soter für pneumatisch, weil der heilige Geist,
d. h. die Sophia und die deiniurgisch bildende Kraft des Höchsten,
auf die Maria herabgekommen sei 0* D^n entschiedensten Doke-
tismus lehrte Marcion, die ganze Erscheinung Christi ist nach ihm
blosser Schein, ein blosses Phantasma, und um ihn mit dem Reiche
des Demiurg und dem zu demselben gehörenden materiellen Leben
auch nicht in die geringste Berührung kommen zu lassen, sollte er
auch nicht einmal zum Schein geboren, sondern unmittelbar vom Him-
mel auf die Erde herabgekommen sein 0- ^s erhellt schon aus der
Zusammenstellung dieser verschiedenen Meinungen der enge Zu-
sammenhang, in welchem der Doketismus der gnostischen Systeme
mit ihrem Dualismus steht. Besteht die Erlösung nach der Lehre
der Gnostiker in der Befreiung des Pneumatischen von dem Mate-
riellen und Psychischen, so bringt es der Begriff des Erlösers mit
sich, dass er selbst von dem Psychischen so wenig als möglich
berührt wird *). Zur Substanzialitat eines menschlichen Leibs ge-
hört auch das Materielle, je abstossender aber der Gegensatz der
beiden Principien Geist und Materie ist, um so mehr muss durch
das Uebergewicht des Pneumatischen alles Materielle ausgescUos-
1) Auch in den Philos. 7y 26. S. 241 wird Jesus nach der Lehre dci
Basilides geradezu 6 rioc r^s MnQi'as genannt»
2) Vgl. Tert adv. Val. c. 27. Theod. Haer. fab. 6, Ü.
3) Philos. 6, 35. S. 195.
4) Vgl. die christliche Gnosis S. 255 ^*
5) Philos. 7, 31. S. 254: Sid rSro dyivtjioQ narfjX&sv o *IffaSSi fV^^^
(liaroion), <Va «/ ndor^i dittfkXayfAivog namas»
Der Doketbrnofl. ]M)9
ten werden. Es fehlt daher dem Leibe des Erlösers sehr natürlich
lie concrete Realität der menschlichen Existenz, und wenn er
jfleichwohl mit einem menschlichen Leib erschien, so war ein sol-
cher Leib eine blosse Vorstellung ohne eine ihr entsprechende Reali-
ät Was aber vom Leibe Christi gilt, gilt auch von seiner Person-
ichkeit überhaupt Wie es dem Leibe Christi an einem materiellen
Substrat fehlt, so fehlt es seiner Persönlichkeit an dem concreten
nhalt einer menschlichen Existenz. Ein Wesen, das wie der gno-
tische Christus zu immateriell ist, um auf der Erde festen Fuss
:a fassen, und dem organischen Zusammenhang des menschlichen
jobens einverleibt zu werden, das den Schwerpunkt seines Selbst-
lewttsstseins in der transcendenten Region der Aeonenwelt hat,
ind mit Einem Male aus der Höhe herabschwebt, um auf kurze
feit in der Form eines menschlichen Daseins zu existiren, ist kein
menschliches Wesen. Dazu kommt, dass man sich nach der Lehre
der Gnosis überhaupt nichts denken kann, was als Wirkung der
persönlichen Thätigkeit des Erlösers anzusehen wäre. Das Werk
des Erlösers ist cUe Erlösung, was aber die Erlösung nach der
Ansicht der Gnostiker ist, zeigt schon ihre bekannte Behauptung
eines (fvan adCeo^ut. Werden die, die selig werden, von Natur
selig, d. h. dadurch, dass sie als pneumatische Naturen zuletzt nur
wieder in das Pleroma zurückkommen können, so sieht man nicht,
was ein Erlöser zu ihrer Seligkeit zu thun nöthig hat Die Selig-
keit ist ja überhaupt nach gnostischer Ansicht nicht durch ein Thun
und eine sittliche Leistung bedingt, sondern sie besteht nur im
Wissen. Das Wissen als solches, die Erkenntniss des Absoluten,
ist selbst Erlösung und Seligkeit 0* Wenn also in den pneumati-
sdien Naturen das ursprüngliche geistige Princip, das nie ganz
erlöschen kann, in seiner allmähligen Entwicklung die materielle
iBid psychische Verdunklung durchbricht, und das Bewusstsein des
Menschen so erhellt, dass er sich über die Welt des Demiurg er-
hebt und seiner Einheit mit dem Pleroma sich bewusst wird, so
ist dadurch die höchste Stufe des geistigen Lebens, das als solches
auch ein seliges ist, erreicht, und die Erlösung vollbracht Wenn
Hon diess auch in den gnostischen Systemen als die That des Er-
lösers betrachtet wird, so wird in seiner Erscheinung und Wirk-
1) Vgl. die christliche Qnosis S. 1S9 f. 489 f*
Baur» die drti entia Jahrli. 14
JHO I>ritter Absdmitt. Das Chziitenthmn als absolutes Weltprinoip.
samkeit nur ausserlich angeschaut, was an sich ein innerer Process
des geistigen Lebens ist, und was in der unendlichen Vielheit der
geistigen Subjecte immer wieder auf dieselbe Weise erfolgt, als
derselbe Akt des aus seiner Selbstentfiusserung in sich zurückge-
henden und zu seinem ursprünglichen Sein sich erhebenden Gei-
stes, ist in Christus, als dem allgemeinen Princip und Trftger des
geistigen Lebens, in seiner Einheit zusammengefasst Das Con-
crete, Individuelle, Persönliche löst sich immer wieder auf in das
Allgemeine des Begriffs, der gnostische Christus reprasentirt nur
ein Princip, das allen Formen und Entwicklungsstufen zu Grunde
liegende geistige Princip. Wie das System der Homilien überhaupt
durch seinen strengeren einheitlichen Character von den übrigen
gnostischen Systemen sich unterscheidet, so tritt in ihm auch das
Princip, das diese Systeme in die verschiedenen Gestalt^i ihres
Christus auseinander fallen lassen, darin bestimmter in seiner Ein-
heit hervor, dass es derselbe Eine Prophet der Wahrheit ist, wel-
cher nur unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Ge«
stalten durch alle Weltperioden hindurchgeht Welche Bedeutung
kann daher auch hier die äussere Erscheinung und die menscUieke
Geburt Christi haben? Scheint es doch, der gnostische Suprana- |
turalismus wolle in dem System der Homilien seine Maske vollends
ganz abwerfen durch die ausdrückliche Erklärung, die^ äussm
Offenbarung sei nichts anders als die immanente Selbstoffenbanmg
des Geistes. Was den Propheten zum Propheten macht, wird ge-
sagt, ist sein ifiqfvxov %m aewaov nvivfia ^), und dieses nvivfi*
wird nicht blos dem Propheten, sondern überhaupt allen FronnneD
beigelegt. Denn dem Frommen quillt, wird ganz allgemein gesagt*))
das Wahre hervor aus dem inwohnenden reinen Geiste , und in
demselben Sinne werden dem Apostel Petrus die Worte in den
Mund gelegt: „So wurde auch mir vom Vater der Sohn geoff^
hart, daher weiss ich, welche Bedeutung die Offenbarung habe,
aus eigener Erfahrung. Denn sobald der Herr mich fragte CMattk
16, I4O9 s^icg 6S niir Auf in meinem Herzen, und ich weiss selM
nicht, wie mir geschah, denn ich sagte: du bist der Sohn des le*
bendigen Gottes. Der, welcher mich desshalb selig pries, sagte
1) Hom. 5, 15.
2) Hom. 17, 18.
Der DoketiBmns. Sil
es mir erst, dass es der Vater war, der diess geoffenbart hatte.
Seitdem sah ich ein, was Offenbarung sei, ohne äussern Unter-
richt, ohne Visionen und Träume etwas inne werden, und so ist
es auch, denn m der Wahrheit, welche Gott in uns gepflanzt hat,
ist der Samen aller Wahrheit enthalten. Diese wird nur durch
Gottes Hand entweder verhüllt oder enthüllt, indem Gott so wirkt,
wie er die Würdigkeit jedes Einzelnen kennt.'^ An die Stelle der
iossem Offenbarung tritt also eigentlich die innere, die äussere
kann nur zum Bewusstsein bringen, was an sich schon als Keim
und Princip der Wahrheit in den Geist des Menschen niedergelegt
ist, und wir sehen hier in den tiefer liegenden Zusammenhang einer
Ansicht hinein, die allen gnostischen Systemen, so verschieden
auch ihre äussere Form ist, als inneres Princip zu Grunde liegt
Ist derselbe göttliche Geist, welcher in Adam war, auch in Chri-
stus erschienmi, so ist, da der dem Adam mitgetheilte göttliche
Geist auch auf die von ihm abstammenden Menschen übergehen
musste , das göttliche Princip in Christus nicht wesentlich ver-
schieden von dem Göttlichen in allen andern Menschen, somit nichts
schlechthin Uebematürliches. Es ist derselbe göttliche Menschen-
geist, der heilige Geist Christi, der in den sieben Säulen der Welt
durch alle Perioden der Weltgeschichte hindurchgeht, aber auch
als innerstes Princip allen Menschen inwohnt, und der Unterschied
ist nur dieser, dass er, während er in jenen in seiner substanziel-
len Kraft und Reinheit hervortritt, als der reine urbildliche Mensch,
in allen übrigen mehr oder minder getrübt ist Doch ist er auch
in ihnen nicht so sehr getrübt und verdunkelt, dass er nicht immer
wieder, sei es durch die innere Kraft seines Princips, sei es durch
iussere Anregung, das Dunkel, das ihn verhüllt, durchbricht, und
das volle Licht seines Selbstbewusstseins wieder gewinnt Dieser
Adam-Christus ist gleichsam das männliche Princip, das in den
eüixelBen Individuen nur dadurch getrübt und geschwächt worden
ist, dass mit ihm auch ein weibliches verbunden ist, das das Ue-
bergewicht erlangt hat, und wie jenes das geistige und vernünf-
tige ist, so ist dieses das sinnliche, die schwache, dem Irrthum und
der Sünde unterworfene Seite des menschlichen Wesens, weswe-
gen die Homilien selbst die Erscheinungen, in welchen sich die
falche Prophetie, oder das dämonische Heidenthum, kund gibt, in
tetater Beziehung immer wieder auf ein dem Menschen selbst in-
14*
9Vi Dritter Absclmitt. Das Christentliiim als abiolntea Wel^rineip.
wohnendes Princip, als ihre eigentliche Quelle, zurückfuhren. Was
daher in Beziehung auf die Weltgeschichte im Grossen Judenthum
und Heidenthum sind, sind in Beziehung auf den einzelnen Men-
schen und die Natur des Menschen an und für sich, die beiden
Principien Vernunft und Sinnlichkeit, es ist hier, wie dort, dieselbe
Dualität eines männlichen und weiblichen Princips. Es kommt
demnach nur darauf an, dem gnostischen Supranaturalismus die
symbolisch -mythische Hülle, mit welcher er sich umgeben hat,
abzustreifen und die Gestalten, in welchen er seine Begriffe per-
sonificirt, als das zu nehmen, was sie an sich sind, so tritt als der
eigentliche Kern der gnostischen Weltanschauung ein sehr durch-
sichtiger, auf das immanente Selbstbewusstsein des Geistes sich
gründender Rationalismus hervor.' Mag auch das Bewusstsein die-
ses Rationalismus kein sehr unmittelbares gewesen sein, dasPrincip
desselben liegt an sich im Begriff der Gnosis, und es kann daher
auch der Doketismus nur als der Punkt betrachtet werden, auf wel-
chem die an sich in der Gnosis liegende rationelle Tendenz am
sichtbarsten zu ihrer äusseren Erscheinung kam. Der Natur der
Sache nach kann es nicht anders sein, als dass in demselben Yer-
hältniss, in welchem alles Gewicht auf allgemeine Ideen specula-
tiven oder religiösen Inhalts gelegt wird, die geschichtliche Rea-
lität der Thatsachen des Christenthums zurücktritt Das Factische
hat der Idee gegenüber nur eine secundäre Bedeutung, oder wird
sogar nur zum bildlichen Reflex der Idee. Diess ist die eigent^
liehe Bedeutung des gnostischen Doketismus, welcher zunächst
nur in Beziehung auf den Leib Christi aussagt, was an sich von
der Gnosis überhaupt gilt Wie der Leib Christi die concreto Rea-
lität eines menschlichen Leibes nicht hat, so ist der allgemeine
Charakter der Gnosis die Verflüchtigung oder Verallgemeinerung
des positiven Inhalts des geschichtlichen Christenthums. Das Chri-
stenthum wird in die allgemeine Weltanschauung hineingestellt,
und als ein Moment des allgemeinen Weltentwicklungsprocessea
aufgefasst Der gnostische Christus ist ein allgemeines Princip,
durch welches, wie in den altem gnostischen Systemen, der reale
Process der Weltentwicklung bedingt ist, oder wenigstens, wie in
dem System der Homilien, die Erkenntniss der Wahrheit über*
haupt Die Frage, um welche es sich im Christenthum handelti
ist nicht blos die Heilsfrage, wie wird der Mensch selig, sondern
Der Montanismns. 818
die allgemeine, was ist der Anfang, der Verlauf und das Ziel der
Weltentwicklung , oder wie ist es möglich , das Wahre , an sich
Seiende, auf absolute Weise zu erkennen? Stand das Christenthum
auf dem Standpunkt der Heilsfrage in Gefahr, in dem Partikularis-
mus des Judenthums unterzugehen , so war es auf dem Standpunkt
der Gnosis im Begriff, in die Allgemeinheit einer transcendenten
Weltanschauung zu zerfliessen. Dem Einen, wie dem Andern,
musste die katholisirende Tendenz des Christenthums in derReali-
sirung der Kirche entgegentreten. Ehe wir jedoch dieser Seite
der Entwicklungsgeschichte der christlichen Kirche uns zuwenden,
zieht der Montanismus unsere Aufmerksamkeit auf sich.
2. D er Montanismu s.
Der Gnosticismus und der Montanismus haben darin einen ge-
meinsamen Berührungspunkt, dass es sich in beiden um eine prin-
cq)ielle, auf den Weltverlauf überhaupt sich beziehende Frage han-
delt Der Unterschied dagegen ist, dass, wie der Gnosticismus den
Anfangspunkt ins Auge fasst, von welchem alles ausgeht, die ab-
soluten Principien, durch welche der Selbstoffenbarungsprocess
Gottes und der Gang der Weltentwicklung bedingt ist, im Monta-
m'smus der Hauptpunkt, um welchen sich alles bewegt, das Ende
der Dinge ist, die Katastrophe, welcher der Weltverlauf entgegen-
geht. Und nicht minder gehen beide darin auseinander, dass, wäh-
rend der Gnosticismus in den Gesichtskreis der allgemeinsten,
durch die spekulativsten Ideen der Zeitphilosophie erweiterten und
bereicherten Weltanschauung sich hineinstellt, der Montanismus
auf die Sphäre der jüdischen Hessiasidee sich beschränkt Es he-
ben aber nicht nur diese Unterschiede den gemeinsamen Berüh-
rungspunkt nicht auf, sondern es haben auch die beiden Erschei-
nungen, welche wir hier zusammenstellen, auf gleiche Weise die
Elemente ihres Ursprungs in der Anschauungsweise des Urchristen-
thams« Wie schon der Apostel Paulus der gnostischen Weltbe-
trachtung dadurch sich nähert, dass er die beiden Weltperioden, die
vorchristliche und die christliche, unter den Gesichtspunkt allge-
meiner, die Entwicklung der Menschheit bedingender Principien
stellt, und verschiedene Momente eines in die absolute Einheit Got-
tes SHTflckgehenden Weltverlaufs unterscheidet, so wurzelt der
VI 4 Dritter Absohnitt. Das Chriitenthum als absolates WeUprino^.
Hontanisrnns ganz in dem urchristlichen, auch von dem Apostel
Paulus getheilten Glauben an die Parusie Chiisti. Es ist daher hier
der Ort, auf dem Uebergang zum Montanismus zunächst diesen für
das urchristliche Bewusstsein so charakteristischen Glauben in Be-
tracht zu ziehen. Der Glaube an die Parusie Christi und die Re-
action gegen eine von diesem Glauben schon abgekommene Welt-
ansicht sind die beiden Hauptmomente, aus welchen der Ursprung
und der Charakter des Montanismus zu erklären ist
Das unmittelbarste und engste Band, das das Christenthom
mit dem Judenthum verknüpft, ist die jüdische Messiasidee, und
doch liegt in ihr zugleich der schärfste Gegensatz, in welchem Ju-
denthum und Christenthum sich von einander abstossen. Hatte man
in Jesus den verheissenen, zur Erfüllung der messianischen Hoff-
nungen gekommenen Messias zu sehen geglaubt, so schien ja sein
Tod alle diese Hoffnungen, ehe er sie erfüllt hatte, auf immer zu
zerstören. Allein nur zu bald schloss sich die Kluft, die zwischen
dem jüdischen Messiasglauben und der Thatsache des Todes Jesu
lag, im Bewusstsein der messiasglaubigen Jünger wieder zusam-
men. Wenn er auch als der lebende Messias nicht erfüllt hatte,
was man von ihm hoffte, so konnte er ja als der Auferstandene und
zum Himmel Erhobene vom Himmel wiederkommen , um nun erst
alles noch nicht Geschehene zu vollbringen. Die Parusie Christi
war ein nothwendiges Glaubenspostulat der ersten Jünger, und je
weniger man dem Inhalt des alten Glaubens auch in seiner neuffli
Form entsagen konnte, um so dringender schien es, dass er schon
in der nächsten Zeit in Erfüllung ging. So viele Stellen der neu-
testamentlichen Schriften bezeugen es , wie sehr dieser Glaube das
christliche Bewusstsein der ältesten Zeit beherrschte. War doch
in ihm selbst zwischen dem Heidenapostel und dem Verfasser der
Apokalypse kein wesentlicher Unterschied. Konnte irgend einer
der ersten Verkündiger des Evangeliums die Bestimmung desChri-
stenthums, die allgemeine Weltreligion zu sein, erst in der fernsten
Zukunft in Erfüllung gehen sehen, so war es der Apostel Paulus,
aber auch ihm steht im Gedanken an die Parusie der Glaube fest,
dass schon jetzt alles seinem Ende nahe , und er selbst noch die
grosse Katastrophe erleben werde. Ein solcher Glaube trug aber
zu sehr seine eigene Widerlegung in sich , als dass er in seiner
Stärke und Lebendigkeit sich erhdten konnte. Je länger er oner-'
Der Glaube an die Panifie. M6
fallt blieb, um so mehr mnsste er seinen Hal^mnkt in dem allge-
meinen Zeitbewusstsein verlieren. Wir können schon innerhalb
der neatestamentlichen Schriften die verschiedenen Hodificationen,
die er allmählig erlitt, verfolgen« Welcher grosse Abstand ist
zwischen den in dieser Beziehung am weitesten auseinanderstehen-
den Schriften, der Apokalypse, in welcher dieser Glaube in seiner
hellsten Flamme auflodert, und imChiliasmus seine konkreteste Ge-
stalt hat, und dem zweiten Brief Petril Wenn der Verfasser des
letztem 3, 1. f. schon von Spöttern spricht, die in den letzten Ta-
gen kommen und nach ihren eigenen Lüsten wandelnd sagen:
„Wo ist die Verheissung seiner Parusie , seitdem die Vater ent-
schlafen sind, bleibt alles, wie es vom Anfang der Schöpfung an
war% und wenn er selbst, statt den Gegenstand dieses Spottes in
Abrede zu ziehen, ihn nur dadurch zu widerlegen sucht, dass er
den Glauben an die Parusie in die Anerkennung der allgemeinen
Wahrheiten, die ihm zu Grunde liegen, hinäberleitet, so ist hieraus
deutlich zu sehen, wie es schon damals mit diesem Glauben stand.
Wenn er aber auch nicht mehr allgemeiner Christenglaube war,
wenigstens nicht in seiner ursprünglichen Form, so konnte es doch
nicht an Solchen fehlen, welche im Gegensatz gegen die Verwelt-
lichung des christlichen Bewusstseins, die sich in dieser Abnahme
des Glaubens an die Parusie kund gab, ihn nur um so kraftiger in
sich erweckten und mit neuer Begeisterung festhielten. Dass die
Montanisten in diese Klasse gehörten, ist einer ihrer hervorstechend-
sten Züge. Hag auch der Chiliasmus damals noch so sehr allge-
meiner Christenglaube gewesen sein, die Montanisten waren in je-
dem Falle die wärmsten Chiliasten, am Chiliasmus hauptsächlich
entzündete sich ihre Schwärmerei, ihre Propheten verkündigten in
begeisterten Aussprüchen die mit der Zukunft Christi bevorstehen-
den Gerichte, das tausendjährige Reich, das Ende der Welt, und
malten alles diess in den ansciiaulichsten Bildern aus. Wie lebhaft
sie sich mit dem Gedanken an das nahe Ende der Welt beschäftig-
ten, zeigt der Ausspruch ihrer Prophetin Maximilla, die von sich
sagte: „nach mir ist nur noch das Ende derWelt'^0- Als Chiliasten
konnten die Montanisten das Ende der Welt nicht rasch genug her-
beikommen sehen, ihr tägliches Gebet war m der Reichsbitte des
I) Ma ifAi uyiitt nQotpijtii earah «AA» gwriXHth Epiph. Haer. 48» 3«
816 Dritter Abschnitt. Das Christenthiim als absolutes Wd^rinoip.
Vaterunsers der Ausdruck ihrer chiliastischen Weltansioht, Reich
Gottes und Weltende galten ihnen als identische Begriffe 0- Wen
man also auch innerhalb der ganzen Generation, für welche die
Parusie Christi verbeissen sein sollte, vergebens auf sie gehoSk
hatte, den Glauben selbst, dass in der nächsten Zeit mit der Er-
scheinung Christi das Reich (jottes anbreche , gab man nicht auf,
die Montanisten wussten den Ort, wohin das himmlische Jerusalem
herabkommen werde, sie hatten sogar schon eine vorbildliche An-
schauung seiner Herabkunft vom Himmel gehabt *). Je schwächer
und lauer der chiliastische Glaube sonst geworden war, bei den
Montanisten war er ebendesswegen nur um so stärker und leben-
diger. Nur um so enger hängt daher auch mit dem Chiliasmus der
Montanisten der nicht minder charakteristische Zug ihrer eksta-
tischen Prophetie zusammen. Wenn man ganz im Gedanken der
Parusie und der Zukunft lebte, und die Ereignisse, die die kommende
Weltkatastrophe herbeiführen und begleiten sollte, in der unmittelbar-
sten Nähe vor sich sah, wie konnte es anders sein, als dass die An-
schauung der Zukunft in der Gegenwart von selbst zur Prophetie
wurde? Dass aber die Prophetie bei den Montanisten in der Form
der Ekstase sich äusserte, ist, so wenig auch sonst die Ekstase et-
was ungewöhnliches war , doch gleichfalls sehr bezeichnend iur
sie. Da die Ekstase nur die Steigerung der Prophetie ist, so war
es eine ganz natürliche Analogie, dass in demselben Yerhältniss,
in welchem der Chiliasmus in den Montanisten einen neue Energie
gewann, auch die Prophetie, als der Ausdruck ihrer chiliastischen
Begeisterung, einen um so kräftigem Aufschwung nahm, und in
der Ekstase das endliche Subjekt in das Verfaältniss schlechthiniger
Passivität zum göttlichen Princip setzte, wie diess nicht blos indem
1) Vergl. Tbbtullian De orat. c 5, wo er über das veniat regnam
tu um sagt: Itaque si ad Dei voluntatem et ad nostram suspensionem pe^
tinet regni dominici repraescntatio, quomodo quidam pertractum quendam in
seculo postulant (wie können Manche yerlangen, dass das Reich Gottes sieb
noch länger in den zeitlichen Weltverlauf hineinziehe — der Ghiliasmi»
war also schon nicht mehr so allgemeiner Glaube)^ quum regnam Dei, quod
ut adveniat, oramus, ad consummationem seculi tendat; optamus, matoriitf
regnare et non diutius servire. Etiam si praefinitum in oratione non esset,
de postulando regni adventu, nitro eam vocem postulassemus, festinantes ad
spei nostrae complexum.
2) Tert. Adv. Marc. 3> 24*
Der MonUnismus. 917
kosspruch des Montanns liegt, in welchem er den Menschen mit
ler Lyra, den Paraklet mit dem Plectron verglich, jenen einen
Schlafenden, diesen einen Wachenden nannte O9 sondern auch dar-
n sich zeigt, dass die Organe des heiligen Geistes vorzugsweise
veibUche Personen sein sollten, Prophetinnen, wie Maximilla und
^Scilla. Das Eine steigerte sich von selbst an dem Andern. Wie
nan sich im Rückblick auf die Vergangenheit im Glauben an die
'arusie so wenig irre machen Hess, dass man, je langer schon die-
ler Zeitraum war, gerade desswegen nur um so näher der grossen
Catastrophe zu sein glaubte, so musste aus demselben Grunde,
¥eil alles in dem letzten Stadium war, in dem nat^og avpiavaXfitifoc
[i. Kor. 7, 29), auch der Geist, das npivf*» äyioy^ als das Princip
les christlichen Bewusstseins, um so mehr sich in sich selbst zu*
Nunmennehmen und um so unmittelbarer und unzweideutiger sich
aussprechen. In dem Bewusstsein, dass man in den dies novissimi
lebe, lag sowohl das Eine als das Andere. Die ganze Theorie,
welche TertuUian über die verschiedenen Entwicklungsperioden
aufstellte, dass zuerst aus dem Samenkorn die Pflanze entsteht, und
zuletzt aus der Blüthe die Frucht, und ebenso zuerst die justitia im
Naturzustand war, sodann durch Gesetz und Propheten zur Kind*
Iteit vorrückte, hierauf durch das Evangelium zur Jugend aufglühte
und jetzt durch den Paraklet zur Reife gebracht wird 9 ist nur
die Analyse des Begriffs der novissima. Man will sich das Letzte im
I<etzten durch die Ausscheidung alles dessen, was noch nicht das
Letzte ist, worauf aber nur das Letzte folgen kann, recht ^ar
michen. Je mehr aber so in den novissimi dies nach der Ansicht
der Montanisten alles dem Ende sich näherte und zu ihm sich zu-*
spitzte, um so koncentrirter, potenzirter, intensiver wurde es. In
allem, sagt Tertullian, macht das Spätere den Schluss, und das
Nachfolgende überwiegt das Vorangehende. Diess ist ein allge-
meines Gesetz wie für die menschliche Ordnung der Dinge, so auch
iur die göttliche und insbesondere in Ansehung der novissimi
dies *) , in welchen ja auch die von Tertullian so oft erwähnte
Weissagung des Propheten Joel über die Ausgiessung des Geistes
1) Epiph. haer. 48, 4*
t) De virg. vel. c. 1.
3) De bapt c. 13. Man vergLaach die Praef. Act Peip. et Fei. und
%li. Haer. 48, 8. bei ScHwxaLSB Hont & 59.
918 Dritter Absclmitt. Das Christenthnm als absolutes Wel^rindp.
aaf alles Fleisch in Erfüllung^ gehen sollte. Je mehr in dieser
Periode, in welcher tempus in collecto est, alles sich zusammen-
zieht und verschärft, um so mächtiger durchdringt der Geist das
ganze Bewusstsein des Christen und erfüllt es mit seinem gött-
lichen, alles Dunkel erhellenden Inhalt. Es ist im WesentUchen
dasselbe Verhältniss zwischen den novissima und der in Beziehung
auf sie sich äussernden Thätigkeit des Geistes, das wir auch schon
in der Apokalypse vor uns sehen. Wie ihr Inhalt die in allen ihren
einzelnen Momenten erfolgende grosse Weltkatastrophe ist, so ist
der Verfasser das reine Organ der über ihn gekommenen göttlicken
Begeisterung, auch er ist h nwtvfictri^ d. h. im Zustand der Ekstase
Cl, 10). Der InhaUder Apokalypse ist ein rein prophetischer und
visionärer, wie auch bei den Montanisten ihre ekstatischen Zustände
sowohl die Form der Prophetie als auch die der Vision hattm
Derselbe Geist, welcher von Anfang an das die Christen besee-
lende Princip war, und die prophetische Begeisterung und Ekstase
in ihnen weckte , ist auch das Princip des Montanismus , und er
wurde vielleicht nur deswegen jetzt vorzugsweise Paraklet ge-
nannt, w<^il er in der Noth und Bedrängniss der novissimi dies nicht
blos der Fährer in alle Wahrheit , sondern auch der Fürsprecher,
Beistand und Trost aller derer sein sollte, ia welchen er mit seiner
üfoerschwängli*chen Macht waltete. In jedem Fall sollte der heilige
Geist unter dem besondem Namen des Paraklet in seiner ganz be-
sondern Bedeutung für diese letzte Weltperiode, in welcher der Mon-
tanist alles seinem Ende sich zudrängen sah, fixirt werden.
Die Sphäre seiner realen Bethatigung hat der Paraklet anf
dem sittlichen Gebiet Wie er in der prophetischen Ekstase in stir
ner ganzen Energie sich ausspricht, um in die Geheimnisse der
Zukunft einzudringen und alle Dunkelheiten des Bewusstseins auf-
zuhellen, so dringt er auch mit aller Schärfe auf die sittlichen For-
derungen des praktischen Christenthums. Der montanistische Pa-
raklet ist, als der Spiritus sanctus , ipsius disciplinaö determinator,
institutor novae disciplinae, der scharfe Geist einer ernsten sittlicben
Strenge, der erklärte Feind alles Laxen und Indifferenten in sitt-
lichen Dingen. Was er an sich ist, ist er nur dazu, um es auf dem
sittlichen Gebiet zu verwirklichen. Wenn TertuUian alle Bestim-
mungen zusammenfasst, die zum Begriff des Paraklet gehören, so
stellt er seine praktische Aufgabe voran. Er enthüllt die Sohriß»
Der Montanismu«. 9t
liateii den Versland, erhebt auf eine höhere Stufe der Vollkommen«
heit, das Erste aber ist, als sein praktisches Ziel, dass er der Dis-
ciplin die rechte Richtung gibt 0- Die Montanisten verschärften
die christliche Disciplin durch mehrere eigenthümliche Gebote, wie
namentlich ihre Xerophagien, die Verlängerung der dies stationum
bis zum Abend, durch ihre Forderungen in Betreff der Ehe unddeä
Mfirtyrerthums, der Grundgedanke aber , von welchem auch alles
diess ausging, war, dass der Christ in den letzten Zeiten lebe und.
am Ende des ganzen Weltlaufs stehe. Wie dieser Gedanke theo-
retisch das Bewusstsein des Montanisten erfüllte, so musste er auch
praktisch sein Verhalten bestimmen, und wie der, der nur noch in
dem Einen Gedanken an das Ende der Welt lebte und in der gan-
zen ihn umgebenden Welt nur die Symptome der schon überall
hereinbrechenden Weltkatastrophe sah, in seinem Innern mit der
Welt völlig gebrochen haben musste, so konnte er auch praktisch
nur darauf bedacht sein, diesen Bruch mit der Welt nach allen Be-
ziehungen zu vollziehen und die Bande vollends aufzulösen, mit
welchen er in seinem Fleische noch an die Welt gebunden war.
Es ist sehr richtig bemerkt worden *) , dass der Montanismus in
seinen sittlichen Forderungen nichts Neues aufstellte , dass er nur
nea ist, sofern er reaktionär ist , dass es sich zwischen den Mon-
tanisten und ihren Gegnern innerhalb der Kirche nur um die Ein-
schärfung und Durchsetzung eines alten Gebotes, welches eben im
Begriff war, ausser Uebung gesetzt zu werden, handelte, dass er
in seiner Fasten- und Ehegesetegebung nur die praktische Durch-
flUinmg dessen beabsichtigte , was er als ewiges göttliches Gebot,
«k die alte, in beiden Testamenten niedergelegte Gesetzgebung er-
kannt hatte, allein diese reaktionäre Tendenz hatte ihren Grund nur
darin, dass der Montanist die Zeit, in welcher der Christ lebte,
besser zu verstehen glaubte, sie als das erkannte, was sie war, als
die letzte Zeit. Wie sehr musste aber dieses ursprüngliche, im
Glanben an die Parusie Christi wurzelnde Bewusstsein des Christen
schon geschwächt sem, wenn man es mit der Pflicht des Märtyrer-
tlmms so leicht nahm, dass ganze Gemeinden massenweise sich
durch Geld von Verfolgungen loskauften , wenn die Bischöfe und
i) De virg. vel. c. 1.
f) BiTtoHLy die fiaigtehtnig der altkath. Kirohe 8. 5 IS.
SSO Dritter Abschnitt. Das ChriBteHthiun als absolutes Wel^rindp.
Kleriker selbst es waren, welche diese Feigheit begünstigten und
mit ihrem Beispiel vorangingen ? Daraus ist zu schliessen, wie
weit man auch sonst von der Strenge der alten Sitte schon abge-
kommen war. Die Kirche hatte sich schon mit der Welt befreun-
det Die Richtung, von welcher der Montanismus ausging, ist dah^
mit Recht als eine reaktionäre aufzufassen, er kämpfte mit aller
Energie gegen die immer allgemeiner werdende Verweltlichung
,des Christenthums an, das Princip dieser seiner Tendenz k<Hmte
aber nur darin liegen, dass er auf den ursprünglichen Standpunkt
des christlichen Bewusstseins sich zurückstellte , in welchem das-
selbe, im Glauben an die Parusie Christi und das nahe Ende der
Welt, aller weltlichen Interessen sich entledigt hatte. Dieses letzte
allen Vorschriften und Ermahnungen zu Grunde liegende MotiT
blickt daher bei TertuUian immer wieder durch ^. Es kommt be-
sonders auch bei der Frage in Betracht, die hier erst an ihrer Stelle
ist, wie sich der Paraklet zu dem in den Apostehi wirkenden Geist
verhalt? Der Paraklet will weder in dogmatischer noch sittlicher
Beziehung etwas Neues einführen, er ist, wie Tertullian sagt, re-
stitutor potius, quam institutor, und doch geht er selbst über Chri-
stus und die Apostel hinaus, was Christus und die Apostel noch l&r
sittlich erlaubt erklärt hatten , kann der Paraklet der Schwachheä
des Fleisches nicht mehr nachsehen. Es hat aber auch diess nur
darin seinen Grund, dass je mehr die Welt ihrem Ende naht, die
Schwachheit des Fleisches um so weniger geschont werden darf.
Es muss vollends alles ausgerottet werden , was der Heiligkeit des
Fleisches im Wege steht ^. Der Geist kommt in der Zeit nachdea
Aposteln mit der strengeren Forderung nach, nicht wie wenn nicht
auch schon die Apostel darauf hingezielt hätten, nur ist es von ihnefl
nicht so offen und unmittelbar geschehen, wie überhaupt nach Ter-
tullians Ansicht mit der Strenge immer noch eine Milde verbunden
ist, die sich nur aus Akkommodation erklären lässt Wie die Apostel,
so akkommodirt sich auch der Paraklet. Nach dem richtig verstan-
denen Sinn Christi hätte er auch die einmalige Ehe nicht gestattes
sollen. Es ist nur Nachsicht, Akkommodation zur menschlichen
1) Tert. de fuga in persec. c. 11, 13.
2) Man vergl. z. B. Ad ux. 1, 5*
3) De monog. c. 3. Carodocetarsanctitatem,^aae et in Christo fiiitBiBicti'
Der MontanUmtis. 891
Schwachheit, dass er die Ehe, wie an sich hätte geschehen sollen,
nicht ganz verbot Nach dieser Ansicht ist die ganze Weltge-
schichte eine fortgehende Akkommodation, welcher zufolge das an-
fangs Zugelassene und Freigegebene in der Folg'e mehr und mehr
beschrankt und wieder zurückgenommen werden muss. Was Mo-
ses befahl, weil es von Anfang an nicht so war, hat Christus aufge-
hoben, ebenso kann nun der Paraklet aufheben , was Paulus noch
nachgesehen hat, wenn nur das, was nachher kommt, Gottes und
Christi würdig ist. Würdig aber ist es Gottes und Christi, wie frü-
her die Herzenshärtigkeit , nachdem ihre Zeit vorüber war, zu
dämpfen, so jetzt die Schwachheit des Fleisches auszurotten, indem
sich die Zeit jetzt schon enger zusammenzieht. Die Herzenshärtig-
keit regierte bis Christus, die Schwachheit des Fleisches hatte so-
lange ihre Zeit, bis der Paraklet zu wirken anfing, aufweichen das,
was damals noch nicht getragen werden konnte, von dem Herrn
verschoben wurde. Der Paraklet führt zwar nur aus, was an sich
auch schon Christus und die Apostel wollten, weil er aber erst nach
ihnen in seine Wirksamkeit eintrat, ist es ihm auch jetzt erst mög-
lich, das was früher noch nicht geschehen konnte, zu verwirklichen.
Alles hat so überhaupt seine bestimmte Zeit An sich hat das
Fleisch, die sinnliche Seite des menschlichen Wesens , keine sitt-
liche Berechtigung, was dem Fleisch eingeräumt wird, ist eine
blosse Koncession, die immer weniger an ihrer Stelle ist, je ge-
spannter, schroffer, abstossender der Natur der Sache nach, mit
dem herannahenden Ende der Welt das Verhältniss von Geist und
Fleisch werden muss. In demselben Verhältniss, in welchem die
gegenwärtige Weltordnung sich auflöst, treten die beiden Princl-
pien, Geist undFleisch, in der ganzen Weite ihres Gegensatzes aui^
einander. Das materielle Princip muss vor dem geistigen weichen
und sich unbedingt ihm unterordnen, da es von Anfang an nur für
den Zweck Raum in der Welt gewinnen sollte, dass das Geistige
an ihm in seiner absoluten Macht sich bethätigen kann, es gleicht
einem Walde, welchen man nur dazu wachsen lässt, um ihm am
Bnde die Axt an die Wurzel zu legen 0* Der Standpunkt der Be-
achtung ist immer wjieder das Letzte, das Ende der Dinge, fai
Welchem, was das Endliche als solches in seiner Endlichkeit ist,
i) Teft. de exhort« oaatit, o. 6«
Dritter Abschnitt Das Ohristenthnm als absolutes Weltpiinoip.
sich klar herausstellt, der Paraklet ist daher selbst nichts anders,
als der im Bewusstsein der Endlichkeit der Welt sich aus der Welt
in sich selbst zurückziehende und in seinem Selbstbewusstsein sei-
ner Macht über Fleisch und Welt sich bewusst werdende Geist
In diesem durch den Paraklet erhöhten Bewusstsein des Geistes
von sich selbst verschwindet vor ihm jeder falsche Schein, mit
welchem das Fleisch den Geist umgiebt, und er sieht, der Welt ent-
rückt, in klarer Anschauung die zeitliche Ordnung der Dinge, ab
eine an sich nichtige, schon jetzt in sich zusammenbrechen. Die
Sittenlehre der Montanisten koncentrirt sich somit in der einfachen
Forderung, mit der Welt so zu brechen, wie die Welt selbst in der
prophetischen Anschauung der Montanisten in sich selbst zusam-
menbricht, die Bande des Geistes und des Fleisches auf dieselbe
Weise aufzufösen, wie die Welt in ihrer eigenen Selbstauflösimg
begriffen ist
Je klarer, sobald die Grundanschauung des Montanismus rich-
tig aufgefasst ist, das Wesen desselben sich durchschauen lisst,
um so berechtigter erscheint seine Zusammenstellung mit den
Gnosticismus. Die Anschauungsweise des Einen ist so transceo-
dent, wie die des Andern, dem Montanisten, wie dem Gnostiker, liegt
das eigentliche Wesen des Cbristenthums weit hinaus überGeg«^-
wart und Wirklichkeit, nur richtet der Gnostiker seinen Blick in
eine Vergangenheit zurück, in welcher alles erst seinen absolatea
Anfang nimmt, der Montanist in eine Zukunft, in welcher alles sein
Ende hat, und das Disseitige vor dem Jenseitigen verschwindet.
Christus ist dem Einen, wie dem Andern, das absolute Weltpriscip»
während aber der Gnostiker mit diesem Princip sein ganzes W^M«
entwicklungssystem construirt, hat es für den Montanisten nur ^ae
die Welt destruirende Bedeutung. Christus ist als der erschieneae
Messias nur dazu da, um alles zu Ende zu bringen und die grosse
Weltkatastrophe, durch welche die gegenwärtige Weltordnung is
die künftige übergeht, herbeizuführen. Auch in den gnostisckea
Systemen ist Christus, als das den Weltentwicklungsprocess b0*
stimmende Princip, der Wendepunkt, in welchem alles zurückgeht,
damit das Ende mit dem Anfang sich zusammenschliesse, w&hrend
aber hier alles einen unendlichen Verlauf hat, kann der Monlanis-
mus die letzte Katastrophe nicht rasch genug erfolgen lassen. So-
bald Christus erschienen ist, und erscheinen soll er ja in der nich-
Der Montanismas. SRi3
Sien Zeit, ist die Welt an ihrem Ende, in ihm ist gleich anfangs die
gegenwärtige Weltordnung principiell zur künftigen aufgehoben.
Das letzte Ziel ist hier, wie dort, eine dnonardgavig^ in welcher die
Principien sich auseinandersetzen und sich in ihrer Reinheit ein-
ander gegenüberstellen, in der Gnosis sind diese Principien Geist
und Materie , im Montanismus Geist und Fleisch. So verschieden
der BegriiT ist, welchen die Gnostiker und die Montanisten mit dem
Pneumatischen verbanden, so wollten doch beide die reinen Or-
gane des geistigen Princips sein. Wie die Gnostiker sich vorzugs-
weise als die pneumatischen Naturen betrachteten und die übrigen
Christen nur zur Stufe des psychischen Lebens rechneten, so wurde
von den Montanisten der Unterschied der nvivf^ariKoi und t//i/j|^txot
geltend gemacht, um auf die, die sich nicht zu ihrer Lehre vom
Paraklet bekannten, die katholischen Christen, mit Geringschätzung
herabzusehen. Beide stehen innerhalb desselben Gegensatzes, nur
ist die Sphäre desselben bei den Montanisten weit beschränkter.
Weiss man, was der Montanismus ist, so hat die Frage nach
den äussern Umständen seiner Entstehung nur eine sehr unterge-
ordnete Bedeutung. Eigenthümlich ist ihm ja gerade diess , dass
die Elemente, aus welchen er hervorging , schon von Anfang an
vorhanden waren. Am wenigsten gibt seine angebliche Abstam-
mung von Montanus irgend einen Aufschluss, und es ist daher kaum
der Mühe werth, sich mitNeander über die zu ereifern, welche so-
gar die geschichtliche Existenz dieser apokryphischen Person in
Frage stellen wollten. Es werden ja auch bei den ältesten grie-
chischen Schrifstellern die Montanisten nicht unter diesem Namen auf-
geführt, sondern nur nach der Lokalität, wo sie waren und die Herab-
konft des himmlischen Jerusalems erwarteten, Kataphry gen (0/ nara
(Pfvyag) genannt Was man über Montanus sagen kann, ist nur,
dass er neben den beiden bekannten Prophetinnen, Priscilla und
Maximllla, und noch vor ihnen, als Prophet aufgetreten war % Dass
er sich selbst für Gott den Vater, oder den Paraklet, ausgegeben
habe, hat nur darin seinen Grund, dass dem Charakter der Ekstase
gemäss das redende Subjekt nicht der ekstatische Prophet war,
londem Gott selbst, oder der heilige Geist. Als geschichtliche Er-
1) Auch in den Philosophnmena wird er nicht eigentlich zum Sekten«
ttifter gemacht, sondern nur gesagt S. 275: »ai riva ttqo avrdiy (der Fm^
dUa und MaximiUa) Movtayov Oftolons Jofa(«a*i' oU 7t(fo<piJTiiv.
M4 Dritter Absclmitt. Das Christenthnm all absolutes Weltprincip.
scheinung tritt der Hontanismus um die Mitte des zweiten Jahr-
hunderts auf, er zog die öffentliche Aufmerksamkeit seit dieser
Zeit immer mehr auf sich, je tiefer die durch ihn angeregten Fra-
gen sowohl in das praktische Leben überhaupt, als auch insbeson-
dere in die Verhältnisse der sich bildenden kirchlichen Gemein-
Schaft eingriffen. Aus diesem Grunde kann seine Geschichte erst
auf der den Erscheinungen, von welchen bisher die Rede war, ge-
genüberliegenden Seite weiter verfolgt werden 0.
n. Die katholische Antithese in dogmatischer und
kirchlicher Beziehung.
In der Gnosis und im Montanismus entwickelte das christliche
Leben der ersten nachapostolischen Periode die reichste Fülle
seiner Produktivität und seine kräftigste Energie. Die Gnosis
gibt den deutlichsten Beweis für die grosse weltgeschichtliche Be-
deutung, welche das Christenthum schon damals hatte, an ihr
hauptsächlich zeigt es sich , welche mächtige Anziehungskraft das
Neue in ihm auf das Geistigste ausübte, das jene Zeit in der heid-
nischen und jüdischen Welt in sich begriff. So verschiedenartige
Elemente sie in sich enthielt, und so vielfach Hellenisches und
Jüdisches in ihr mit einander verschmolzen war, es erhielt alles
diess im Christenthum einen neuen gemeinsamen Mittelpunkt, von
I) Das Obige über den Montanismus ist der wesentliche Inhalt meiner
Abhandlang in den Theol. Jahrb. 1851. S. 538 f.: das Wesen des Mod*
tanismns nach den neuesten Forschungen. Die Abhandlosg
enthält zugleich eine Kritik der neueren seit Neander und Gieseler über
den Montanismus aufgestellten Ansichten. Die tiefer gehende Erforschung
desselben hat erst mit Schwegler^s Schrift : Der Montanismus und die
christliche Kirche des zweiten Jahrhunderts, Tübingen 184t)
begonnen. Auch Neander hat den Montanismus sehr einseitig aufgefasrt
und das Richtige hauptsächlich dadurch verfehlt, dass er durch die vagen
Angaben über die Persönlichkeit des Montanus sich verleiten Hess, den
Charakter des Montanismus aus dem Naturelement der alten phrygischen
Religion tmd der phrygischen Gemüthsart, wie sie sich in den Ekstasen
der Priester der Cybele und des Bacchus gezeigt habe, zu erklären. So
oft diess noch immer nachgesprochen wird, so wird doch dadurch nur der
richtige Gesichtspunkt von vom herein verrückt.
Die Idee der kaiholischeii Kirche. S86
irelGhem aus in der grossen Zahl der gnostischen Systeme immer
leue Combinationen der verschiedensten Art versucht wurden,
n welchen es sich immer wieder um dieselbe Aufgabe handelte,
lie schon damals die denkendsten Geister beschäftigte, und auch
n der Folge der wichtigste Gegenstand der christlichen Religi-
insphilosophie blieb, das Christenthum aus dem Gesichtspunkt ei-
ler allgemeinen Weltanschauung zu begreifen. Nehmen wir mit
1er Gnosis den Montanismus zusammen, durch welchen gleichfalls
3in neuer energischer Anstoss gegeben, und neue, nicht blos für
las practische Leben, sondern auch für die Auffassung. des Chri-
itenthums überhaupt wichtige Fragen angeregt wurden, so stellt
lieh uns in allen diesen Erscheinungen die geistige Bewegung je-
der Zeit, aber auch der unstete, gährungsvoUe Zustand, in wel«-
3hem so vieles durcheinander wogte, und in den verschiedensten
Sichtungen sich durchkreuzte, in einem sehr anschaulichen Bilde
yor Augen. Alle diese so weit auseinandergehenden Bewegungen
machten eine Gegenwirkung nothwendig, wenn das Christenthum
nicht seinen eigenthümlichen ursprünglichen Charakter verlieren
sollte, es musste nicht nur gegen die transcendenten Speculationen
der Gnostiker das practlsch-religiöse, im unmittelbaren Bewusst-
sein sich aussprechende Interesse des Christenthums festgehalten,
sondern sogar gegen die, jede Möglichkeit einer geschichüichen
Bntwicklung abschneidende chiliastische Schwärmerei der Montani-
sten überhaupt erst der Boden gewonnen werden, auf welchem
das Christenthum festen Fuss in der Welt fassen konnte. Vor al-
lem musste man also erst den einigenden Punkt haben, von wel-
chem aus sowohl das Verwandte und mit sich Uebereinstimmende
snsammengehalten als auch allen heterogenen und excentrischen
Kichtungen ein gleichmässiges Gegengewicht entgegengesetzt wer-
den konnte. Diess ist die Idee der katholischen Kirche, welche,
irie sie schon die Judenchristen und die Heidenchristen als eine
tohere, über den Gegensätzen stehende Macht in einem gemeinsamen
Interesse vereinigt hatte, so nun im Gegensatz gegen die Gnosti-
ker und die Montanisten sich zum bestimmteren Bewusstsein ent-
irickelte, und in immer weiterem Umfang zu einer festeren Ge-
italtnng sich realisirte.
Der grosse5> durch das ganze zweite Jahrhundert sich hin-
dnrchxiehende, für die Entwicklungsgeschichte des Christenthums
Bft«r« 4it drti entan Jalurfa. *^
8S6 Dritter Abscknitt. Das Christentliiim als absolutes Wellprbieip.
und der christlichen Kirche so wichtige Kampf mit der Gnosis war
doppelter Art, sowohl dogmatisch als kirchlich. Die Gnosis hat,
wie diess nach den Elementen, aus welchen sie hervorgieng, nicht
anders sein konnte, im Ganzen einen dem Christenthum so fremd-
artigen Charakter, dass sie in jeder ihrer Formen in einen neuen
Conflikt mit dem Christenthum kommen musste. Der Gegensaii
der beiden Principien mit dem darauf beruhenden Dualismus und
dem gnostlschen Widerwillen gegen alles Materielle, die Aeo«
nenreihe, durch welche das Yerhältniss Gottes mit der Welt Tcr-
mittelt werden soll, aber an die Stelle des judisch-christlichen
Begriffs einer freien Weltschöpfung die Lehre von einer Emana-
tion der Welt aus Gott gesetzt wird, die Trennung des Weltschö-
pfers von dem Einen höchsten Gott, die Zusammenstellung Christi mit
andern göttlichen Wesen, deren Gleichartigkeit nur als eine Be-
einträchtigung der absoluten Würde Christi angesehen werden
kann, der ganze Weltentwicklungsprocess, in welchen das Chri-
stenthum so hineinverflochten wird, dass die Thatsachen der durck
Christus vollbrachten Erlösung nicht nur ihre sittlich-religiöse
Bedeutung, sondern sogar ihren geschichtlichen Charakter verlie-
ren mussten, alles diess bildete einen sehr entschiedenen Gegen-
satz zu der Grundanschauung des christUchen Bewusstseins. So
unentwickelt auch damals noch das chrisiliche Dogma war, das
hauptsächlich erst im Gegensatz gegen die Gnosis seine genaU'*
ere Bestimmung und Fixirung erhielt, so konnte doch gleich an-
fangs jeder gnostischen Lehre eine christliche Antithese gegen-
übergestellt werden. Auf der andern Seite hatte aber die Gnosis
auch wieder so viel dem Christenthum Verwandtes und mit ihm
Uebereinstimmendes , und sobald einmal das Christenthum unt^
den höheren Ständen sich weiter verbreitet hatte, lag für jeden
Gebildeten und in die herrschenden Ideen der Zeit Eingeweihten
die Aufforderung, dieselbe Frage, mit deren Lösung die Gnostiker
sich beschäftigten, auch sich selbst zu beantworten, so nahe, dass
das Yerhältniss des Christenthums zur Gnosis keineswegs nur ein
feindliches und abstossendes sein konnte. Die Stellung der Kir-
chenlehrer zur Gnosis war daher überhaupt eine verschiedene.
Am wenigsten konnten diejenigen, die in demselben Ideenkreise
lebten, aus welchem die Gnosis selbst in ihren bedeutendsten
Häuptern hervorgegangen war, nur als Gegner derselben aof"
demenB, der Alexanclrineif, und Origenes. SftT
treten. Alexandrien, das Vaterland der Gnosis, ist auch die Ge-*
burtsstdtte der christlichen Theologie, die in ihrer ersten Form
selbst nichts anders sein wollte, als eine christliehe Ghosis. Cle-
mens und Origenes stehen den Gnostikem am nächsten. Indem
sie die ypmaig über die nlang stellten, und beide in ein so imma-
nentes Yerhältniss zu einander setzten , dass die eine nicht ohne
die andere sein kann, das Wissen nicht ohne den realen Inhalt
des Glaubens , und der Glaube nicht ohne die Erhebung seines In-
halts in die Form des Wissens, stellten sie sich auf denselben
Standpunkt mit den Gnostikern, um mittelst alles dessen, was die
Zeitphilosophie darbot, das Christenthum in seinem geschichtli-
chen Zusammenhang zu begreifen und seinen Inhalt in das den-
kende Bewusstsein aufzunehmen. Clemens namentlich ist von der
Idee des Absoluten, als dem wesentlichen Inhalt des christlichen
Bewusstseins, so durchdrungen, dass er, wie die Gnostiker, die
höchste Aufgabe seiner Gnosis darin erkennt, sich vom Endli-
chen zum Absoluten zu erheben, nur mit dem Unterschied, dass
er den Process, in welchem die Gnostiker im Zusammenhang mit
der ganzen Weltentwicklung alles Pneumatische in das Absolute,
oder das Pleroma, zurückkehren Hessen, aus der realen Welt in
das wissende Subjekt selbst verlegt Wie die Welt und das Na-
turleben im Cyklus der Siebenzahl sich bewegt, sagt Clemens, so
gelangt auch der Gnostiker erst durch die Hebdomas hindurch zu
seinem absoluten Ziel. Worauf auch die Hebdomas sich beziehen
mag, sei es eine Zeit, die im Lauf von sieben bestimmten Perioden
ihren Ruhepunkt erreicht, seien es sieben Himmel, die in aufstei-
gender Ordnung gezählt werden, mag die wandellose Sphäre, die
der intelligibeln Welt nahe ist, Ogdoas genannt werden, in jedem
Fall muss der Gnostiker durch die Welt der Geburt und der Sünde
sich hindurcharbeiten. Desswegen werden sieben Tage lang Opfer-
ihiere für die Sünder geschlachtet, und sieben Tage finden Reini-
gungen statt, weil in so vielen Tagen das Werdende zur Vollen-^
dang kommt Die vollkommene Aneignung aber ist der durch das
Gesetz und die Propheten gewonnene gnadenreiche Glaube an das
Evangelium und die durch vollkommenen Gehorsam erlangte Rein-
heit, verbunden mit der Ablegung des Weltlichen, wobei die Seele
ihre Hütte, nachdem sie sie gebraucht hat, mit Dank zurückgibt
Der wahre Gnostiker gehört unter diejenigen, welche, wie David
15»
M8 Dritter Abachnitt. Dm Chxiiteuthiim ab absolutef Weliprliieip.
sagt (Ts. 15, 10) ihre Rohe finden werden auf dem heiligen Berge
Gottes, in der obersten Kirche, in welcher die Philosophen Gottes
versammelt werden, die wahren Israeliten, die reines Herzens und
ohne Falschheit sind 0- Auf dieser höchsten Stufe realisirt sich
dem Gnostiker im Sinne des Clemens die höchste Aufgabe seiner
Gnosis, oder des Christenthums , als der absoluten Religion, auf
doppelte Weise, sowohl theoretisch als practisch, theoretiscb
dadurch, dass er die auf unendlich vielen Punkten zerstreuten
Theile des gleichsam zerstückelten Leibes der Wahrheit in ihrer
Einheit zusammenschaut, denn wer das Getrennte wieder zusam-
mensetzt und zur Einheit bringt , wird den vollkommenen Logos
ohne Gefahr schauen, die Wahrheit % praktisch in einer völlig
affektlosen Richtung des ganzen Sinns und Lebens auf das Abso-
lute, um seinem Lehrer, dem Logos, in der Affektlosigkeit ähnlich
zu werden, denn der Logos Gottes ist rein geistig, wesswegen das
Bild des Geistes allein im Menschen gesehen wird , und der gute
Mensch ist der Seele nach Gott ähnlich und götüich gestaltet, und
Gott hinwiederum menschenähnlich, denn die charakteristische
Form eines jeden ist der Geist ^> Alles, was das Christenthom
wesentlich ist, ist dem Gnostiker des Clemens in der Idee des Lo-
gos enthalten. Dem absoluten Gott gegenüber, welcher, wie das
Urwesen der Gnostiker, in seinem abstrakten Ansichsein schlecht-
hin unerkennbar ist , ist nur der Logos das vermittehide Princip,
durch welches die Idee des Absoluten in dem Gnostiker theoretiscb
und praktisch sich realisirt, die Idee des Logos macht aber sosehr
den substanziellen Inhalt des Christenthums aus, dass auch bei Cle-
mens, wie bei denGnostikem^ sein geschichtlicher Charaktersich in
das Doketische verliert. Wie der gnostische Christus ein sosehr
der Aeonenwelt angehörendes Wesen ist, dass er mit der materiel-
len sinnlichen Welt in keine unmittelbare Berührung kommen kann,
so ist der Logos des Clemens viel zu erhaben und transcendent,
als dass er in die volle Realität einer wahrhaft menschlichen Exi'
stenz eingehen könnte. Hat doch Clemens selbst seinen DoketiS'
mus ziemlich unverhüllt ausgesprochen, wenn er von der mensch-
1) Strom. 6, 16. 7, 10. 4, 25. 6, 14.
2) Strom. 1, 13.
S) Strom. 6» 9.
Clemen«, der Alexandriner, and Origenes. 9919
liehen Erscbemung Christi den Ausdruck gebrauchen konnte, der
Logos habe die Maske eines Menschen angenommen und im Fleische
bildlich gestaltend das heilbringende Drama der Menschheit aufge-
führt 0- ^i^ Clemens den Dualismus der Gnostiker nicht theilte,
so konnte er mit ihnen auch in der Trennung des Weltschopfers
TOn dem höchsten Gott nicht übereinstimmen, die monotheistische
Form der Gnosis, wie wir sie in den Homilien finden, lag ihm am
nächsten, auch er identificirte Judenthum und Christenthum , nur
nicht auf dieselbe Weise , wie die Homilien , durch Annahme fal-
scher Zusätze in den Schriften des A. T., sondern acht alexandri-
nisch vermittelst der allegorischen Erklärungsweise, von welcher
Clemens und Origenes den ausgedehntesten Gebrauch machten.
Die Hauptsache ist dem Clemens die von dem Herrn empfangene
Schrifterklärung, oder der kirchliche Kanon der Harmonie und Zu-
sammenstimmung des Gesetzes und der Propheten mit dem durch
die Erscheinung des Herrn gegebenen Testamente ^. Die allego-
rische Erklärung hat somit die Aufgabe, die vollkommene Identi-
tät des A. und N. T. nachzuweisen, dieser Zweck wird auch durch
sie so vollständig erreicht, dass das Christenthum wesentlich nur
das enthüllte Judenthum ist Da die Allegorie nie etwas blos Will-
kflrliches und Subjektives sein will, so betrachtete auch Clemens
sie als etwas Ueberliefertes, und wie die Gnostiker auf eine be-
stimmte Auktorität zurückzugehen pflegten, von welcher sie ihre
Lehre als Geheimlehre empfangen haben wollten, so berief sich
auch Clemens auf seine Gewährsmänner, aus deren Hand ihm seine
wesentlich in der Erforschung des allegorischen Sehriftsinns beste-
hende Gnosis durch geheime Tradition zugekommen sein sollte ^). Bei
so vielfachen Berührungspunkten zwischen der Lehre der Alexan-
driner und der Gnosis ist um so grösseres Gewicht darauf zu le-
gen, dass im Gegensatz gegen den gnostischen Fatalismus und Na-
turalismus Clemens und Origenes um so mehr das Princip der
durch sittliches Streben sich bethätigenden Willensfreiheit festhiel-
ten. Aber gerade die Idee der Freiheit gibt uns, wenn wir an ihr
TOn Clemens zu Origenes fortgehen, nur einen neuen Beweis da-
1) Coh* ad gent. c. 10.
2) Strom. 6, 15.
S) Strom. 1, 1.
Dritter Abschnitt« Das ChriBtenthiim ab «bsoliitea Weltprindp«
von, auf welchem tiefen Grunde die Verwandtschaft der alexan-
drinischen Anschauungsweise mit der gnostischen beruht, und wie
jene Zeit doch immer nur ein der Gnosis analoges System auCBtel-*
len konnte, sobald sie ihre Anschauungen nicht blos in der bunten
Mannigfaltigkeit der Stromata, sondern in der Einheit eines in- sich
geschlossenen Ganzen darlegen wollte. Im System des Origenes
hfingt alles an der Idee der Freiheit Die Freiheit ist das Princip
des Sittlichen. Es ist daher nicht der metaphysische Standpunkt
der Gnostiker, auf welchen sich Origenes stellt, sondern der sitt-
liche, das System selbst aber nimmt gleichwohl denselben Gang mit
den gnostischen Systemen. Um die Idee des sittlich Guten auf keine
Weise zu verletzen, nahm Origenes an, dass die von Gott geschaf'
fenen Geister ursprünglich darin einander vollkommen gleich wa-
ren, dass sie dieselbe Freiheit des Willens zum Guten und Bösen
hatten. Jeder Unterschied in der Welt hat seinen Grund in der
Freiheit, in dem verschiedenen Gebrauch , der von ihr gemacht
wird, die materielle Welt selbst ist erst in Gemässheit dessen ent-
standen, was die Freiheit der geistigen Subjekte schon in der hö-
heren Welt zur Folge gehabt hat Da mit dem Princip der Frei-
heit nicht nur die Möglichkeit des Bösen gesetzt ist, sondern auch
die Wirklichkeit des Bösen keiner weitern Erklärung bedarf^ so i^
auch in dem System des Origenes, wie in den Systemen der Gno-
stiker, das Hauptmoment der Entwicklung dieplatonische Idee eines
Falls der geistigen Wesen aus der hohem Welt in die materielle,
nur ist die ganze Entstehung und Organisation der Welt durch die
auf dem Princip der Freiheit beruhende Idee des Sittlichen bedingt
Die materielle Welt ist nach der sittlichen Weltanschauung des
Origenes als ein Strafort für die gefallenen Geister zu betrachten,
deren jeder in seiner materiellen Umhüllung an die Stelle des Welt-
ganzen gesetzt worden ist, welche er durch sein sittliches Verhal-
ten in der intelligibeln Welt sich verdient hat Wie es aber einen
Abfall gibt, so gibt es auch eine Rückkehr, und da mit demselben
Anfang in dem Princip der Freiheit immer auch wieder dieselbe
Möglichkeit der aus ihm entspringenden Folgen gegeben ist, so
gibt es in dem steten Wechsel von Abfall und Rückkehr auch einen
unendlichen Kreislauf endlicher Welten. Gott selbst ist, so be-
trachtet, nur die der Welt immanente Idee der moralischen Welt-
ordnung, sofern die guten und bösen Handlungen ihrer sittlichen
Origenes. 831
Beschaffenheit nach ihre bestimmte, durch die Idee der göttlichen
Gerechtigkeit bedingte Folge haben, wodurch allein in die unend-
liche Vielheit der in ihrer Freiheit nach so verschiedenen Rich-
tangen auseinandergehenden geistigen Individuen auch wieder eine
innere Einheit kommt, eine sie zusammenhaltende und zur Einheit
verknäpfende Ordnung. Geist und Materie stehen zwar bei Ori-
genes in einem andern Verhftltniss zu einander als bei den Gno-
stikem, wenn aber nach Origenes nur Gott reiner, immaterieller
Geist im absoluten Sinne ist, und in den gefallenen Geistern, in wel-
chen das Feuer des Geistes zur Seele erkaltet , die nach Haass-
gabe des Falls nachlassende geistige Kraft der materiellen Umhül-
lung und des bestimmenden Einflusses der Materie sich nicht er-
wehren kann, so kommt auch bei Origenes in letzter Beziehung
alles auf den Gegensatz von Geist und Materie zurücL In jedem
Falle sehen wir uns in derjenigen Lehre, an welcher in der Folge
das genauer fixirte dogmatische Bewusstsein den grössten Anstoss
genommen hat, in der Lehre von der Präexistenz und dem Fall der
Seelen, in einen der Gnosis ganz verwandten Ideenkreis versetzt,
dem positiven Inhalt des geschichtlichen Christenthums droht auch
hier, wie insbesondere auch an der so sichtbar zum Doketismus
sich hinneigenden Christologie des Origenes zu sehen ist, dieselbe
Gefahr der Auflösung in allgemeine spekulative Ideen, und es ist
somit klar, dass von dieser Seite aus nie eine die Gnosis mit Erfolg
bekämpfende Opposition hätte ausgehen können 0*
Ganz anderer Art war dasVerhältniss, in welchem die beiden
abendländischen Kirchenlehrer Irenäus und Tertuixian zur Gnosis
standen. Bei ihnen begegnet uns erst die in das Wesen der Gno-
sis tiefer eindringende christliche Polemik, aber auch sie konnten
das Ziel ihres Strebens nicht sowohl auf dem dogmatischen, als viel-
mehr nur auf dem kirchlichen Wege erreichen. So scharfsinnig und
treffend grossentheils die Argumente sind, durch welche die bei-
den Kirchenlehrer die einzelnen Lehren der Gnostiker und die
ganze, ihren Systemen zu Grunde liegende Anschauungsweise zu
widerlegen suchten, so führte doch diese Art der Polemik nur zu
einem philosophischen und dialektischen Streit, welcher nie ein fe-
stes Resultat zur Folge haben konnte. Je mehr das Christenthum
i) YergL die ohr. Qnosis S. 501 t Theol. J«hr|)« 1846 & 81 t
S38 Dritter Abschnitt. Das Christenthuin als absolutes Weltprincip,
ia der Auffassung der Gnostiker seinen eigenthümlichen Charakter
verlor, um so mehr kam es darauf an, sich ihnen gegenüber auf
einen Standpunkt zu stellen, von welchem aus das specifiachechris^
liehe Interesse mit aller Entschiedenheit geltend gemacht werdmi
konnte. Es musste vor allem die dem Wesen des Christenthums
überhaupt widerstreitende Tendenz der Gnosis aufgedeckt werdet.
Einen solchen Punkt traf TertuUian, wenn er in seiner Polemik ge-
gen Marcion hauptsachlich auch die Konsequenzen des gnostischen
Doketismus klar vor Augen stellte. Wenn Christus, sagtTertulUan,
seinem Fleische nach als Lüge erfunden wird , so folgt, dass audi
alles, was durch das Fleisch Christi geschehen ist, zur Lüge wird,
dass er mit den Menschen zusammen war, mit ihnen zusammen-
lebte, es ist alles nur Schein. Auch das Leiden Christi verdient
dann keinen Glauben, denn wer nicht wahrhaft gelitten hat, hat gar
nicht gelitten. So ist das ganze Werk Gottes umgestürzt und die
ganze Bedeutung und Frucht des Christenthums, der Tod Christi,
wird geläugnet, welchen der Apostel zum Fundament des Evange-
liums macht Das Christenthum hat also, wenn es nichts anders
ist, als was es nach der Ansicht der Gnosis sein soll, keine ob-
jektive geschichtliche Realität, die Gnosis verwandelt seine Thai-
sachen in etwas blos Scheinbares , Vorgestelltes , rein Subjektives.
Diese dem geschichtlichen Charakter des Christenthums so wider-
streitende Tendenz konnte die Gnosis nur desswegen haben , weil
sie selbst etwas ganz anderes war als das Christenthum. Ein Haupt-
moment der Polemik der beiden Kirchenlehrer gegen die Gnosis
ist daher auch diess, dass sie der Gnosis ihren heidnischen Ur-
sprung entgegenhielten. Sie behaupteten nicht nur, sondern such-
ten auch im Einzebien nachzuweisen, dass die Gnostiker alles, was
ihre Systeme enthalten, theils ausdenTheogonien der alten griechi-
schen Dichter, theils aus den Systemen der Philosophen entlehnt
haben, nur die Namen haben sie verändert, in Ansehung der
Sache selbst aber sei in allem demjenigen, was sie für ihre eigene
geheimnissvolle Weisheit ausgeben, nichts zu finden, was nicht auch
schon von Thaies und Anaxagoras, von Heraklit und EmpedoUes,
von Demokrit und Epikur, von Pythagoras und Plato gelehrt wor-
den seL Daher das Dilemma, in welchem Irenäus das Resultat sei*
ner Beweisführung zusammenfasst: entweder haben die heidnischen
Dichter und Philosophen, mit welchen die Gnostiker so g^iauuber-
Irenttui und TertaUiAii. 833
einsiilninen, die Wahrheit erkannt oder nicht, haben sie sie er-
kannt, so ist es überflüssig, dass der Erlöser in die Welt gekommen
ist, haben sie sie aber nicht erkannt, so sieht man nicht, wie sich
die Gnostiker einer so hohen Erkenntniss rühmen können , da sie
in ihr nur mit denen übereinstimmen, welche Gott nicht kennen 0*
Je bestimmter man durch diese Bestreitung der Gnosis des Ver-»
haltnisses bewusst wurde, in welchem nicht tlos die Gnosis, son-
dern auch die griechische Philosophie zum Christenthum stand, um
so natürlicher war eii, dass dieselbe Opposition auch gegen die Phi-
losophie selbst, als die Quelle der* Gnosis, sich richtete. Wie ganz
anders urtheilten diese Kirchenlehrer, namentlich der auch hier
den extremsten Ausdruck seiner Ansicht nicht scheuende Tertul-
lian, wenn wir sie mit den Alexandrinern vergleichen , über den
Werth der Philosophie ? Sie sahen in ihr nur einen Widerspruch
mit dem Christenthum, einen unversöhnlichen Gegensatz, und spra-
chen es offen als Grundsatz aus, dass Philosophie und Christenthum
nichts mit einander gemein haben können. Betrachteten die
Alexandriner den Glauben nur als die Grundlage und Vorstufe, von
welcher aus erst der den Glauben selbst vollendende Fortschritt
zum Wissen geschehen musste, so wollten dagegen sie sosehr nur bei
dem schlechthinigen Glauben stehen bleiben, dass sie jedes über
ihn hinausgehende Wissensinteresse als eine Beeinträchtigung sei-
ner Reinheit von sich wiesen 0. Da die Philosophie selbst die ver-
schiedenen Ansichten und Meinungen, in welche sie sich in ihren
Schulen und Sekten theilte, Häresen nannte , so hatte man aus ihr
schon den bezeichnenden Namen aufgenommen , welchen man nun
allem, worin man nur eine dem christlichen Bewusstsein widerstrei-
tende Lehrbestimmung sehen konnte, zu geben pflegte. Nur so-
weit wollte man also von der Philosophie etwas sich aneignen, mit
1) Vergl. die ehr. Gnosis S. 485 f. 469 t
2) Tert. de praescr. haer. c. 7: Quid ergo Athenis et Hierosolymis ?
quid academiae et ecolesiae? quid haeretieis etChristiaiiis? Nostra institntio
de portieu Salomonis est, qui et ipse tradiderat, Dominum de Bimplicitate
cordis esse qnaerendom. Viderint, qui stoicum et platonicum et dialeoticum
chriatianismam protulernnt. Nobis curiositate opus non est post Jesum
Christum, nee inqnisitione post evangelium. Cum credimus, nihil desidera-
mnn ultra credere. Hoc enim prius oredimns, non esse, quod ultra aredere
debemns«
9134 Dritter Abschnitt. Dm Christenthum ftls absolntea Weltprinoip.
um so grösserem. Recht konnte man, wenn sie den Namen der lU-
resen giab, sie selbst als die Mutter derselben betrachten. Je ent-
schiedener auf diese Weise, im Gegensatz zu der Gnosis und der
Philosophie, das christliche Bewusstsein sich in sich erfasste und
fixirte, seinen speciflschen Inhalt festhielt, und alles Fremdartige von
sich abwehrte, um so energischer wurde die von dieser Seite aus-
gehende Opposition. Und doch konnte man auf diesem Wege nock
zu keinem festen Resultat gelangen. So sehr man auch mit den
Gegner sich auseinanderzusetzen suchte, man theilte mit ihm noch
ein Gebiet, auf welchem der Kampf nur in ein neues Stadium sri-
ner Entwicklung eintrat Man sollte denken, der Streit mit den
Gnostikem über das, was als wahre christliche Lehre gelten soll
oder nicht, hätte nicht leichter und einfacher entschieden werden
können, als durch die von beiden Theilen anerkannten apostolischen
Schriften. Allein, wenn auch die Gegner die Auktorität solcher
Schriften nicht verwarfen , so beschrankten sie sie doch auf ver-
schiedene Weise, indem sie, wie sie überhaupt verschiedene Prin-
dpien unterschieden, nicht alles in den Schriften für gleich göttlich
und glaubwürdig hielten, noch mehr aber konnte man, auch wenn
man über die Schriften im Ganzen einig war, über den Sinn der-
selben sehr verschiedener Ansicht sein, und es stand so, indem je-
der Theil die Schriften nur nach seiner Weise erklärte, auch anf
diesem Boden nur Meinung gegen Meinung. Machten beide Theile
mit gleichem Rechte die Schrift für sich geltend, so konnte der
Streit über die Schrift selbst nur durch ein anderes, über der Schrift
stehendes Princip entschieden werden. Welches Princip sollte aber
diess sein? Es ist hier der Punkt, wo in dem Entwicklungsgang
der ihrer Idee erst sich bewusst werdenden katholischen Kirche
ein neuer bedeutungsvoller Akt erfolgte. Im Streite mit denGnosti-
kern wurde derTraditionzuerstdie Stellung zur Schrift gegeben, die
sie seitdem im Lehrsystem der katholischen Kirche stets behauptet hat
Das ganze Dasein des Christenthums beruhte zu einerZeit, in wel-
cher der Kanon der als apostolisch geltenden Schriften noch so
wenig fixirt war, auf Tradition, was aber die Tradition prindpiell
ihrem Begriffe nach war, lernte man erst, als man es mit Gegnern
zu thun hatte, gegen welche man sich nicht behaupten konnte, ohne
sich auf einen, über die Schrift zurückgehenden und über ihr ste-
henden Standpunkt zu stellen. In den innersten Mittelpunkt der
Tradition und Schrift. )|35
Sache, um welche es sich hier handelt, versetzt uns Tertullian, der
hier besonders bedeutendste Vorkämpfer der katholischen Kirche,
wenn er aus der ohne Zweifel oft genug gemachten Erfahrung der
völligen Erfolglosigkeit eines auf der blossen Grundlage der Schrift
geführten Streits die Folgerung zog: ergo non ad scripturas pro-
vocandum est. Man dürfe sich nicht auf einen Kampfplatz bege-
ben, auf welchem der Sieg selbst im besten Falle immer zweifel-
haft bleibe. Wenn auch in einem solchen Streite beide Theile sich
das Gleichgewicht halten, so erfordere doch die Sache an sich, dass
vor allem die Frage aufgestellt werde, wer den rechten Glauben
habe, wem die Schrift gehöre, von wem und durch wen und wann
die Lehre, durch die man zum Christen wird, überliefert worden
sei. Wo sich zeige, dass die Wahrheit der Lehre und des christ-
lichen Glaubens ist, da werde auch die Wahrheit der Schrift und
Schrifterklarung und aller christlichen Traditionen sein 0- Um
aber auf den Punkt zu kommen, an welchem die ganze Wahrheit
des Christenthums hängt, darf man nur auf dem Wege zurückge-
hen, auf welchem das Christenthum zu uns gekommen ist Der
erste Prediger der christlichen Wahrheit ist Christus, nach ihm sind
es die Apostel, die schon durch ihren Namen als apostoli, oder missi,
das Princip ausdrücken, an das man sich zu halten hat. Hat Chri-
stus die Apostel zum Predigen ausgesandt, so sind keine andern
Prediger anzuerkennen, als die von ihm eingesetzten, weil niemand
den Vater kennt als der Sohn und wem ihn der Sohn offenbart, und
Andern hat er ihn nicht geoffenbart, als den Aposteln, die er aus-
sandte zu predigen eben das, was er ihnen geoffenbart hat Was
sie aber gepredigt haben, oder was ihnen Christus geoffenbart hat,
kann nicht anders erkannt werden, als durch die Gemeinden,
welche die Apostel sowohl durch das lebendige Wort ihrer Pre-
digt als durch die nachher hinzukommenden Briefe gestiftet haben.
Verhält es sich nun so, so steht auch fest, dass die Lehre, welche
mit dem Glauben der apostolischen Stamm- und Muttergemeinden
übereinstimmt, für wahr zu halten ist, weil sie ohne allen Zweifel
das in sich begreift, was die Gemeinden von den Aposteln, die
Apostel von Christus, Christus von Gott empfangen hat Jede an-
dere Lehre fällt voraus der Lüge anheim, sofern sie gegen die
1) De praescr. haer. c. i9.
S36 Dritter Abschnitt. Das Christenthnm als absolutes Wel^nrinoip.
Wahrheit der Gemeinden, der Apostel, Christi und Gottes ist Das
Zeugniss oder Kriterium der Wahrheit ist daher die apostolische
Tradition, oder die Uebereinstimmung mit der Lehre der aposto-
lischen Gemeinden 0* Es liegen hierin schon alle zum Begriff der
Tradition gehörenden Momente. Die Tradition hat ihrem Begriff
nach eine vermittelnde Bedeutung, sie bewegt sich zwischen zwei
mehr oder minder auseinanderliegenden Punkten, um Vergangen-
heit und Gegenwart für das Bewusstsein zu vermitteln. Soll die
Tradition die Wahrheit der christlichen Lehre bezeugen , so moss
sie darüber Gewissheit geben, dass die Lehre, die einer späten
Zeit als die christliche gilt, mit der ursprünglichen Lehre Christi
eine und dieselbe ist. Es versteht sich zwar von selbst , dass die
wahre christliche Lehre keine andere sein kann, als die von Chri-
stus verkündigte und von den Aposteln überlieferte , aber welche
Lehre ist die von den Aposteln überlieferte und von Christus ver-
kündigte? Es kommt nicht blos auf den Anfang an, an welchen
freilich alles hängt, sofern, wie TertuIIian sagt, omne genus ad ori-
ginem suam censeatur necesse est, auch nicht blos auf das, was da-
zwischen liegt, sondern das Dritte, was dazu gehört, ist, dass man
von dem Punkt ausgeht, von welchem aus man allein auf das Ur-
sprüngliche zurückkommen kann. In dieser Beziehung verweist
TertuIIian auf die apostolischen Gemeinden als* diejenigen, welche
die wahre Lehre Christi enthalten. Da es aber nicht blos Eine apo-
stolische Gemeinde gibt, sondern mehrere, so kann nur das als die
wahre Lehre angesehen werden, worin die sämmtlichen aposto-
lischen Gemeinden übereinstimmen O9 und es sind somit drei Mo-
mente, welche gleich wesentlich den Begriff der Tradition bestim-
mep, der Ursprung von Christus , die Vermittlung durch die Apo-
stel und die Uebereinstimmung der Gemeinden. Jedes dieser drei
Momente setzt die beiden andern voraus , ohne die Uebereinstim-
1) De praescr. haer. c. 21: Communicamas cum ecclesiig apostoliciB»
quod nnlla dootrina diTorsa, hoc est testimoninm reritatis.
3) Die Ueberemstimmuiig ist das Kriterium des gemeinsamen aposto-
lischen Ursprungs: omnes primae et omnes apostolicae, dum una, omnei
probant unitatem. Communicatio pacis et appellatio firatemitatis et contes-
seratio hospitalitatis, quae jura non alia ratio regit, quam ejusdem sacii-
menti una traditio. Tert de praescr. haer. c. 20* Vergl. c. 28 : quod apnd
nnltos nnam invenitari non est erratum sed traditum.
Die HttreBen. 937
mimg der Gemeinden weiss man nicht, wovon man ausgehen soll,
ohne den Ursprung von Christus fehlt die principielle Einheit des
Ganzen, ohne die Vermittlung durch die Apostel kann die Gegen-
wart nicht mit der Vergangenheit sich zur Einheit zusammen-
schliessen. Diese drei Momente zusammen geben der christlichen
Lehre, sofern sie auf der Tradition beruht, den Charakter der ob-
jektiven Wahrheit. Im Begriff der Tradition liegt es, dass sie eine
schlechthin gegebene, und ursprünglich durch göttliche Offenba-
rung mitgetheilte ist. Was nicht mit ihr übereinstimmt und mehr
oder minder von ihr abweicht, ist daher nur eine subjektive Mei-
nung, etwas menschlich Willkürliches, oder eine Harese. Häreti-
ker sind die, die als Einzelne einer als katholisch geltenden Mehr-
heit gegenüberstehen, und ihre selbstgemachte oder selbstgewahlte
Wahrheit höher achten als die objektive Wahrheit der katholischen
Lehre 0* Ini Gegensatz gegen das Häretische besteht das Katho-*
lische in einer Uebereinstimmung in der Lehre, durch welche jede
willkürliche Verschiedenheit der Meinungen ausgeschlossen ist
Um dieser Uebereinstimmjung sich bewusst zu werden, fasste man
die Lehren, die hauptsächlich als der Ausdruck der gemeinsamen
Ueberzeugung angesehen werden soUten, in kurzen Sätzen zu*-
sammen, die positiv aussprachen, was die Antithese der Gegner
verneinte. Es sind diess die regulae fidei, auf welche schon Ire-
näus und TertuUian in ihrer Widerlegung der Gnostiker sich be-
riefen, die ersten Versuche einer symbolischen Fixirung des Lehr-
begriffs, welche, wie die spätem Glaubenssymbole, durch den Wi-
derspruch der Gegner hervorgerufen wurden 0- Da das zweite
der genannten drei Momente es ist, das die beiden andern vermit-
telnd zusammenhält und verknüpft, so ist dieses eigentlich das
wichtigste, und das Element, in welchem sich die Tradition bewegt
Nur durch die Vermittlung der Apostel konnte die von Christus
ausgegangene Wahrheit die übereinstimmende Lehre der sämmt-
lichen christKcheu Gemeinden werden, sind aber die Apostel selbst
nur als Ueberlieferer der Lehre Christi zu betrachten , so sind sie
1) De praescr. baer. c. 57 • haeretici, chnstiani esse non possent, non a
Christo habendoy qnod de sua electione sectati haereticorum nomine ad«
mittmit«
i) Iren. !• iQ. 3, 4, Tert. de praesor. haer. 0. 13* Adv« Frax. c* 2«
de Tirg. vel. i.
JM8 Dritter Abschnitt Dm diristeiidiiim mls absolates Wel^nncip.
selbst nur das erste Glied einer im Laufe der Zeit immer weiter
sich ausdehnenden Reihe. So wichtig daher auch die apostolische
Stiftung der Gemeinden ist, so kommt doch ebenso viel darauf an,
zu wissen, welche Nachfolger die Apostel gehabt haben, ob die
Lehre Christi auch durch die folgenden Glieder ebenso §cht und
unyerffilscht von Hand zu Hand weiter gegeben worden ist, als sie
selbst sie aus der Hand der Apostel empfangen hatten. Zogen die
Gnostiker schon die traditionelle Auktoritat der Apostel durch die
Behauptung in Zweifel, dass die Apostel selbst nicht alles gewusst,
oder wenn sie es auch wussten, nicht allen alles mitgetheilt haben,
beriefen sie sich in dieser Beziehung auf den im Galaterbrief er-
wähnten Streit der beiden Apostel und die ernsten Worte, mit wel-
chen Paulus selbst den Petrus wegen seiner Lehre getadelt hatte O9
so musste der Traditionsbeweiss um so verdachtiger werden , je
länger die Reihe der vermittelnden Glieder wurde. Nur um so
grösseres Gewicht legten aber die Kirchenlehrer ebendarauf, und
mit allem Nachdruck machten sie geltend, dass nur in ihrer Mitte
eine in ununterbrochener Reihe fortgehende Succession solcher auf-
zuweisen sei, welche die von den Aposteln her äberlieferte Lehre
mit derselben Treue unter sich bewahrt haben 0- Die Nachfol-
ger der Apostel sind die Bischöfe, als Nachfolger der Apostel sind
sie die Trager der apostolischen Tradition, dieselbe Bedeutung,
welche die Tradition in der Entwicklungsgeschichte der katholi-
schen Kirche hat, hat demnach auch der Episkopat Ist die Tradi-
tion das substanzielle Element der katholischen Kirche, das Princip,
das sie bei aller Erweiterung ihres Umfangs zur Einen apostolischen
Kirche macht, so ist es der Episkopat, in welchem die Tradition
selbst erst ihre konkrete Realität erhält Am Begriffe des Episko-
pats entwickelt sich daher die weitere Geschichte der katholischen
1) De praescr. haer. c. 23*
2) De praescr. baer. c. 32: Edant origines ecclesiarom suaram, evol-
vant ordinem episcoponun suomm, ita per snccessiones ab initio decnrren-
tem, nt primtig ille episcopns aliqaem ex apostolis vel apostolicis viris, qni
tarnen cum apostolis perseveraTerit, babnerit anetorem et aiitecessorem. Hoc
enim modo ecclesiae apostolicae censas saos defenmt, sicut Smymaeomm
ecclesia Polycarpnm ab Johanne collocatum refert, sicnt Romanoram de-
mentem a Petro ordinatom, id et proinde utique et ceterae exhibent, qnos
apostoli in episoopatom constitatos apostolici seminis tradnces habeant.
Vergl. 0. S6«
Der Epiflcopat. S39
Kirche, om aber diesem Gange zu folgen, muss man vor allem wis-
sen, was überhaupt der Episkopat ist, und woher er seinen Ur-
sprung genommen hat Es wird sich zeigen, dass es sich mit dem
Episkopat auf dieselbe Weise verhalt, wie mit der Tradition,
dass dasselbe Einheitsinteresse, das im Gegensatz gegen die Gno-
sis die Idee der katholischen Kirche hervorrief und sie in der Form
der Tradition realisirte, auch im Episkopat fortwirkte und in ihm
erst der katholischen Kirche ihre feste Konsistenz gab.
Waren die Bischöfe in dem Sinne Nachfolger der Apostel, in
welchem die kirchliche Tradition sie dafür halt, so wäre die Frage
über den Ursprung des Episkopats sehr einfach zu beantworten,
allein die Bischöfe sind in keinem Falle die unmittelbaren Nachfol-
ger der Apostel, und alter als der tni^nonog im eigentlichen Sinne*
sind die nQnsßutfgoh und dtd%090t. Dass nebenden Apostehi Pres-
byter an der Spitze der ersten christlichen Gemeinden standen^
scheint die Apostelgeschichte nach der Analogie der jüdischen Syn-?
^8»oge, als sich von selbst verstehend, vorauszusetzen. Bei der
jerusalemischen Gemeinde spricht sie nur von der Einsetzung der
didxopotj welche auf den Antrag der Apostel für das entstandene
Bedürfniss einer besonderen Armenpflege gewählt wurden C6, 1.), die
Presbyter hatte demnach die Gemeinde zuvor schon, bei den aus-
wärtigen Gemeinden dagegen wird als das Erste, was die Apostel
zu ihrer ersten Einrichtung thaten, die Einsetzung von Presbytern
erwähnt CApostelgesch. 14^ 23). Es ist nichts natürlicher, als die
Annahme, dass die Apostel, wenn sie eine christliche Gemeinde
stifteten, auch die ersten Einrichtungen zu ihrer Organisation tra-*>
fen, nur kann man sich, auch weim man weit entfernt ist, zu meinen,
es müsse die ganze Verfassung der Kirche eine apostolische Insti-,
tution sein, nicht genug hüten, dass man nicht mehr voraussetzt, als
der Natur der Sache nach vorausgesetzt werden kann. Bedenkt
man, wie schwach die ersten Anfänge der ersten christlichen Ge-.
meinden waren , aus wie wenigen Mitgliedern sie bestanden , wie
beschränkt waren die Stifter der Gemeinden, selbst wenn sieschoo
einen vollständigen Organisationsentwurf in sich getragen hätten^
in der Wahl ihrer Anordnungen? Waren es nur wenige Familien,
welche die erste Grundlage einer sich bildenden christlichen Ge-
meinde ausmachten, oder wohl auch nur eine einzige^ so .gab
es sich von selbst, dass die Familie, an welche als den Grundslamm
940 Dritter Abschnitt. Das Christentbum als absolutes Wdtprinoip.
die übrigen sich anschlössen, ein überwiegendes Ansehen erhielt
nnd von ihr die Leitung des Ganzen ausging. Diess sind die «Tra^X'S
von welchen nicht blos in dem ersten Briefe des römischen Clemens
an die Korinthier CK. 42), sondern auch schon in dem ersten Briefe
des Apostels an die Korinthier Ci6^ 15. 16) die Rede ist Die
Apostel haben, sagt Clemens, als sie auf dem Lande und in den
Städten das Evangelium verkündigten, ihre Erstlinge («Yia^jifaV),
d. h. die, welche zuerst den christlichen Glauben angenommen hat-
ten, iig iinffKoneg ual diaxopug xmv ftiXXopttop nigiuup einge-
setzt Die inUxono^ stehen hier neben den dianovoi^ wie auch im
Briefe an die Philipper 1, 1. die an der Spitze der Gemeinden
Stehenden als in/aKonoi und d^anopo^ bezeichnet werden, und
überhaupt die inloKonoi da, wo wir sie zuerst finden, da auch von
ihnen, wie von den d&d»opoi und n^tffßvrtgoi^ in der Mehrheit die
Rede ist, nur dieselbe Bedeutung wie die ngiaßurtgoi haben kön-
nen 0* ^^^ beiden Namen bezeichnen dieselben Personen, je nach-
dem sie als die Häupter und Vertreter der Gemeinde, oder als die
das Ganze überwachenden Aufseher betrachtet wurden. Wie aof
diese Weise die inlaxono^ mit den ngsaßvitgoi zusammenfallen,
so scheint auch die dianopia das ursprüngliche Element des christ-
lichen Gemeindeamts zu enthalten. Als Diakonen setzten die Apo-
stel jene Erstlinge ein, wie Clemens sagt, nicht sowohl für die, die
schon glaubten, als vielmehr für die, die erst zum Glauben bekehrt
werden sollten. Sie waren also dtdnovo^ nur in dem Sinne, in wel-
chem der Apostel Paulus von dem Hause des Stephanas als der
inüiQxn von Achaia rühmt, dass die Mitglieder desselben selbst die
dutnopia für die Christen übernommen haben. Was ist aber unter
dieser dianowla zu verstehen? An das eigentliche Diakonenamt ist mn
streitig nicht zu denken, aber auch in dem engeren Sinne des Dienstes
der Dürftigen soll das Wort diuuopia^ wie Ritschl behauptet *), nicht
zu nehmen sein. Vielmehr weise die Aufforderung zum Gehorsam
Ci Kor. 16, 16) daraufhin, dass diaxopiu jede mögliche Form des
Gemeindedienstes, also wohl auch die Gemeindeleitung bedeute,
denn innerhalb des N. T. bedeute es z. B. auch das Amt des Apo*
1) Man yergl. ApostelgeBch. 20t 17* 28. Tit. 1. 5. 7. 1 Tim. S, f— S*
i Petr. 5, 2. S.
3) A. a. O. S. 369.
Das Gemeindeftmt. )I41
Siels CApg. 4, 17. 25. 20, 24. 21, 19. Rdm. U, 13), bei Clemens
von Alexandrien das Gemeindeamt überhaupt als Inbegriff des Pres-
byterats und Diakonats Cz. B. Strom. 7, 1), im Schreiben der gal-
lischen Gemeinden bei Eusebius C^, 1) sei von der S^axopla Ttjg
intanonr,g die Rede, und in den apostolischen Constitutionen C2, 26)
heisse der Bischof didxopog koy». Es lässt sich diess nicht in
Zweifel ziehen, nur wird das Richtige, das darin liegt, vervollstän-
digt, wenn wir auch bei dieser weiteren Bedeutung den Grundbe-
griff, von welchem das Diakonenamt ursprünglich seinen Namen
hatte, die Sorge für die Dürftigen, nicht aus dem Auge verlieren,
und annehmen, dass die Gemeindeleitung insofern dtanovia genannt
wurde, als man sie selbst als einen aus dem Bedürfniss der Ge-
meinde hervorgehenden Dienst an ihr betrachtete. Man dient der
Gemeinde, nimmt sich derselben an, handelt in ihrem Interesse,
wenn man sie leitet Daher der Apostel dieselben Glieder des Hau-
ses des Stephanas, welchen er die Uebrigen sich unterordnen
heisst, selbst auch wieder als untergeordnet betrachtet Wenn sie
sich selbst«/? di>vt%opiav ro7g ayloig ha^av, SO haben sie sich selbst
unter diese d^anovla gestellt, sich ihr als einem höhern, über ihnen
stehenden Zweck unterzogen. Es ist derselbe, das Ganze in das
Auge fassende, das Einzelne dem Zweck und der Einheit desselben
unterordnende Gesichtspunkt, von welchem aus der Apostel seine
Lehre von den Charismen, ihrer Verschiedenheit und Einheit, ent-
wickelt, und in der Reihe derselben auch die apviXijtpHg und xt;-
ßfQPfjtnig stellt, welche nur der abstrakte Ausdruck für die kon-
kreten Benennungen der d&dxovoi und inlanono^ sind, 1 Kor. 12,
28. So betrachtet, ist das christliche Gemeindeamt in seinem ur-
sprünglichen Sinne eine diuKOpia^ ein durch das Bedürfniss und das
Interesse des Ganzen bedingter Dienst, oder ein Charisma, bei wel-
chem das Persönliche nur die besondere Befähigung für einen auf
das Allgemeine sich beziehenden Zweck ist Von diesem Gesichts-
punkt aus hat die Frage keine weitere Bedeutung, ob das Gemeinde-
amt der Familie des Stephanas ein freiwillig übernommenes, oder,
Mrie RiTSCHL meint, ein vom Apostel übertragenes war. In der
Folge meinte man freilich, es könne alles nur durch die Einsetzung
der Apostel und zur Vorsorge für die von ihnen vorhergesehenen
Falle geschehen sein. In diesem Sinn sagt der römische Clemens
Ca. a. 0. c. 44), die Apostel haben erkannt , dass Streit sein werde
BauFi die dr«i ersten Jahrli« i.^
)I49 Dritter Abschnitt. Das Chriftenthum alt absolutes Wel^rineip.
Über den Namen der imononri. Aus dieser Ursache haben sie in
ihrem vollkommenen Vorauswissen Episkopen und Diakonen auf-
gestellt, und nachher noch die Verordnung gegeben, dass nach dem
Tode derselben andere bewahrte Männer ihre Nachfolger in dem
Gemeindedienst werden sollen. Die nun, die von jenen, den Apo-
steln, oder nachher von andern achtbaren Mannern, unter Billigung
der ganzen Gemeinde, aufgestellt worden, und ihren Dienst an der
Heerde des Herrn tadellos versehen haben, könne man nicht mit
Recht aus ihrem Gemeindeamt (ihrer Xuiogyla, oder wie es unmit-
telbar darauf heisst, der imaKonri^ nemlich der ngiaßtizigoi) ver-
drangen. Wie es sich auch mit der den Aposteln beigelegten An-
ordnung verhalten mag, das Wichtigste ist, was wir aus dem Briefe
des Clemens über die zu jener Zeit bestehende Einrichtung erfah-
ren. Gewählt wurde demnach zu den Gemeindeamtern sowohl von
den iUoyifiOi^ apÖQtg^ als der nuaa ixHkfjalu. Die angesehenem
Mitglieder der Gemeinde, die Notabein, leiteten die Wahl und mach-
ten den Vorschlag, die Annahme desselben aber hing von der Zu-
stimmung der Gemeinde ab. Da die nur als Notabein bezeichneten
Mitglieder der Gemeinde keine klerikalischen Personen sind , so ist
es überhaupt noch die Gemeinde, in deren Mitte das Wahbrecht
ruht, und die ursprüngliche Anschauung, auf welche uns diese er-
sten Anfänge der ganzen folgenden Hierarchie zurückführen, ist
unstreitig die Autonomie der Gemeinden. Es ist dieselbe Autono-
mie, welche nicht nur die Apostelgeschichte bei der, zwar auf die
Aufforderung der Apostel, aber nur durch die Gesammtheit der
Jünger geschehenen Wahl der ersten Diakonen anerkennt, sondern
auch der Apostel Paulus voraussetzt, wenn er die 1 Kor. 5, 3 be-
absichtigte Exkommunikation nur inUebereinstimmung mit der Ge-
meinde vollziehen kann, und ebenso auch bei der Frage über die
Aussöhnung und Wiederaufnahme sein Urtheil ganz von dem der
Gemeinde abhängig macht, 2 Kor. 2, 5 f. Wie sehr diese Auto-
nomie zum ursprünglichen Charakter der christlichen Gemeinden
gehörte, ist daraus zu sehen, dass sie auch noch später in demall-
gemeinen Wahlrecht der Gemeinden unangefochten fortbestandt
noch zu der Zeit, als Cyprian, der Bischof von Karthago, den Kle-
rus im vollen Bewusstsein seiner Rechte repräsentirte 0» ^ ^^
1) Er schreibt £p. 33 an die Presbyter, Diakonen und die univem
Die Autonomie der Gemeinden. Md
jedoch nicht blos das Wahlrecht, das die ursprüngliche Autonomie
der Gemeinden beurkundet, selbst diejenigen Handlungen, welche
in der Folge nur von den Klerikern vermöge ihres specifischen
Amtscharakters yerrichtet wurden, kamen ursprünglich den an der
Spitze der Gemeinde stehenden Personen nicht ausschliesslich und
im Unterschied Ton der Gemeinde, sondern nur durch die Gemeinde
21L Ausnahmen, wie sie auch später noch stattfanden, bezeugen,
was früher als aligemeines Recht galt. Die allgemeine Berechti-
gang zum Lehren setzt der Apostel Paulus voraus , da er nur die
Frauen davonausnimmt,! Kor. 14,34. Doch sagt er auch C12, 28), Gott
habe in der Gemeinde gesetzt zuerst die Apostel, dann die Propheten
und zum dritten die Lehrer, er spricht somit von den Lehrern als
einer eigenen Klasse. Der Verfasser des Briefs Jakobi will nur
nicht, dass es zu viele Lehrer gebe (3, 1. f.)? im Brief an die Heb-
rkerCl3,73 werden die Lehrer ermahnt, an die Vorsteher zu denken,
als an die, welche den Xoyo^ t3 0iS vorgetragen haben, und im
Brief an dieEpheser C4^ 11) werden nach den Aposteln, den Prophe-
ten, den Evangelisten, den Hirten auch noch die Lehrer genannt
Ebenso werden im Hirten des Hermas CI9 3, 5) als Klassen des Ge-
meindeamts episoopi, doctores und ministri unterschieden, wobei
unter den doctores nicht die Presbyter im Unterschied von den Bi-
schöfen zu verstehen sind, sondern die episcq>i haben sowohl das
Amt der Lehre als der Aufsicht, wie auch nach Justin (Apol. 1,67)
» den GemeindevOTsammlungen Lehre und Ermahnung Sache des
ngoegwg ist Nehmen wir alles diess zusammen, so erhellt hieraus,
dass die Lehrthätigkeit, wenn auch mit dem Gemeindeamt verbun-
den, doch nicht ausschliesslich mit demselben verknüpft war, wess-
wegen auch noch spdler den Laien die Lehrberechtigung nicht
schlechthin abgesprochen werden konnte , man verlangte nur, dass
sie m Gegenwart der Bischöfe und mit Genehmigung derselben die
Lehrvortrage halten 0« Ebenso wenig finden wir bei der Verwal-
tttng der Taufe und des Abendmahls gleich anfangs den spätem
specifischen Unterschied zwischen dem Klerus und den Laien. Das
pl«bg: in oidinatioiiibus elerieit solemiu vos ante consulere et mores ac
BMffita singuloram eommiini judicio ponderare, und £p. 67 sagt er ron der
pldbs selbst, dass sie ipsa mazime habeat potestatem rel eligendi dignoa
taoefdotes, Tel malignos reonsandi.
1) Man Tgl. was Sosebios K.G, 61 19 Ton Origenes erzählt.
16»
S44 Dritter Abschnitt. Das Christenthom als absolntes Weltprindp.
Recht zu taufen kam zwar , wie Tertullian sa^ 9 ^^^ obersten
Priester, welcher der Bischof ist, und nach diesem den Presbytern
und Diakonen zu, obgleich nicht ohne Genehmigung des Bischofs,
im Uebrigen aber sollten auch die Laien dieses Recht haben, weil
was ex aequo empfangen werde , auch ex aequo gegeben werden
könne , nur sollten die Laien blos in Fällen der Noth davon Ge-
brauch machen. Dasselbe gilt vom Abendmahl. Es war christliche
Gewohnheit, dass es nur von den Vorstehern ausgetheilt wurde,
wie ja auch nach Justin der n^osgfjig es ist, welcher Brod und Wein
segnet , aber sind denn, fragt Tertullian, nicht auch die Laien Prie-
ster? Wo auch nur drei und zwar als Laien zusammen seien, da
sei die Kirche *). Alles also, was in der Folge vorzugsweise nur
die Kleriker sein wollten und als ihr eigenthümliches Attribut be-
trachteten, nahm Tertullian als allgemein christliches Priesterrecht
für die Laien in Anspruch ^3. So lebendig aber auch damals noch
das ursprüngliche autonomische Gemeindebewusstsein sein mochte,
es war doch alles, was Tertullian geltend macht, eine blosse Aos-
nahme, es gab schon eine besondere Klasse kirchlicher Personen,
zu deren amtlicher Thätigkeit alle jene auf das Ganze der Gemeinde
sich beziehenden Handlungen gehörten, die Gemeinde hatte sich so-
mit schon in zwei von einander verschiedene Stande getheilt Kleriker
und Laien Cl&ici), oder der ordo und die plebs, [standen mit diesen
Namen einander gegenüber, nur um so bemerkenswerther aber ist,
dass selbst mit diesem Unterschied ursprünglich sich noch keine
1) De bapt. e. 17'
2) De exhort cast c. 7-
S) Es ist im Obigen kurz angedeutet, was Bitschl a. a. O. S. 37} ^
sehr genau und gründlich entwickelt hat. Ritscib^i weist noch weiter nadh,
dass der Klerus, oder der Bischof, ursprünglich auch das Privilegium der
Sündenvergebung nicht hatte, dass das Recht der Sündenvergebung alleio
Gott vorbehalten, die Erreichung und Anwendung derselben jedoch abhftngig
gemacht war von der Fürbitte der ganzen Gemeinde, welche, als imNamea
Christi vollzogen, die Gewährleistung ihres Erfolges in sich trag. Bbeiu»
wenig begründe das den Klerikern vorbehaltene Recht der Handaoflegung
eine Einwendung gegen das Resultat, dass der Klerus ursprünglich kein«a
specifischen Vorzug vor den übrigen Gemeindegliedem hatte, da die Hand-
auflegung bei der Taufe und die Wiederaufnahme der Gefallenen nn^rüsg-
lich kein priesterliches Privilegium, sondern Symbol der Aneignung dttlfo"
folgs vom allgemeinen Gebet an eine einzelne Person war.
Die Kleriker. 945
hierarchischen Begriffe verbanden 0* Wenn auch in jenen Aus-
drücken schon ein bestimmter Unterschied ausgesprochen ist, so
1) Anders wäre es, wenn, wie Hieronymus sagt Ep. 52.» die Cleriker
mit Beziehung auf 5 Mos. 10, 9. 18» 2. deswegen so genannt worden wä-
ren, weil sie de sorte snnt domini, oder weil dominus ipse sors, d. h. pars
derieomm est Gegen diese Erklärung erhob sohon Neander K.G. 1. A. 1.
B. 399. f. den Zweifel, sie werde, wenn man die Geschichte des Sprachge-
brmachs verfolge, sich nicht rechtfertigen lassen, Neander's Erklärung aber blieb
m sehr am Begriffe des Looses hängen. In der Abhandlung über den Ur-
sprung des Episcopats 1838* S. 93 f> habe ich darauf aufmerksam gemacht,
dass nX^gof in dem Schreiben der Gemeinden zu Lugdunum und Vienna
bei EirsBBius K. G. 5» 1.* woron einem nX^gos juagrvQwv die Bede ist, und
in einigen Stellen der ignatianlschen Briefe die Bedeutung Stand, besonders
höherer Stand zu haben scheint. Das Genauere gibt nun Bitschl a, a. O.
8. 398 f* Klygoe bedeutet Beihe, Bang, so z. B. wenn es bei Eusebius
K. G. 4, 5. Yon dem sechsten Bischof von Alexandrien heisst: ri^v ngoea^
üiav txTüi xXijgttt SiaSixtTa^, KX^gos ist SO viel als rd^ii. Da nun inner-
halb des christlichen Amtes nX^goi unterschieden werden, so sind nXijgoi
aufeinander folgende Aemter, Bangstufen, wie z. B. wenn Irenäus adv. haer.
5, 3. von dem römischen Bischof Eleutheros sagt, er habe an der zwölften
Stelle von den Aposteln an rcV t^s iniQuon^s nXijgov inne, KXtjgoQ ist hier
Bangstufe, wie auch schon Apg. 1, 17. 25* das Apostelamt als o nXijgo^
t^s dianovias tavttj9 bezeichnet wird. In demselben Sinn ist von einem
nXijgoQ TViv fjtngrvgoiv, einer Glasse der Märtyrer, die Bede. Auch eine
ganze Gemeinde wird uX^gos genannt, wie Ignatius wünscht Ep* adEph. c.
11, dass er erfunden werde ev nXfjgig 'Efpsaitav X9*^*^vf»'^i welche immer
einstimmig mit den Aposteln gewesen seien. Dadurch haben die ephesischcn
Christen den Vorrang vor Andern, es verbindet sich daher hier mit dem
Worte xXijgos schon der Begriff einer hohem Bangstufe. Die specielle Bedeu-
tung des Worts oder die ausschliessliche üebertragung des Worts auf einen
besondem Stand, den der kirchlichen Beamten, ist ohne Zweifel analog der
Bedeutung, welche auch bei uns die Ausdrücke Bang oder Stand haben.
Wenn auch jeder einen gewissen Bang und Stand hat, so spricht man
doch von Bang und Stand vorzugsweise bei denen, welche eine höhere
Stellung im geselligen Leben haben. Indem der Vorzug der stehenden
Aemter die Bücksicht auf so zufällige Vorzüge, wie der des Märt3nrerthums
ist, verdrängte, nahm man die Kleriker in ihrem ursprünglichen Sinn, wie
wir zn sagen pflegen, als Personen von Bang und Stand. In der Stelle
1 Petr. 5» 3) wo die Presbyter ermahnt werden, fiij naxanvgultiv rtup nXi}-
gatv^ können die «Xifgoi, gleichbedeutend mit no^fsviov, nur die verschiedenen
Klassen oder Stände sein, welche die Gemeinde, dieHeerde, bilden, hier hat
demnach nl^goQ noch seine weitere Bedeutung, die engere dagegen begeg^
net uns zuerst bei Clemens von Alex, in der Schrift: tit 6 ow^ofi, nlaa.
S46 Dritter Absclinitt. Das Chrlstenthom als absolutes Weltfirindp«
liegt doch in dem Begriffe des Kleros noch nichts, was die ur-
sprüngliche und wesentliche Gleichheit der beiden Stande aufhebt,
wie diess auch Tertullian mit klaren Worten sagt 0- Es war nur
ein Ehrenvorzug, welchen die Kleriker vor den übrigen Mitgliedern
der Gemeinde hatten. Die Kleriker gelten zwar schon als Priester,
ihr ordo ist nicht blos der ordo ecclesiasticus , sondern auch der
ordo sacerdotalis, und eben im Gegensatz zum Priesterlichen erhält
das Wort l»6g, lainoi, seine eigenthümliche Bedeutungi, denn ein
Xatxog ap^Qoonog ist, wie der römische Clemens Ca. a. 0. c. 40) den
Begriff bestimmt, wer weder a(>;r*«(»«i'V> noch i<(>«vV, noch Levite
ist. Wenn also auch der laog die israelitische Volksgemeinde ist,
so sind Xalnol die, die schlechthin zu ihr gehören, ohne eine be-
sondere Stellung in ihr zu haben. Aber auch der priesterliche
Charakter macht noch keinen bestimmten Gegensatz zwischen den
Klerikern und Laien. Priester sind ja auch die Laien, und das
Opfer, das den Priester zum Priester macht, ist nur das Gebet,
namentlich das Dankgebet bei dem Abendmahl mit den von der Ge-
meinde dargebrachten Gaben ^. Ungeachtet dieser Bezeichnungen
sollte demnach der Unterschied der beiden Stände immer noch blos
ein fliessender und der autonomische Charakter der Gemeinde nicht
aufgehoben sein. Auf dieselbe Weise verhalt es sich mit dem Un-
terschied der presbyteri und der episcopi. Auch nachdem die letz-
tern schon etwas ganz Anderes waren als die erstem, löste sich der
Name und Begriff der episcopi immer auch noch in den der pres-
byteri auf, und die Presbyter sind es, in welchen das ursprüngliche
autonomische Bewusstsein der Gemeinde sich am längsten erhielt
Noch bei Clemens von Alexandrien und Irenäus ist zwischen den
Presbytern und dem Bisehof ein blos relativer Unterschied. Cle-
mens spricht zwar auch schon von dem Diakonus , dem Presbyter
ß* 42) wo erzählt wird, der Apostel johannes hahe vonEphesns aus die Um-
gegend hereist, uns futv iniOMonaS xarafi^ootip, uns 3i okaQ ixtiX^ola^ ag^
fAoawpj OTTS Sd x^^pcu €va yt riva nXjjgojaotp tojv vito r» npsv/ttaros aijpunvo-'
ftivütv, d. h. er hahe da, wo schon ein Kollegium hestand, dem hestehen-
den Elleras je ein Mitglied eingereiht. Gleichhedentend mit hX^qoq ist bei
Tertallian ordo, das thells schlechthin plehs gegenühersteht, theils mit der
Bestimmung ecclesiasticus oder sacerdotalis.
1) De exhort cast c. 7. differentiam inter ordinem et plebem con-
stitait ecclesiae auotoritas et honor per ordinis consessum sanotificatos.
3) Vergl. RiTscHL a. a. O« S. 404. t
Die Presbyter. 847
und dem Bischof als einer dreifachen Stufenfolge des kirchlichen
Amts, er unterscheidet aber nur einen doppelten Amtscharakter,
den der Presbyter und den der Diakonen, indem er der Thätigkeit
der Presbyter in Beziehung auf Lehre und Disciplin einen bessern-
den, der der Diakonen einen dienenden Charakter zuschreibt ^).
Irenäus gebraucht öfters die beiden Ausdrücke presbyteri und
episcopi ganz gleichbedeutend, er spricht in demselben Sinne von
den suqcessiones sowohl der presbyteri als der episcopi, selbst die
römischen Bischöfe heissen bei ihm nQtaßutiQoi^ und er nennt das
Amt der Presbyter geradezu den episcopatus 0. Damit stimmt zu-
sammen, dass auch in der Ausübung der Amtsgewalt zwischen dem
Bischof und den Presbytern noch keine strenge Grenzlinie gezogen
war. Auf der einen Seite sollte zwar in der Gemeinde nichts ohne
den Willen des Bischofs geschehen, keine Taufe, keine Ordination,
ohne seine Genehmigung vollzogen werden, auf der andern Seite
waren aber doch auch die Presbyter zur Vollziehung beider Akte
befähigt, was nicht hätte sein können, wenn man sich einen we-
sentlichen Unterschied zwischen ihrem Amt und dem des Bischofs
gedacht hatte. So erscheint das Verhältniss beider noch in einem
Kanon der Synode von Ancyra im J. 314. Ebendahin gehört die
Bestimmung des vierten Koncils von Karthago im J. 398 , dass bei
der Ordination eines Presbyters sämmtliche Presbyter mit dem Bi-
schof zugleich die Hände auf das Haupt des Ordinanden legen sol-
len. Es kann diess nur eine alte Sitte gewesen sein aus einer Zeit,
in welcher Presbyter und Bischöfe einander gleich standen , der
Bischof neben den Presbytern nur primus inter pares war. Am
längsten wurde diese ursprüngliche Gleichheit der Presbyter mit
den Bischöfen in der alexandrinischen Kirche aufrecht erhalten, in
welcher es bis auf den Bischof Demetrius Cv. J.190 — 232) in ganz
Aegypten nur den einzigen Bischof von Alexandrien gab, die zwölf
angeblich von dem Evangelisten Markus eingesetzten Presbyter
das Recht hatten, aus ihrer Mitte den Bischof oder Patriarchen zu
wählen, und erst dem Bischof Alexander bald nach dem Anfang
des vierten Jahrhunderts es vollends gelang, die Presbyter auch in
Alexandrien in das sonst bestehende Verhältniss der Unterordnung
zu den Bischöfen zu setzen ^).
1) Man vergl. Paedag. 3, 12. Strom. 6, 13. 7, 1.
3) Adr. haer. 3» 2« 3. 4» 26.
3) Vergl. RiTSCHL a. a. O. S. 431 fi
S{48 Dritter Abschnitt. Das Christenthum als absolutes Weltprinoip«
Alle diese den ursprünglichen autonomischen Charakter der
christlichen Gemeinden in sich darstellenden Verhältnisse moss man
sich vergegenwärtigen, um die Bedeutung richtig aufzufassen,
welche der Episkopat für den Entwicklungsgang der christlichen
Kirche hat. War die Autonomie der christlichen Gemeinden so-
lange noch nicht ganz verschwunden, solange der Unterschied der
TiQioßutiQoif und inloKonoi ein blos relativer und fliessender war,
so bestand die durch den Episkopat eintretende Veränderung eben
darin, dass der relative Unterschied ein absoluter und specifischer
wurde. Wie die Presbyter eine Hehrheit bilden, so gehört es zum
Begriff des Bischofs, dass er nur Einer ist, daher ist er nun auch
als der Eine für sich etwas wesentlich Anderes als die Presbyter,
welche das, ^was sie sind, nur als mehrere zusammen sind. Man
hat das Moment der Sache, um die es sich hier handelt, so be-
stimmt, dass die Hauptfrage der Unterschied des Gemeindeamts
und des Kirchenamts wäre 0* Ist der Bischof auch nur Gemeinde-
beamter, so ist er nur auf einer höhern Stufe dasselbe, was der
Presbyter ist, soll daher ein specifischer Unterschied sein, so kann
er nur darin bestehen, dass der Begriff des Bischofs durch das noch
nicht erschöpft ist, was er in seiner Beziehung zu der einzehi^
Gemeinde ist, welcher er vorsteht, sondern in diesem Verhältniss
zugleich die Kirche überhaupt in sich repräsentirt, ein allgemeines
Organ der kirchlichen Einheit und Auktoritat ist. Da die Kirche
zu der Gemeinde sich verhält, wie das Allgemeine zu dem Beson-
dern, so ist die Frage, um welche es sich handelt, eigentlich diese,
ob das Allgemeine durch das Besondere, oder das Besondere durch
das Allgemeine bestimmt wird. Geht man von der Autonomie der
Gemeinden aus, so fasst sich die Gemeinde in den Presbytern und
Bischöfen als ihren Vertretern in der Einheit ihres Begriffs zusam«
men, die Presbyter und Bischöfe sind so gleichsam nur eine Ab-
straction aus der unbestimmbaren Vielheit der Individuen, welche
zusammen die Gemeinden ausmachen, es stellt sich in ihnen, als den
Vertretern und Organen der Gemeinde, nur wieder dasselbe dar,
was die Gemeuide selbst wesentlich ist, sie sind nichts ohne sie,
sondern alles nur durch sie. Ist man aber einmal von dem Vielen
1) Vergl. ßoTHE, die AnfUnge der ehr. Kirche und ihre Verfossiuig'
Wittenberg 1837. S. 153. f.
Der Episkopat. 840
EU dem Einen, von dem Besonderh zu dem Allgemeinen fortge*-
gangen, so kann das Verhältniss, in welchem das Eine zu dem An*
dem steht, auch in das Entgegengesetze umschlagen, das Eine ist
nicht mehr blos die Abstraktion aus dem Vielen, sondern das Viele
wird durch das Eine bestimmt, das Besondere durch das Allge-
meine, Diess ist das Verhaltniss, in welchem der Bischof im eigent-
lichen Sinn, wenn er von den Presbytern nicht mehr blos relativ,
sondern absolut und specifisch verschieden ist, zu der Gemeinde
steht, die Gemeinde hangt nur an dem Bischof, als ihrem Haupt,
und ist, was sie ist, wesentlich nur durch ihn« Nur in diesem Smne
kann man demnach auch sagen, es handle sich hier um den Unter-
schied des Gemeindeamts und des Kirchenamts. Wird im Bischof
nicht die einzelne Gemeinde, sondern die Kirche überhaupt ange-
schaut, so ist die Kirche in ihrer Beziehung zu der Gemeinde das
die Gemeinde bestimmende Allgemeine und Principielle. Die Frage,
deren Untersuchung nun vorliegt, ist daher, wodurch wurde der
Umschwung bewirkt, durch welchen die Bischöfe, statt wie bisher
mit den Presbytern zusammenzugehören, sich auf solche Weise über
sie und die Gemeinde stellten, dass die Gemeinden ihren autonomi-
schen Charakter verloren und in einem schlechthinigen Abhängig-
keitsverhältniss zu den Bischöfen standen?
Es liegt diess an sich schon in dem Streben nach Einheit Wie
diePresbyter die Gemeinde in sich repräsentiren, so musste sich in
ihnen selbst wieder das Bedürfniss herausstellen , dass Einer aus
ihrer Mitte die Stelle der Uebrigen vertrat und an die Spitze des
Ganzen sich stellte. Je mehr aber alles der Spitze sich zudrdngte
und sich in Einem Punkte koncentrirte, um so mehr musste zuletzt
die Einheit, in welcher alles zusammenlief, das absolute Ueberge-
wicht erhalten und alles Andere in das Verhaltniss der Unterord-
nung und Abhängigkeit zu sich setzen. Dazu kommt, dass an sich
jede Gemeinde, wie die Kirche überhaupt, zu welcher die einzelne
Gemeinde, als ein Glied des Einen Leibs, gehört, ihr Einheitsprincip
in Christus hat. Je lebendiger man sich der Beziehung bewusst
wurde, in welcher Christus, wie zur Kirche im Ganzen, so auch zu
jeder einzelnen Gemeinde steht, um so naher lag es, diese Be-
ziehung auf den Einen Herrn der Kirche auch äusserlich darzu-
stellen, durch einen an der Spitze der Gemeinden stehenden Re-
präsentanten, in welchem man gleichsam Christus selbst in seinem
950 Dritter Absclinitt. Das Chriftentham als absolutes Wel^nrineip.
Verhdltniss zur Gemeinde anschaute. Nicht ohne Grund hat man
daher schon in den Engfein, an welche die den sieben Gemeinden
der Apokalypse bestimmten Schreiben gerichtet sind , einen Aus-
druck der Episkopatsidee gesehen. In der Siebenzahl dieser Ge-
meinden stellt sich überhaupt die Kirche als eine aus verschiede-
nen einzelnen Gemeinden bestehende dar. Wie nun nach Apok. 1,
20 die sieben goldenen Leuchter sieben Gemeinden, die sieben
Sterne in der rechten Hand Christi sieben Engel sind, so gehört es
überhaupt zum Begriff einer Gemeinde, dass sie einen Engel hat,
und da nun die den sieben Engeln entsprechenden Sterne alle zu-
sammen in der Hand Christi sind, in ihm also ihre Einheit haben,
so kann durch den Engel, welchen jede Gemeinde hat, nichts an-
deres ausgedrückt sein, als die Beziehung, die sie mit Christus als
dem Einen Haupte aller Gemeinden und der ganzen Kirche ver-
knüpft Man kann sich das Yerhältniss Christi zu einer Gemeinde
nicht als ein lebendiges und inniges denken, wenn es nicht in einer
die Gemeinde in sich reprasentirenden konkreten persönlichen Em-
heit selbst als ein persönliches aufgefasst werden kann. Aus dem-
selben Einheitsinteresse, das jene Engel der Apokalypse zu ideel-
len Repräsentanten der Gemeinde machte, und in ihnen, in ihrer ver-
mittelnden Stellung zwischen Christus und der Gemeinde, dieses
Yerhältniss selbst zur Anschauung brachte, ging es hervor, dass
auch in der Wirklichkeit in der Person der Bischöfe solche Reprä-
sentanten dieses Verhältnisses an die Spitze der Gemeinden zu ste-
hen kamen. Wie sehr man überhaupt das Bedürfniss hatte, das
Yerhältniss Christi zu seiner Gemeinde auch persönlich vermittelt
zu sehen, erhellt wohl auch aus der Stellung, welche der aus der
Apostelgeschichte und dem Galaterbrief bekannte Jakobus zu der
jerusalemischen Gemeinde hatte. Wenn er als der Bruder des
Herrn der Vorsteher, oder, wie er wenigstens in den pseudocle-
mentinischen Schriften genannt wird, der Bischof der jerusale-
mischen Gemeinde war, und auf ihn Symeon in derselben Stelloog
auch aus dem Grunde, weil er ein leiblicher Verwandter Jesu war,
folgte 0? so spricht sich auch hierin sehr deutlich das Bestreben
aus, dem Bande, das die Gemeinde mit Christus verknüpft, eme so
viel möglich konkrete Realität zu geben. Es erklärt sich somit
1) Eus. K.Q. 3, 11.
Der Episkopat. D51
hieraus, wie der christlichen Anschauungsweise in dem Organis«
mus der Gemeinde immer noch etwas zu fehlen schien, wenn sie
nicht in dem, nicht sowohl die Gemeinde, als vielmehr Christus
selbst reprdsentirenden Bischof einen persönlichen Vermittler die-
ses Verhältnisses in der unmittelbaren Anschauung vor sich hatte.
Allein alles diess hätte doch nicht bewirkt, dass die ursprünglich
mit den Presbytern identischen Episkopen so entschieden aus die-*
sem Verhältniss heraustraten und ihnen und der Gemeinde gegen-
aber eine so zu sagen souveräne Stellung erhielten , wenn nicht
Verhaltnisse eingetreten wären, welche jenem Streben nach Einheit
erst seine volle Energie und eine sehr praktische Bedeutung gaben.
Es unterliegt keinem Zweifel , dass der Episkopat in der bestimm-
teren Form, zu welcher er sich im Laufe des zweiten Jahrhunderts
ausbildete, ein Gegengewicht gegen die Gefahr war , mit welcher
die immer mehr um sich greifenden und die Einheit des Ganzen auf-
lösenden Haresen die christliche Gemeinschaft bedrohten. Wie
die grosse Bewegung, welche durch die Gnosis entstand, die Idee
der katholischen Kirche zum Bewusstsein brachte, so hatte sie auch
die weitere nicht minder wichtige Folge, dass die Gegenwirkung,
die sie hervorrief, erst im Episkopat ihr bestimmtes Ziel finden
konnte. Der Episkopat war es, welcher nicht nur der excentrischen,
ins Vage sich verirrenden, der auflösenden und zersetzenden Ten-
denz der Haresen einen festen, zusammenhaltenden, alle verwand-
ten Elemente an sich ziehenden Mittelpunkt entgegensetzte, sondern
auch die christliche Anschauungsweise aus den transcendenten Re-
gionen der übersinnlichen Welt auf den Boden der geschichtlichen
Wirklichkeit und die Bedürfnisse der Gegenwart hinlenkte, und sich
über die Frage zu verständigen suchte, wie überhaupt eine christ-
liche Kirche sich gestalten könne, er war es, welcher die ekstatische
Ueberspannung des chiliastischen Glaubens so herabstimmte und
abkühlte, dass sie mehr und mehr einer verstandigen, das Prak-
tische ins Auge fassenden Besonnenheit wich, und das mit der Welt
zerfallene christliche Bewusstsein so weit mit ihr aussöhnte, dass
das Christenthum auf der breiten Basis einer katholischen Kirche
in die Bahn seiner geschichtlichen Entwicklung eintreten konnte.
. Den engen Zusammenhang, in welchem die häretischen Er-
scheinungen der nachapostolischen Zeit mit der Tendenz der sich
konstitoirenden und im Episkopat sich fixirenden und abscUiessen-
289 Dritter Absolmitt. Das Christenthnm all absolntea Wel^vrindp.
den Kirche stehen, sehen wir schon in den Pastoralbriefen des neu«
testamentiichen Kanon. Die Entstehung dieser Briefe fUIt in eine
Zeit, in welcher schon die in ihnen geschilderten Häretiker, welche
nach den sie charakterisirenden Hauptzügen nur fär die Gnostiker
des zweiten Jahrhunderts gehalten werden können, die öffentliche
Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich zogen. Die Bestreitung
dieser Häretiker ist der gemeinsame Hauptzweck der drei Briefa
Zum Widerstand gegen sie diente nichts mehr als das treue Festhalten
an der überlieferten Lehre und eine wohlgeordnete Verfassung der
Gemeinden unter tüchtigen Vorstehern. Sie enthalten daher eine Reihe
von Erinnerungen und Vorschriften, die sich hauptsächlich auf die
kirchliche Verfassung beziehen. Der zweite Brief an den Timo-
theus, der älteste der drei Briefe, kennt zwar schon das der Kirche
durch die Häretiker drohende Uebel in seiner ganzen Grösse, be-
schränkt sich aber auf unmittelbare an den Timotheus selbst ge-
richtete Aufforderungen, dem Uebel mit besten Kräften zu begeg-
nen. Man vergl. besonders 2, 14. f. 3, 1. f. und 4, 1. f., wo der
Hauptinhalt des Briefs zusammengefasst wird. Auf die Anordnung
allgemeinerer Einrichtungen in den christlichen Gemeinden lässt
sich dieser Brief nicht ein, nur aus der Ermahnung 2, 2 sieht eme
weiter sich erstreckende, auch die Zukunft ins Auge fassende Sorge
hervor. Der Brief an Titus dagegen beginnt sogleich mit allgemei-
nen Instructionen in Ansehung der ngeaßutego^ und des lnla»onog,
i, 5. und zwar aus Veranlassung der Häretiker, durch, welche aus-
drücklich diese Vorschriften motivirt werden, 1, 10. Wie schon
hier der Kreis dieser Vorschriften und Erinnerungen sehr weit ge-
zogen ist, und nicht blos die Vorsteher der Gemeinden, sondern
überhaupt alle zur christlichen Gemeinschaft gehörenden Glieder
umfasst, so ist diess noch mehr der Fall in dem ersten Brief an
Timotheus, in welchem auch gleich im Eingang die Häretiker mit
sehr bestimmten Zügen vorangestellt werden. Von den allgemein
menschlichen Verhältnissen aus wird 3, 1. f. der Uebergangauf die
kirchlichen gemacht, und in Hinsicht des iniaxonog V. 2. f. der Di-
akonen, V. 7 f., der nQBaßvtiQo^ V. 17 f. das Nöthige erinnert Vom
Episkopat im engem Sinn ist hier zwar noch nicht die Rede , aber
die Tendenz zu demselben ist doch auch schon hier sehr sichtbar,
und wir sehen nur um so mehr in die allmälige Gestaltung dieser
Verhältnisse hinein, wenn es hier zunächst nur das Allgemeine ist,
Der Episkopat 953
wodurch ersi die Verfassung der christtichen Gemeinden begründet
werden soll; wenn auch noch nicht an den Bischof im spatern
Sinn zu denken ist, so ist doch beachtenswerth, wie auch schon hier
der iniauonog in der Einheit Tit. 1, 7. 1 Tim. 3, 2. von der Mehr-
heit der Diakonen und der ngsaßun^ot unterschieden wird 0*
Die Haupturkunden für die Entwicklungsgeschichte der Epis-
kopatsidee sind die gleichfalls Pseudonymen Schriften , die unter
dem Namen des Ignatius, des Bischofs von Antiochien % und des
römischen Clemens auf uns gekommen sind, deren Zusammentref-
fen in diesem Punkte um so merkwürdiger ist, da beide ganz ver-
schiedene Bichtungen repräsentiren, Ignatius ein ebenso entschie-
dener Pauliner ist, wie dagegen Clemens unter dem Namen seines
1) Vgl. die Schrift über die Pastoralbriefe S. 8. f. 54 f.
3) Die yielbesprochene Frage über die Acchtheit der Ignatianischen
Briefe, deren Erwähnung hier an ihrer Stelle ist, hat in der neuesten Zeit
durch die Entdeckung einer syrischen Recension, welche nur die drei Briefe
an die Epheser, die Römer und an Polykarp enthält, eine neue Wendung
genommen, die in keinem Fall jenen Briefen zum grossen Yortheil gereicht.
Es gibt nun drei verschiedene Meinungen über diese Briefe. Während Die-
jenigen, welche diese Briefe als Urkunde eines apostolischen Vaters nicht
fallen lassen wollen, und doch an ihrer hierarchischen Tendenz imd An-
derem Anstofw nehmen, durch die Kürze des syrischen Textes sich voll«
kommen befriedigt sehen, wie namentUch Bussen, der Hauptvertreter dieser
Ansicht, Ritbqhl a. a, O. S. 577* Weiss im RsuTEB^schen Repert 1852*
SeptS,i69f.f steht dagegen in Andern der Glaube an dieAechtheit der sie-
ben griechischen Briefe so fest, dass sie sich auch durch alles, was zum Lob
der syrischen Recension gesagt wird, nicht irre machen lassen, wie nament-
lich Uhlhokn, das Verhältniss der kürzeren griechischen Recension der Ig*
natiaiiifichen Briefe sur syrischen Uebersetzung , in Niedneb*8 Zeitschr. für
bist. Theol. 1851. H. 1. Die dritte Klasse bilden diejenigen, welche diese
Briefe weder in der einen noch in der andern Form für acht halten kön-
nen« Diess ist meine Meinung, wie ich sie iheils in meiner Abhandlung
über den Ursprung des Episkopats, theils in meiner Schrift: die Ignatiani-
schen Briefe und ihr neuester Kritiker, 1848, zu begründen gesucht habe«
Für die Vertheidiger der syrischen Recension ist die Hauptfrage, was das
Wahncheinlichere ist, dass der syrische Text als Auszug den griechischen
TorauBsetzt, oder der griechische als interpolirt den syrischen. Dabei fragt
sich noch in Betreff des Hierarchischen, ob nicht der syrische Text bei aller
Kürze doch schon so viel vom griechischen enthält, dass er ein ex ungue
leonem ist Dariiber wird wohl noch lange gestritten werden, und die Ent-
scheidung kann für jeden zuletzt nur in der allgemeinen Anschauung lie«
gwi, die man gich ron jenen Zeitverbältniaaen bildet.
S&4 Dritter Absohnitt« Das Christenthum ab absolates Weltprinoip.
Apostels Petras zum strengsten Judaismus sich bekennt Mit dem-
selben Nachdrack, mit welchem beide vor Häresen und Spaltungen
warnen und die aus ihnen entstehende Gefahr vor Augen stellen,
dringen sie auf den Episkopat, als die souveräne, Gott und Chri-
stus in sich repräsentirende Macht der Kirche. Dass es für den
Einzelnen, wie für das Ganze, kein anderes Heil gebe, als in der
zum Bischof, zu Christus, zu Gott aufsteigenden Einheit, dass man,
sobald man von dieser Einheit lasse , allen Gefahren der Irrlehre
und Sünde, der traurigsten Getheiltheit und Zerrissenheit preisge-
geben sei, ist der beide auf gleiche Weise beseelende Grundge-
danke.
Uebereinstimmung mit dem Bischof ist die angelegentlichste,
immer wiederkehrende Ermahnung des falschen Ignatius. An den
Bischof allein muss man sich halten und ohne ihn nichts thun, wie
der Herr nichts ohne den Vater geüian hat, in der Einheit mit ihm.
Ist man dem Bischof ebenso unterthan, wie Christus, so lebt man
nicht nach menschlicher Weise, sondern nach der Weise Christi,
welcher für uns gestorben ist, damit wir im Glauben an seinen Tod
dem Tode entfliehen 0* ^^^ Gebot des Geistes ist es, nichts ohne
den Bischof zu thun, die Einigung zu lieben, die Spaltungen zu flie-
hen, Christus nachzuahmen, wie er den Vater nachahmt Insbe-
sondere kann nichts Kirchliches ohne den Bischof geschehen. Nor
die Eucharistie ist für gültig zu halten , die vom Bischof verrichtet
wird, oder mit seiner Genehmigung. Wo der Bischof ist, soll auch
die Gemeinde sein, wie da wo Christus ist, auch die katholische
Kirche ist Es ist nicht erlaubt, ohne den Bischof weder zu taufen,
noch eine Agape zu halten, sondern nur was er billigt, ist auch Gott
genehm, und nur so kann alles, was man thut, sicher und gültijf
sein. Wer den Bischof ehrt, wird von Gott geehrt, wer ohne Wis-
sen des Bischofs etwas thut; dient dem Teufel. Wer Gott und
Christus angehört, ist auch mit dem Bischof. Nicht genug sind die
selig zu preisen , welche mit dem Bischof so Eins sind, wie die
Kirche mit Christus, Christus mit dem Vater, damit alles in Einheit
zusammenstimmt Wer nicht innerhalb des Altars ist, entbehrt das
Brod Gottes. Wenn das Gebet von Einem oder zwei so viel ver-
mag, wie viel mehr das des Bischofs und der ganzen Gemeinde.
1) £p. ad Magn. o. 7« Trall. o. 3»
Pseudoignatius. 9&&
Darum darf man dem Bischof sich nicht widersetzen^ um Gott un-
terthan zu sein, muss auf den Bischof sehen, wie auf den Herrn
selbst, ihn ehren, wie Christus, den Sohn des Vaters 0« Der Bi-
schof wird daher geradezu der Stellvertreter Gottes genannt, der
n^ona&iif*iPOS *is vonow &i5, wer ihm gehorcht, gehorcht nicht
ihm, sondern dem Vater Jesu Christi, als dem inhuonog nävtwp.
Wer den Bischof tauscht, täuscht nicht den sichtbaren, sondern be-
trügt den unsichtbaren. Der sichtbare Bischof ist im Fleische (/y
aaQ9ti inhuonog) leiblich und sinnlich , was Gott oder Christus auf
unsichtbare geistige Vt^eise ist 0* Der Grundgedanke aller auf den
Episkopat sich beziehenden Stellen dieser Briefe wird daher rich-
tig so bestimmt: „Die Bischöfe sind die Repräsentanten und die
Organe der kirchlicHpn Einheit wesentlich insofern, als sie dem
specifischen Charakter des Episkopats gemäss die unmittelbaren
Repräsentanten, Bevollmächtigte und Organe Gottes und Christi
sind. In ihnen hat sich Christus, so zu sagen, vervielfältigt, in
ihnen hat er sich innerhalb des Bereichs der Christenheit eine sinn-
lich wahrnehmbare Allgegenwart gegeben. In allen Gemeinden
ist er es wesentlich, der durch das Organ des Bischofs handelt und
die Lebensbewegung leitet. An der Spitze jeder einzehien Ge-
meinde steht also wesentlich einer und derselbe, wenngleich mit-
telst individuell verschiedener Repräsentanten und Organe. Und
somit sind denn freilich alle einzelnen Gemeindea unter einander
zur durchgreifendsten Einheit verbunden, aber schlechthin nur un-
ter der Bedingung, dass jede sich organisch an ihren Bischof an-
schliesst'^ ^). Dieselbe Grundanschauung eines auf die Idee des
Episkopats gegründeten Systems der kirchlichen Verfassung ent-
halten die pseudoclementinischen Schriften. Wie in ihnen Mosais^
mus und Christenthum identificirt und aus einer UrofTenbarung und
Urreligion abgeleitet werden, so ist der Episkopat der Träger einer
Tradition, welche die Einheit der Kirche mit der Einheit des Men-
schengeschlechts verknüpft. Christus ist nicht nur der allwissende
wahre Prophet, sondern auch der Urmensch, welcher zur Offenba-
rung der Wahrheit wiederholt in den Patriarchen und in Moses er-
i) Philad. c. 3. 7. Smyrn. c. 8. 9. Eph. c. 5* 6. Trall. o. 3.
3) Magn. c. 6. 3* Epb. c. l.
S) Vergl. Boxss a. «. 0. S. 477.
8S6 Dritter Abschnitt. Das Christenthun ah absolutes Weltprineip.
schien. So hat er nun auch, als er zuletzt erschien, die zwölf Apo-
stel als Verkündiger seiner Worte und seinen Bruder Jacobus als
Bischof von Jerusalem eingesetzt, welcher wegen seiner leiblichen
Verwandtschaft mit dem Herrn das Vorrecht hat, dass alle Lehrer
von ihm beglaubigt werden müssen. Die Lehre des wahren Pro-
pheten, welche durch Jacobus und die Apostel fortgepflanzt wird,
ist sosehr der Mittelpunkt der Welt entwicklung, dass Petrus, als Ver-
treter derselben gegen den Magier Simon, mit diesem zusammen
unter die Syzygien gerechnet wird, welche von Anfang in der Welt
vorherbestimmt waren. Desshalb ist der Bischof, indem er durch
die Ordination zum Inhaber der wahren Glaubenslehre gemacht
wird, für seine Gemeinde der Stellvertreter Gottes und Christi, auf
welchen alle dem Bischof erwiesene Ehre un(f Unehre zurückgeht,
er ist also das Organ der Einen Wahrheit in seinem Kreise. Diese
Attribute legt Petrus dem Episkopat bei, als er den Zacchdus zum
Bischof von Casarea ordinirte 0- In den Homilien werden die
Grundsätze dieses Systems weiter so entwickelt^: Die Kirche wird
mit einem Schiff^ verglichen, das im heftigsten Sturm Menschen
aus den verschiedensten Gegenden tragt, dessen Herr Gott, dessen
Lenker Christus, dessen Vorruderer der Bischof, dessen Passagiere
die grosse Menge der Christen sind und das endlich zu dem er-
sehnten Hafen der ewigen Glückseligkeit hinführt. Vor allem ist
daher nothwendig, dass die Kirche eine wohlgeordnete Verfassung
hat Diess kann nur dadurch geschehen, dass Einer herrscht Denn
die Ursache der vielen Kriege liegt darin, dass es viele Könige
gibt, wenn nur Einer herrschte, so würde ewiger Friede auf Erden
sein. Desshalb hat Gott Einen zum Herrscher derer eingesetzt,
welche des ewigen Lebens gewürdigt werden, Christus. So ist
zwar Christus der Herr der Kirche, aber seine Stelle muss auch
sichtbar vertreten werden. Diess geschieht durch den Bischof.
Der Bischof nimmt die Stelle Christi ein (X^igS xonov mnlgivrw)^
wer sich gegen ihn vergeht, sündigt gegen Christus, die ihm er-
wiesene Ehre wird Christus erwiesen, er hat Macht, zu lösen and
zu binden. Von der Verbindung mit ihm hängt die Seligkeit ab,
durch ihn wird der Einzelne zu Christus und von Christus zu Gott
1) Vergl. Eecogii. 3, 61. Hom. 5, 60.
%) Brief des Clemens an Jacobus o, 14. Hom. S» 6)* ^»
Der römische Clemens. 957
geführt, wer daher dem Bischof Gehorsam beweist, wird die Selig-
keit erlangen, wer nicht, von Gott bestraft werden. Die Pflicht des
Bischofs ist dagegen, nicht tyrannisch zu befehlen, wie die Fürsten
der Heiden, sondern wie ein Vater die Beleidigten zu schützen,
wie ein Arzt die Kranken zu besuchen, wie ein Hirt seine Ge-
meinde zu bewachen, mit Einem Worte, für Aller Heil zu sorgen.
Mit irdischen Geschäften darf er sich nicht befassen, diese kommen
den Laien zu, seine ganze Sorge muss auf die himmlischen Dinge
gerichtet sein, er hat über dem Heil Aller zu wachen, ganz beson-
ders kommt ihm die Aufsicht über die Reinerhaltung der Lehre zu.
Wie an den Bischof die Presbyter und an diese die Diakonen sich
anschliessen, so ist der Mittelpunkt der ganzen Gemeinschaft der
Bischof von Jerusalem, als Oberbischof, imaxoTtog imaxonojv^
welchem daher vorzugsweise die Aufsicht über die Reinerhaltung
der Lehre in der ganzen Kirche zukommt, und dem selbst Petrus
bestandig von seiner Wirksamkeit Rechenschaft zu geben hat.
Vergleicht man die hier entwickelte Episkopatsidee mit der
Form, welche die Verfassung der christlichen Gemeinden noch in
dem Briefe des römischen Clemens an die Korinthier hat, so zeigt
sich der Abstand gross genug. Für einen Bischof im Sinne des
Fseudociemens und Pseudoignatius ist im Kreise jener Verhältnisse
noch keine Stelle, und so fern liegt noch die Episkopatsidee, dass
selbst Christus nicht inlanonog^ sondern nur nQogärrjg genannt
wird 0- Welches Zeitinteresse nun aber diese Idee gewönne hat,
beweist der so grosse Nachdruck, mit welchem auf sie und das
ganze an ihr hängende System der kirchlichen Verfassung ge-
drungen wird. Merkwürdig ist dabei noch besonders sowohl die
Uebereinstimmung, mit welcher die beiden sonst so verschie-
denen Hauptrichtungen in diesem Punkte zusammentreffen, als
auch die eigene Erscheinung, dass es Pseudonyme Schriften sind,
durchweiche auf den gemeinsamen Zweck hingewirkt wird. Es erhellt
auch daraus die Absichtlichkeit und das Interesse, womit man den
durch die Zeitverhältnisse vorgezeichneten Weg verfolgte. Eine
eigene Rolle spielt in dieser Pseudonymen Literatur der römische
Clemens, derselbe, welchem in seinem Briefe an die Korinthier die
Episkopatsidee noch so fremd ist. Wie der Apostel Petrus die
1) Clem. ad Cor. 1. c. 58*
Bftur, fU« drei «nten Jahrh. **
ms I>ritter Abschnitt. Das Christentham als absolates Wel^rincip.
dnaQxri des Herrn ist, der erste der Apostel, so ist Clemens die
unuQxn t(S¥ GfüCoftivcup /^»cüy, der erste der von Petrus, dem Hei-
denapostel, bekehrten Heiden. Als solcher und als der beständige
Begleiter des Apostels auf dessen Missionsreisen, als sein vertrau-
tester Schüler, der alle seine Reden gehört und von ihm die Ver-
waltung der Kirche gelernt hat, wird er von Petrus zum römischen
Bischof ordinirt und zu seinem Nachfolger in der Regierung der
durch die Missionsthätigkeit des Apostels über die heidnische Welt
sich erstreckenden christlichen Kirche eingesetzt In ihn ist alles,
was zur Regierung der Kirche dient, niedergelegt, seine Person ist
die Trägerin der ganzen kirchlichen Gesetzgebung, sein Name ist
einer ganzen Klasse darauf sich beziehender Schriften vorgesetzt.
Was ist hieraus anders zu schliessen als der judenchristliche Ur-
sprung der auf der Episkopatsidee beruhenden Verfassung der
christlichen Gemeinden? Sosehr es im Sinne der Judenchristen
war, dass die christliche Kirche durch die Bekehrung der Heiden
sich mehr und mehr erweiterte, so sehr waren sie zugleich darauf
bedacht, der christlichen Kirche durch eine auf die Idee der Theo-
kratie und das Princip strenger durchgreifender Einheit gebaute
Verfassung ihren ursprünglichen acht judenchristlichen Charakter
zu erhalten. Diess ist wenigstens die in den pseudoclementinischeft
Schriften klar ausgeprochene Tendenz. Wie das Heidenchristeu-
thum, als das Werk des Apostels Paulus, solange noch keine legi-
time Existenz hatte, als ihm die judenchristliche Auktorisation noch
fehlte, die es erst dadurch erhielt, dass Petrus als Heidenapostel
an die Stelle des Paulus gesetzt wurde , so sollte auch die ganze
Verfassung der Kirche als eine auf der Auktoritat des Apostels Pe-
trus und der jerusalemischen Urgemeinde beruhende Institution ge-
dacht werden. Nur in dem Verhältniss, in welchem dieses ursprüng-
liche Einheitsprincip festgehalten wird, kann nach der monarchischen
Grundanschauung der pseudoclementinischen Schriften der Charak-
ter der christlichen Kirche in seiner Reinheit erhalten und vor allen
unreinen, die Einheit gefährdenden heidnischen Einflüssen bewahrt
wjerden. Wenn auch diese Schriften, insbesondere die Homilieo,
nur die Farbe einer bestimmten Partei an sich tragen, so kann doch
am wenigsten das, was sie über die Verfassung der Kirche enthal-
ten, für etwas blos Partikuläres gehalten werden. Die in ihnen mit
so grossem Nachdruck geltend gemachte Episkopatsidee ist ja die-
Pgeudodemens tind pBeudoignatias. 859
selbe, welche in der katholischen Kirche sich geschichtlich ver-
wirklichte. Aus dem besonderen Interesse, das die in diesen Schrif-
ten reprfisentirte Partei für die Episkopatsidee hatte, folgt dem-
nach nur der judaistische Ursprung der durch diese Idee bedingten
kirchlichen Verfassung. Ist in dieser Beziehung das Streben nach
Einheit für diese Schriften so charakteristisch , so gehört ja diess
überhaupt zum ursprünglichen Charakter des Judaismus, oder ist es
nicht dieselbe, den Zusammenhang mit derUrgemeinde nie aus dem
Auge verlierende, die ganze christliche Gemeinschaft im Interesse
der Einheit und Rechtgläuhigkeit überwachende Tendenz, die uns
auch schon bei einem Hegesippus und selbst bei den Pseudoapo-
steln begegnet, mit welchen der Apostel Paulus in so vielfache
feindliche Berührung kam? Ueberall hat dieses Streben nach Ein-
heit zugleich eine antipaulinische Tendenz, die in den Homilien bis
zur aussersten Spitze sich steigert, nur in den Pastoralbriefen und
noch mehr in den Briefen des Ignatius sehen wir nun auch den
Faulinismus von demselben Einheitsinteresse durchdrungen. Eben
diess ist es, was den Pseudoignatius dem Pseudoclemens gegenüber
noch besonders merkwürdig macht. Als Pauliner tritt er für das-
selbe Interesse auf, dessen Hauptrepräsentant der petrinische Pseu-
doclemens ist. So sehr hatte sich also die Realisirung der Episko-
patsidee als ein in den Verhältnissen der Zeit begründetes Bedürf-
niss aufgedrungen, dass auch die Pauliner in der Anerkennung
desselben nicht zurückbleiben konnten, nur wollten sie jene Idee
licht unter demselben petrinischen Namen sich aneignen. Wie in
den Augen der Judenchristen, auch der römischen, welche in dem
römischen Clemens Rom mit Jerusalem verknüpften, alles an Jeru-
salem hing, so richteten dagegen die Pauliner ihren Blick auf An-
tiochien zurück, den ersten Sitz des paulinischeu Christenthums,
wo, wie auch die Apostelgeschichte Cl 1, 26) mit besonderer Emphase
hervorhebt, die Jünger zuerst im Unterschied von den Juden Chri-
sten iX^&q&aPot) genannt worden sein sollten, um dem petrinischen
Clemens, dem Träger der judenchristlichen Tradition, den gleich-
falls noch der apostolischen Zeit angehörenden Bischof Ignatius
gegenüberzustellen, und in den Banden seiner Gefangenschaft, sei-
ner Reise aus dem Orient in den Occident, unter Begleitung römi-
scher Soldaten, und in seinem römischen Märtyrertod, für die
Zwecke, um deren Erreichung es jetzt zu thun war, das Bild des
17»
MO Dritter Absclinitt. Dm Chrifitenthiim als abtolnies Welfprindp.
Apostels Paulus auPs Neue vor die Seele zu rufen 0. In jedem
Falle liegt dem Pseudoignatius dieselbe Fiktion zu Grunde wie dem
Pseudoclemens, und wir sehen auch hieraus, wie sehr es im Geiste
jener Zeit lag, Ideen, Grundsätze und Institutionen, die ein prak-
tisches Interesse gewonnen hatten, unter solchen Namen und auf
solchem Wege in das allgemeine Bewusstsein der Zeit einzu-*
führen.
Die höchste Idee des Episkopats, in welcher der falsche Cle-
mens und der falsche Ignatius am meisten zusammenstimmen, ist
der Bischof als Stellvertreter Gottes und Christi. Worauf beruht
aber diese Idee und wie wird sie begründet? Sie wird eigendich
nur als Behauptung aufgestellt, wenn in den Homilien (3, 66) von
dem Bischof gesagt wird, dass o nQoxa&eCdf^^ifog XgigS ronov m-
nlgivrat^ oder in den Briefen CMagn. c. 6) der inlanonog iig rottov
^e5 npoxad-fjfispog genannt wird. Auch das führt nicht weiter,
wenn gesagt wird CEph. c. 3) : Jesus Christus, unser unzertreifn-
liches Leben, ist der Wille des Vaters , wie auch die Bischöfe an
verschiedenen Orten aufgestellt {oi xard rd nigara ogia&epTig)
der Wille Gottes sind, wesswegen man mit dem Willen des Bi-
schofs zusammenhalten muss. Dieselbe substanzielle Einheit,
welche zwischen Christus und Gott stattfindet , wird auch als das
Verhältniss der Bischöfe zu Christus dargestellt, wie also Christas
der hypostasirte Wille Gottes ist, so sollen die Bischöfe der hypo-
stasirte Wille Christi sein. Es beruht diess nur auf der Voraus-
setzung, dass es wegen der Einheit Christi nothwendig ist, an sich
aber ist es ein Sprung, in dem Bischof unmittelbar den Stell-
vertreter Gottes und Christi anzuschauen, da die Bischöfe zonfichst
nur die Nachfolger der Apostel sind. Und wenn es ihre Hauptauf-
gabe ist, in der Reinheit der Lehre die Einheit der Kirche auf-
recht zu erhalten, und Häresen und Spaltungen abzuwehren, woher
anders haben sie die Lehre, deren Bewahrer sie sein sollen, als ans
der Hand der Apostel? Es ist daher*bemerkenswerth, dass die in
jenen Pseudonymen Schriften noch so unvermittelt hingestellte
Idee von den folgenden Kirchenlehrern nicht festgehalten wordon
ist, sondern sie hoben vielmehr gerade das hervor, was zwischen
Christus und den Bischöfen als das Vermittelnde dazwischenliegt
1) Vgl. die Abb. über den Ursprung des Episk. S. 179 f.
Die Idee des EpUkopati. S6l
Nicht Stellvertreter Gottes und Christi sind die Bischöfe bei Ire-
naus and Tertollian, sondern nur Nachfolger der Apostel, Trager
der von den Aposteln her überlieferten Lehre. Es istdiess schon ein
weiteres Moment in der Entwicklung der Episkopatsidee, und es
müssen daher zwei verschiedene Anschauungen unterschieden
werden. Ursprünglich ging die Episkopatsidee nicht aus der An-
schauung der Kirche überhaupt, sondern aus dem Kreise der ein-
zelnen Gemeinden hervor. Solange nur Presbyter in der Mehrheit
an der Spitze einer Gemeinde standen, schien es noch an einer alles
verknüpfenden und zusammenhaltenden Einheit zu fehlen. Da nun
Christus, was er für die Kirche im Ganzen ist, auch für jede ein-
zelne Gememde ist, so musste die ideelle Einheit, welche jede Ge-
meinde in Christus hat, auch eine reale werden. Diess geschah
dadurch, dass Einer an die Spitze einer Gemeinde zu stehen kam,
als Stellvertreter Christi. Man musste vor allem den Bischof als
solchen haben, um sodann in demjenigen, was alle zusammen wa-
ren, in ihrer Gesammtheit, die Einheit der Kirche im Ganzen anzu-
schauen. Um aber diese Einheit in sich darzustellen , mussten sie
selbst wieder ein reales Princip der Einheit in sich haben. Diess
konnte nur die Lehre sein , deren Träger sie waren. Die Einheit
der Lehre, in welcher sie alle übereinstimmten, verknüpfte sie selbst
zur realen konkreten Einheit eines engverbundenen Ganzen. Die
Lehre aber, deren Trager sie waren , hatten sie nicht unmittelbar
von Christus, sondern durch die Vermittlung der Apostel erhalten.
Sobald daher die Bischöfe nicht mehr blos die Einheitspunkte der
eudzelnen Gemeinden, sondern die Repräsentanten der Einheit der
Kirche überhaupt waren, konnten sie nicht als Stellvertreter Christi,
sondern nur als Nachfolger der Apostel gedacht werden. Der
Uebergang von dem Einen zu dem Andern zeigt sich schon in den
HomUien. Der Bischof ist ihnen zwar auch der Stellvertreter
Christi, zugleich aber auch der Bewahrer der von den Aposteln
übergebenen Wahrheit 0- ^^ die von den Aposteln her überlie-
ferte Wahrheit bewahrt werden muss, so lassen die Homilien das
Bischofsamt durch die Apostel eingesetzt werden , nur ist es blos
der Apostel Petrus, welcher überall, wo er Gemeinden stiftet, auch
1) Er ist der npona^i^oftsvoi r^s alf^siaSj der itQnaßvtrjQ r^c «^17-
^Biau £p. Giern« ad Jac. c. 2. 6« 17*
269 Dritter Abschnitt. Das Christenthnm als absolutes Wel^rinoip.
Bischöfe einsetzt. Bei den mit Irenfius beginnenden Kirchenleh-
rern ist nun die apostolische Soccession der Haoptbegriff des bi-
schöflichen Amts. Nach Irenaus und Tertullian sind die Bischöfe
wesentlich die Träger und Vermittler der apostolischen Ueberlie-
ferung. Die Einheit der Kirche stellt sich in ihnen darin dar, dass
sie alle in einer und derselben Lehre übereinstimmen. Man darf
daher nur der Succession der Bischöfe nachgehen, um auf die
principielle Einheit der Lehre zu kommen. Noch starker ist Cy-
prian, der Hauptreprasentant des kirchlichen und bischöflichen Be-
wusstseins seiner Zeit, von der Einheitsidee des Episkopats durch-
drungen. Kirche und Episkopat sind ihm dieselbe Einheit. Das
Princip des Episkopats ist nicht sowohl die apostolische Succession,
als vielmehr der den Bischöfen ertheilte heilige Geist In diesem
Geist hat der Episkopat das Princip seiner Einheit und es kann da-
her keine Meinungsverschiedenheit in denen sein, in welchen ein
und derselbe Geist ist 0* In der Vielheit der Bischöfe individuaU-
sirt sich der Eine Geist, jeder Bischof ist nur wieder dasselbe, was
jeder andere ist, in der Einheit des Episkopats sind alle zusam-
men Eins, sie sind ein solidarisch verbundenes Ganzes, in welchem
keiner für sich, sondern jeder Einzelne zugleich die Einheit und
Totalität des Ganzen in sich darstellt ^). Sind die Bischöfe das,
was sie sind, nicht jeder für sich, sondern alle nur in der Einheit
und Totalität des Ganzen, so ist auch keiner mehr oder weniger als
die Andern, es kann weder Einer dem Andern befehlen, noch darf
sich Einer vom Andern befehlen lassen, es darf sich zwar jeder als
Vertreter des Ganzen betrachten , aber sich nicht zu einem epis-
copus episcoporum aufwerfen. Gleichwohl erhält bei Cyprian das
Einheitsinteresse des Episkopats noch eine neue Bedeutung dadurch,
dass die Einheit, die alle zusammen darstellen, von einem bestimm-
ten Pimkte der Einheit ausgegangen sein sollte. Auch die übrigen
Apostel waren zwar dasselbe, was Petrus war , gleiche Genossen
der Ehre und Macht, aber der Anfang geht von der Einheit aus.
1) Ep. 73. 68.
2) Ep. 52: Cum sit a Christo una ecclesia per totum mundum in multa
membra divisa, item episcopatus unus multorum concordi numerositate dtf-
fusus. De Unit eccl. c. 3. ; episcopatus unus est, cujus a singulis in aoU-
dum pars tenetur.
Der römische Bischof und die cathedra Petri. ){63
damit die Kirche Christi als Eine erscheine. Dem Petrus hat der
Herr zuerst die potestas gegeben, unde unitatis originem instituit et
ostendit 0« Der hohe Vorzug, welchen Irenäus und Tertullian nur
der römischen Kirche ertheilen, wegen ihrer Stiftung durch die
beiden glorreichsten Apostel, geht schon bei Cyprian auf den rö*
mischen Bisöhof aber. Als die cathedra Petri ist die römische
Kirche die ecclesia principalis, unde unitas sacerdotalis exorta est.
Denselben Einheits- und Centralpunkt musste man auch in jedem,
der als Nachfolger des Apostels Petrus in der römischen Kirche auf
derselben cathedra sass, anschauen, und bald genug sprach sich
dieses Bewusstsein in den römischen Bischöfen aus *^. Es sind
schon hier die Prämissen gegeben , deren konsequente Folge das
Papstthum war. War Petrus der erste Bischof in Rom, so mussten
die römischen Bischöfe seine Nachfolger sein, somit auch densel-
ben Primat, wie er, haben. Zum Bischof in Rom aber machte man
den Petrus, weil er einmal in Rom gewesen sein sollte, und in Rom
sollte er gewesen sein, weil man es sich, besonders nach dem Vor-
gang des Apostels Paulus nicht anders denken konnte, als dass der
erste Apostel auch in der Welthauptstadt gewesen sei. Die poU-
tische Bedeutung der Stadt Rom ist der erste Anlass der Petrus-
sage, und da auf dieser Sage das Papstthum selbst beruht, so ist
der Ursprung des Papstthums einfach darin zu suchen, dass die Be-
deutung, welche Rom als die Hauptstadt der damaligen Welt hatte,
auch auf den Bischof der römischen Gemeinde überging. Freilich
gehörte dazu, dass es auch unter den Aposteln einen Apostelfürsten
gab, doch würde dieses Moment ohne jenes andere nicht so viel
ausgemacht haben, da man dem Apostel Petrus keinen ausschliess-
Kchen Primat zuschrieb, und den Ausspruch Christi nicht in diesem
Sinne nehmen zu müssen glaubte. Nur in Rom konnte es Bischö-
fen, welche Nachfolger des Apostels Petrus in seinem Primat zu
sein behaupteten, gelingen, den Primat der Kirche auch wirklich
zu erhalten.
1) De Unit. eccl. c. 4* £^p* 73.
i) Schon der Bischof Firmilian in Kappadocien heht in einem Briefe
an Cyprian (in den Briefen Cjrpr. Ep. 75) hervor, dass der römische Bischof
Btephanns sie de episcopatus soi loco gloriatur et se successionem Petri
tenete contendit
864 Dritter Abschnitt. Das Cbristenthum als absolutes Weltprinoip«
Blicken wir auf die Verhältnisse zurück, in welchen der erste
Anlass und Antrieb zur Entwicklung und Realisirung der Episko-
patsidee lag, so ist es unstreitig der Episkopat, in welchem erst
die christliche Kirche das Bewusstsein ihrer im Glauben an Chri-
stus begründeten Einheit und in diesem Bewusstsein die Macht emer
alle Häresen und Spaltungen überwindenden, über alles Partikuläre
übergreifenden, alles Extreme abschneidenden, alles Verwandte
einigenden katholischen Kirche und ebendamit auch den festen
Bestand einer geschichtlichen Existenz gewann. Was half es aber,
dass es eine in dieser bestimmten Form existirende und für ihr
künftiges Bestehen organisirte Kirche gab, wenn die Kirche die
Zukunft eines weiteren geschichtlichen Daseins gar nicht vor sich
hatte, wenn sie in ihrem Glauben an die Parusie jeden Augenblick
das Ende aller Dinge erwartete? Diess führt uns auf den Monta-
nismus zurück. Wie der Montanismus es ist, welcher der Kirche
den Gedanken an die in der nächsten Zukunft bevorstehende Ka-
tastrophe in seiner vollen Energie lebendig erhielt, so ist es der
Episkopat, welcher auch dem Montanismus gegenüber die Existenz
einer geschichtlichen Entwicklung erst möglich machte.
Der Streit zwischen den Montanisten und ihren Gegnern weist
auf einen tiefer eingreifenden Zwiespalt des christlichen Bewusst-
seins jener Zeit mit sich selbst hin. Wie die Gegner in den sitt-
lichen Forderungen der Montanisten einen unpraktischen Rigoris-
mus sahen, so theilten sie mit ihnen auch die Ansicht nicht, dass
das Ende der Welt schon so nahe sei und man nichts Angelegent-
licheres zu thun habe, als mit der Welt zu brechen, und sich für
die grosse Katastrophe gefasst zu halten. Da der Glaube an die
Parusie Christi bisher noch nicht in Erfüllung gegangen war, so
zogen sie hieraus den natürlichen Schluss, dass es wohl auch in
der nächsten Zeit noch nicht dazukomme, somit überhaupt das Ende
der Welt noch nicht so nahe bevorstehe. Je mehr man aber so aus
der unnatürlichen Spannung heraustrat, in welche die stete Erwar-
tung der Parusie das Bewusstsein der Christen versetzt hatte, um
so mehr musste diess auch seinen Einfluss auf das ganze praktische
Verhalten der Christen äussern. Man konnte nicht mehr in einem
so schroffen und abstossenden Gegensatz zu der Welt, in welcher
man lebte, stehen , sondern musste sich ihr mehr und mehr assi-
miliren. Da nun aber der Montanismus hierin nur eine immer wei-
Der Montanismas. S65
ter um sich greifende Verweltlichung des Christenthums sehen
konnte, so kann er selbst nur aus dem Gesichtspunkt einer Reaction
aufgefasst werden. In demselben Verhaltniss, in welchem allen,
welche zu der Partei der Montanisten gehörten , die herrschende
Sitte eine zu laxe zu werden schien, verschärften sie die ^ Praxis
des christlichen Lebens durch die sittlichen Forderungen, die sie
theils neu aufstellten , theils als längst bestehend geltend machten.
War einmal ein solcher Gegensatz der Ansichten und Parteien vor-
handen, so musste der äussere Konflikt, der nicht ausbleiben konnte,
um so starker werden, je mehr es Fälle gab, in welchen die Yer*
läugnung des christlichen Charakters gar zu offen am Tage lag.
Wie sollte es in solchen Fällen gehalten werden? Ihr eigentliches
Moment hatte jedoch diese Frage nicht darin, ob die, die in einem
solchen Falle waren, noch als Christen anzuerkennen seien, sondern
ob sie durch die vermöge der Schlüsselgewalt ihnen zu ertheilende
Sündenvergebung in die Gemeinschaft der Kirche wieder aufge-
nommen werden können. In diesem Punkte wurde die allgemeine
Differenz, welche die Montanisten von der katholischen Kirche
trennte, zu einer unmittelbar praktischen Frage. Während die
Montanisten allen, welche eine sogenannte Todsünde begangen
hatten, die Vergebung einer solchen Sünde schlechthin verweiger-
ten, weil sie als gegen Gott selbst begangen auch nurvon Gott ver-
geben werden könne, oder, da Gott der Geist ist, von der Kirche,
sofern sie der Geist ist, die aber in den neuen Propheten, oder durch
den Paraklet, sich dagegen erklärte, stellten ihre Gegner nicht nur
den Grundsatz auf, dass auch Todsünden vergeben werden können,
sondern schrieben auch sich selbst die Vollmacht zu, sie zu verge-
ben 0. Was nun aber dieser zunächst dogmatischen Streitfrage
ihr Hauptmoment für die Geschichte der am Episkopat sich ausbil-
denden Verfassung der christlichen Kirche gibt, ist, dass die Haupt-
gepier, welche hierin den Montanisten und namentlich den Prophe-
ten derselben, als den Organen des Paraklets,' gegenüberstanden,
dießischöfe waren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass gleich anfangs
inEleinasien Bischöfe an der Spitze derBewegung gegen die Mon-
tanisten standen. Das Hauptdatum aber, aus welchem sich uns die
Stellung der Bischöfe zur montanistischen Frage ergibt, ist die von
1) Tert« de pudic. c. 21.
866 Dritter Abschnitt. Das Christenthnm als absolutes Weltprindp.
Tertullian ^) bezeugte wichtige Thatsache , dass der römische Bi-
schof mit der öffentlichen Erklärung aufgetreten war, aUejeneVer-
gehungen, welche die Montanisten als die Todsünde des Ehebruchs
und der Hurerei bezeichneten, sollen nicht mehr absolut von der
Gemeinschaft der Kirche ausschliessen, sondern es solle denen, die
in einem solchen Falle waren, nach geschehener Bosse Vergebung
ertheilt werden 0* Tertullian spricht zwar nur in ironischem Ton
von diesem peremtorischen, d. h. dem Streit ein Ende machenden
Edikt, das der römische Bischof als ein pontifex maximus, oder epis-
copus episcoporum ^), erlassen habe, es muss jedoch eine sehr ent-
scheidende Bedeutung für den endlichen Ausgang des Streits ge-
habt haben. Hatten sich früher die römischen Bischöfe noch nicht
entschieden gegen die Montanisten erklärt , war man zu der Zeit,
als Praxeas nach Rom kam, wahrscheinlich unter Eleutheros, sogar
schon im Begriff gewesen, die kirchliche Gemeinschaft mit den
Montanisten anzuknüpfen, so hatte es jetzt um so mehr zu bedeu-
ten, wenn der römische Bischof CVictor vom J. 190—200 oder
Zephyrinus vom J. 200—215) jedem Zweifel über die Stellungder
römischen Kirche zum Montanismus durch das von Tertullian er-
wähnte Edikt ein Ende machte. So wenig war man also in Rom
mit den sittlichen Grundsätzen der Montanisten einverstanden. Dass
aber der römische Bischof in dieser Sache nicht allein stand, dass
dasselbe Interesse, das ihn leitete, ein gemeinsames der Bischöfe
war, gibt Tertullian selbst zu verstehen, wenn er seiner montani-
stischen Behauptung, die ecclesia sei Spiritus per spiritalem ho-
minem, die Antithese gegenüberstellt, non ecclesia numerus epis-
1) De pudic. c. 1.
2) £go et moechiae et fornicationis delieta poenitentia functis diinitto>
3) Ohne allen Grund und im Widerspruch mit dem ganzen geschicht-
lichen Zusammenhang des Montanismus will Gieselek K.G. 1, 1. S. 388
an den Bischof von Karthago denken. Dass die Benennung nicht auf eine
wirkliche, sondern eine angemassto Würde deutet, passt ja gerade auf den
römischen Bischof. Und wenn Tertullian nach Hieronymus Catal. o. 53
schon ehe er Montanist wurde, in einem gespamiten Yerhältniss zum rö-
mischen Klerus stand, so erklärt sich hieraus die Ironie des Ausdrucks noi
um so hesser. Welche Praxis in Betreff der Sündenvergehung " in Rom un-
ter Zephyrinus, welcher wahrscheinlich der von Tertullian gemeinte römische
Bischof ist, in Gang kam, darüber geben nun auch die Philosophumena
Orig. (S. 290 f. vgl. unten) neue Aufschlüsse,
Dor Montanismas nnd die Bischüfo. S67
coponim. Wenn also noch so viele Bischöfe den antimontanisti-
schen Grandsatz aufstellen , dass die Kirche auch solche Sünden
vergeben könne, so könne hier doch nur das Urtheil des Geistes,
wie es in einem geistigen Menschen sich ausspricht, die Entschei-
dung geben. Welches Interesse aber die Bischöfe dabei leitete,
ist aus dem entgegengesetzten der Montanisten zu sehen. Verwei-
gerten die Montanisten schlechthin die Vergebung der Todsünden,
am im Angesicht des nahen Endes der Welt die Zügel der kirch-
lichen Disciplin so straff als möglich anzuziehen, um so straffer, je
laxer sie schon in einem grossen Theil der christlichen Kirche jener
Zeit geworden waren, so können dagegen die Bischöfe, ihrer Welt-
anschauung zufolge, nur der Ansicht gewesen sein, dass es doch
noch an der Zeit sein möchte, sich für eine längere Dauer deszeit-
Uchen Bestehens der Kirche in der Welt einzurichten. Gerade da-
mals erhielt ja erst die Kirche in dem Episkopat eine für die Dauer
berechnete Organisation und die von den Bischöfen so bedeutungs-
voll aufgefasste Idee einer continua successio musste ihren Blick
ebenso vorwärts in die vor ihnen liegenden Zukunft der Kirche
richten, als sie sie rückwärts schauen hiess, zu den Aposteln zu-
rück, deren Nachfolger sie zu sein behaupteten. Betrachteten sich
die Bischöfe als die Träger der nicht schon in der nächsten Zeit
aus der Welt entschwindenden, sondern in der Welt bestehenden
Kirche, so mussten sie von selbst den Trieb in sich haben, aus der
christlichen Gemeinschaft alles zu beseitigen, was noch an die
Ueberspannung und Transcendenz des ursprünglich so schroff der
Welt gegenüberstehenden christlichen Bewusstseins mahnte und
nur zu leicht dazu dienen konnte, die Kirche der Bahn zu ent-
rücken, in welcher sie ihren geordneten Verlauf in der Welt neh-
men sollte. Die Kirche konnte nicht in der Welt bestehen, ohne
dass sie sich besser mit der Welt befreunden lernte, als diess
möglich' war, solange man jeden Augenblick den Untergang der
Welt vor sich sah. Man stelle sich nur vor, in welcher eigenthüm-
hchen Spannung des Bewusstseins die sein mussten, welche im
steten Gedanken an die Parusie Christi und die sie begleitende
Katastrophe wie zwischen Sein und Nichtsein schwebten? Wie
konnte eine aus solchen Gläubigen bestehende Gemeinschaft festen
Foss in der Welt fassen, wenn sie den Boden ihrer Existenz fort
und fort anter sich schwanken und schon in der nächsten Zeit die
888 Dritter Abschnitt. Das Christenthtim als absolutes Weltprinoip.
ganze sie umgebende Weltordnung in sich zusammenstürzen sah?
Und wenn in Gemassheit dieses Glaubens die sittlichen Forderungen
auf eine Weise gesteigert wurden, welche über das gewöhnliche
Haas der menschlichen Kraft hinausging, so fehlte es auch in
dieser Hinsicht an den Bedingungen eines dieser sinnlichen Ord-
nung der Dinge entsprechenden Daseins. Welche überspannte sitt-
liche Forderungen machten die Montanisten, wenn sie von den
sämmtlichen Mitgliedern der christlichen Gemeinschaft verlangten,
dass sie schlechthin von allen Vergebungen frei bleiben sollten,
die sie unter dem Namen der Todsünden begriffen? Es war diess
ein so unpraktischer Rigorismus, dass eine Gemeinschaft, welche
zu diesem Grundsatz sich bekannte, die zu ihrem Bestehen noth-
wendige sittliche Kraft in kurzer Zeit sich in sich selbst verzehren
lassen musste. Zwischen dieser Transcendenz einer nie sich realisi-
renden Idee und dem Boden der gegebenen empirischen Wirklich-
keit, auf welchem sie sich allein zur Realität einer bestehenden
Kirche verwirklichen konnte, lag als das erste vermittelnde Mo-
ment die in Hinsicht der Vergebung der Todsünden gemachte Kon-
cession. War es unmöglich, dass es gar keine Sünden gab, so
musste es doch wenigstens möglich sein, dass sie vergeben wurden.
Hiemit war zwar die reine Idealität der Kirche verschwunden, aber
die Idee der Kirche war praktisch geworden. Die Kirche bestand
so zwar nicht aus lauter Heiligen, die von jeder sogenannten Tod-
sünde völlig unberührt blieben, aber doch aus solchen, welche
die Kirche vermöge ihrer Schlüsselgewalt als wahre Glieder der
christlichen Gemeinschaft anerkennen keimte, und wenn die Kirche,
wie auch die Montanisten annahmen, das Recht hatte, die Sünden in
vergeben, warum sollte sie von demselben nicht auch Gebrauch
machen? Waren es nun vorzugsweise dieBischöfe, welche in der
Frage über die Zulässigkeit der Vergebung der Todsünden sich an
die Spitze der Bestreiter des Montanismus stellten, so gaben sie da-
durch einen für ihre Stellung sehr charakteristischen Beweis ihres
von aller Ueberspannung des ursprünglichen, nicht sowohl bei sich
als ausser sich seienden christlichen Bewusstseins zurückgekom-
menen christlichen Geistes, sie machten dadurch erst das geschicht-
liche Dasein der an dem Faden der continua successio der Bischöfe
sich entwickelnden christlichen Kirche möglich, und wenn es na-
mentlich der römische Bischof war, dessen Auktorität hierin den
Die römische Kirelie. 909
entscheidendsten Einfluss hatte, so ist es um so bemerkenswerther,
wie die römischen Bischöfe schon damals auf den Weg einlenkten,
auf welchem sie es in der Folge in der Theorie und Praxis nur zu
gut verstanden, die Kirche und die Welt Hand in Hand mit einan-
der gehen zu lassen. Die Verweltlichung des Christenthums, die
m der römischen Kirche, soweit es nur immer möglich war , sich
realisirte, sehen wir hier in ihren ersten unschuldigen, durch die
Natur der Sache selbst gerechtfertigten Anfängen. Es ist mit Einem
Worte schon jetzt ein Ablassprogramm für Sünden, welche der
Montanist nur als delicta moechiae et fomicationis bezeichnen
konnte, das an der Spitze der ganzen so berüchtigten Geschichte
der römischen Ablasser theilung steht, und Tertullian nennt schon
jetzt, wie wenn er die ganze geschichtliche Bedeutung jenes Edikts
des episcopus episcoporum richtig geahnt hätte, ein terrenum Dei
templum, in welchem die sponsa Christi als die vera, pudica, sancta
virgo eine solche liberalitas, die eher vor den januae libidinum
stehen sollte, auch nur als macula aurium über sich ergehen lassen
mnss, eine spelunca moechorum et fomicatorum 0-
1) Eine wichtige Urkunde, um das Vcrhältuiss der rSmischen Kirche
ran Montanismns rfickwürts Üher die Zeit Tertnllians hinaus zu verfolgen^
ist, wie RiTSCHL zuerst genauer nachgewiesen hat (a. a. 0. S. 546 £>), der
Hirte des Hermas. Das Hauptthema des Hirten ist. die Frage über die Ver-
gebung der 8ünden nach der Taufe. Eine zweite Busse nach der Taufe
wird gestattet, aber nur bis zu einer bestimmten Zeitgrenze , nur usque in
hodiemum diem, bis zu der praefinita dies. Poenitentiae enim justorum
habent fines. Impleti sunt dies poenitentiae omnibus sanctis, gentibus autem
(d. h, den noch nicht Getauften) usque in novissimo die (Vis. 2, 2J» Näher
bestimmt wird diese Grenze Vis. 3) 5. durch das Bild des die Kirche dar"
stellenden Thurmbau^s. Solange kann man Busse thun, dum aedificatur tur-
lis. Nam si oonsummata fnerit structura, jam quis non habet locum, ubi
ponator, erit reprobus« Vollendet aber wird dieser Bau alsbald (turris cito
consommabitur Vis« 3| 5). Die Vollendung des Thurmbau^s bezeichnet, wie
BiTSCHL sehr tre£fond zeigt, dieselbe Epoche der Kirche, welche durch den
Montanismus eintreten sollte. Darum erscheint die Kirche dem Hermas in
der enten Vision in der Gestalt einer alten Frau und tadelt ihn wegen einer
geheimen Begierde und wegen Hingebung an weltliche Geschäfte, in der
zweiten Vision erscheint sie mit jugendlichem Aussehen aber greisen Haa*
reo, in der dritten jung und heiter. Da sie in diesen beiden letztem Vi-
sionen die Aa£9chlÜ8ae über das Aufhören der zweiten Busse gibt, so ist
hieratia deutlich in sehen, dass das, was die Veijüngung der Kirche und di^
S70 Dritter Abschnitt. Dag Chridtenthum all absolutes Weltprincip.
Nachdem einmal die Möglichkeit der Sündenvergebung inner-
halb der Kirche, wie wir aus dem Edikt des römischen Bischofs
sehen, grundsatzlich ausgesprochen und ebendamit der grosse
Schritt geschehen war, die Kirche in eine Bahn hineinzuleiten , auf
welcher auch die sündhafte Beschaffenheit ihrer Hitglieder kein
Hinderniss ihrer fortgehenden Verwirklichung sein konnte, lässt
sich nun an einem Moment nach dem andern nachweisen , wie man
mehr und mehr alles das hinter sich zurückliess oder nur wesent-
lich modificirt in sich aufnahm, was in den Montanisten als die ur-
sprüngliche Form des christlichen Bewusstseins mit neuer Energie
sich geltend gemacht hatte. Alles diess hängt mit der durch den
Episkopat zur Entscheidung gekommenen Krisis des Zeitbewusst-
seins aufs Engste zusammen.
Von den extremitates temporum, den angustiae des naigog
avi^sgalfifpoQ^ die dem Tertullian so schwer auf dem Herzen lagen
und ihn so düster stimmten, ist schon bei dem so genau an ihn sich
anschliessenden Cyprian nicht mehr die Rede. Auch Cyprian ist
zwar überzeugt, dass die Welt nicht mehr lange dauern werde,
aber er sieht darin nur die allgemeine, in keiner Beziehung, weder
zum Glauben an die Parusie Christi, noch überhaupt zum Christen-
thum stehende Wahrheit, dass die Welt schon gealtert sei und ihre
frische Kraft verloren habe. In demselben Verhältniss, in welchem
man sich in dieser Beziehung mehr und mehr auf den Standpunkt
des allgemeinen Weltbewusstseins stellte, Hess man auch von der
Emeuernng des Geistes bewirkt baben soll, nichts Anderes ist, als eben die
gegen die in der ersten Vision geschilderte Verweltlichnng der Särebe ge-
richtete Anfhebung der zweiten Busse. Ritsciil weist noch weiter naeiii
wie sich der Hirte des Hermas auch zu dem die Verweltlichuug der Kirche
nnd die Wiederholung der Busse mit seiner AuktoritJlt yertretendea Kiens
in Opposition setzt, somit zwischen ihm und dem Klerus derselbe Gegen-
satz ist, wie zwischen den Montanisten und den Psychikem. Dieselbe Frage
also, welche im Montanismus in ihrer schroffsten Spitze hervortrat, bewegte
nnabhftngig von ihm auch die römische Kirche schon um die Mitte das
zweiten Jahrhunderts, in welcher Zeit Hermas lebte, nur in freierer und
milderer Weise, und es kann nur ein Missverstand Tertiilliaus sein, wenn er
den Hirten wegen seiner zweiten Busse einen apocryphus Pastor moechoium
nennt (de pudic. c. 20. vgl. c. 10). Wie alles diess auch im Hirten des
Hermas mit der Parusie und der Eschatologie zusammenhängt, zeigt die
yierte Vision mit ihrer figura tribulationis superrenturae magnae«
Cyprian. J|71
Strenge der praktischen Forderungen nach, welche man aus jener
überspannten Theorie abgeleitet hatte. Was bei Tertullian ein ka-
tegorisches Gebot des Paraklet war, dessen Uebertretung nur als
eine Todsünde angesehen werden konnte, das castrare desideria
camis, ist bei Cyprian schon so ermässigt, dass es nur in der Form
der Empfehlung und des Raths dem sittlichen Bewusstsein des
Christen vorgehalten wird 0* Befolgt er ihn, so ist es verdienstlich,
und er erwirbt "ilich dadurch Anspruch auf eine höhere Belohnung,
befolgt er ihn nicht, so schadet es ihm wenigstens nichts an seiner
sonstigen sittlichen Vollkommenheit. Ganz besonders aber zeigt
sich am Chiliasmus, wie sehr man von der schwärmerischen Rich-
tung zurückkam , die die Phantasie der Montanisten in so hohem
Grade aufgeregt hatte. Die Antipathie gegen ihn wurde immer all-
gemeiner, ja man hatte jetzt sogar das lebhafte Interesse, ihn zu
bestreiten und ihm das Princip seiner Berechtigung abzusprechen.
Dass diess nicht blos in der alexandrinischen Kirche, welche stets
eine Gegnerin des Clüliasmus war, sondern hauptsachlich auch in
der römischen geschah und zwar um dieselbe Zeit, in welcher es
in ihr zum völligen Bruch mit dem Montanismus kam, ist gleichfalls
charakteristisch für diesen Wendepunkt der geschichtlichen Ent-
wicklung. Wenn auch der römische Presbyter Cajus, emer der
Hauptrepräsentanten dieser Richtung, nicht soweit ging, dass er die
johanneische Apokalypse für ein Werk des Häretikers Gerinth er-
klärte , so bestritt er doch an Gerinth nur um so mehr den sinn-
lichen Chiliasmus des Judenthums 0« Er 8^^^ jetzt als der Inbegriff
alles dessen, was man hinter sich zu lassen hatte , um über alles,
was dem Christenthum vom Judenthum her noch anhing, vollends
kiawegzukommen. In dieser Beziehung konnte man nur fallen
lassen, was seinen Haltpunkt im Bewusstsein der Zeit verloren hatte,
Anderes dagegen war, wenn auch in anderer Form, festzuhalten.
Wie man die sittlichen und ascetischen Forderungen der Monta^
nisten nicht aufgab, sondern nur der katholischen Kirche anpasste^
so konnte man noch weniger das Offenbarungsprincip des Monta-
nismus, den heiligen Geist, als ein ausschliesslich montanistisches
Princip betrachten. Dass Geist und Kirche wesentlich zusammen
i) Cyprian ad Demetr.
2) EusEBiua K.G. 3, 28. Vergl. Theol. Jahrb. 1853. B. 157 f.
X78 t)ritter Abschnitt. Das Christenthum als absolutes Weliprincip,
gehören, die Kirche in dem Geist die Wahrheit ihres Wesens, und
der Geist in der Kirche die Wirklichkeit seines Daseins habe, war
die gemeinsame Voraussetzung, woran man aber von katholischer
Seite den grössten Anstoss nahm, war das Vage, Willkürliche, Zu-
fällige der montanistischen Prophetie, dass sie etwas Neues einfuh-
ren, und in den einzelnen Individuen, die sie zu ihren Organea
machte, ein neues Glaubensprincip aufstellen wollte. In diesem
Sinne nannte man es den Aberwitz der Montanisten, wenn maa
seine eigene Denkweise als die katholische geltend machen wollte
und zog aus ihrer Lehre die sie als Harese bezeichnende Konse-
quenz, dass wenn sie erst den von Christus verheissenen Paraklet
empfangen zu haben glauben, sie ebendamit den Besitz desselben
den Aposteln absprechen 0* Der Stellung der katholischen Kirche
zum Montanismus war es daher ganz analog, dass nun auch die
Wirksamkeit des heiligen Geistes, welcher in dem Paraklet der
Montanisten noch in dem freien Spielraum der Subjectivitat der die
Gabe der Prophetie besitzenden einzelnen Individuen sich bewegte,
katholisch fixirt und regulirt wurde. Wie die Schlüssel der Gewalt
zu lösen und zu binden, welche die Propheten der Montanisten für
sich in Anspruch genommen hatten, ausschliesslich in die Hände
der Bischöfe kamen, so waren sie jetzt auch die allein anerkanntet
Organe des heiligen Geistes und dem Princip der Individualität, auf
welchem die montanistische Prophetie beruhte, wurde der Gmnil-
satz entgegengestellt, dass der heilige Geist als das in der Kirche
waltende Princip nur in der Gesammtheit ihrer Vertreter sich aus-
spreche und diese selbst um so gewisser von ihm sich inspirirt
glauben dürfen, je unzweifelhafter sie das Bewusstsein der Reprä-
sentation der Kirche in sich haben. So wurde, was in den Offen-
barungen des montanistischen Paraklets noch einen so vagen und
unsichern Verlauf hatte, in den geordneten und regelmässigen
Gang der die Kirche repräsentirende^ Koncilien hinübergeleitet,
und die Kontinuität mit dem in den Aposteln wirkenden Geist, die
in dem Paraklet der Montanisten ein so schwaches und so leickt
sich auflösendes Band zu sein schien, durch das Dogma festgestellt,
dass die Beschlüsse der Koncilien nur der für das allgemeine Be-
wusstsein ausgesprochene Inhalt der der Kirche immanenten apo-
i) Vergl. ScEHYBOLEB Mont S. S^25* 38*
Die Bischöfe die Organe des Geistes« 973
Stolischen Tradition seien. Mit dieser Form der Offenbarung des
Geistes war die der montanistischen Prophetie eigene Ekstase von
selbst ausgeschlossen. Nur das individuelle Bewusstsein kann
durch die Einwirkung des Geistes in der Ekstase so ausser sich ge-
rathen, dass es seiner selbst nicht mächtig ist, spricht sich aber der
Geist in dem Gesammtbewusstsein einer Mehrheit einzelner Sub-
jekte aus, so lässt sich nicht denken, wie das Gemeinsame, das als
der Ausspruch des Geistes gelten soll , anders zu Stande kommen
kann, als auf dem Wege der die gemeinsame Berathung leitenden
Reflexion. Nach TertuUian kann es gar nicht anders sein, als dass
der Einzelne, wenn er vom Geist ergriffen wird, ausser sich ist,
er trägt daher kein Bedenken, das Wesen der Prophetie geradezu
in die Bewusstiosigkeit, oder amentia, zu setzen *). Da sie aber
ihren Grund nur in dem Verhältniss hat, in welchem der Einzelne
in seinem Fürsichsein zu dem Geiste steht, sofern er sich zu dem-
selben nur passiv verhalten kann und ihn so in sich wirken lassen
muss, dass er selbst dem Mittelpunkt seines Bewusstseikis entrückt
und in den Zustand des Aussersichseins versetzt wird, so folgt dar-
aus von selbst, dass das Verhältniss des Geistes zu dem Bewusst-
sein einer Mehrheit von Individuen, wie es sich in den auf Konci-
lien versammelten Bischöfen darstellt, nicht denselben Charakter
der Aeusserlichkeit und Zufälligkeit an sich tragen kann. In dem-
selben Verhältniss, in welchem jene Inadäquatheit in dem unend-
lichen Umfang der von dem Geist inspirirten Subjekte sich aufhebt,
kann er auch nur als das ihrer Gesammtheit immanente substanzielle
Princip gedacht werden. Es ist daher ganz in der Natur der Sache
selbst begründet, dass die ekstatische Prophetie der Montanisten
nicht mehr an ihrer Stelle war, sobald als die eigentiichen Organe
des Geistes nicht mehr die Individuen in der Zufälligkeit ihres Für-
sichseins, sondern die Bischöfe in der geregelten Form der Reprä-
sentation der Kirche betrachtet wurden, und der Gegensatz des
Episkopats zum Montanismus bezeichnet auch in dieser Beziehung
den Uebergang aus der Unstetigkeit des Zustandes, in welchem die
Christen der ältesten Zeit sich befanden , in den festen, geordneten
Bestand der katholischen Kirche. Gehen wir aber weiter zurück,
80 kann die eigentliche Ursache der ekstatischen Prophetie derMon-
}) De anima c. 11.
&aur> ditt drti «raton Jfthrh. ^^
j^4 Dritter Abschnitt t>tA ChriBtentliiun als absolutes Wel^rrincip.
tanisten in letzter Beziehung nur in jener Transcendenz der Weltr
anschauung erkannt werden , welche die eigenthümliche Bewusst-
seinsform der ältesten Christen war, solange sie im Glauben an die
Nähe der Parusie Christi nur noch mit dem einen Fussin der jetzi-
gen, mit dem andern aber schon in der künftigen Welt standen.
Ein solcher Zustand ist an sich nicht ein Beisichsein, sondern ein
Aussersichsein des Bewusstseins, die Ekstase ist seine charakte-
ristische Form. Daher kann es kein deutlicheres Kriterium der
jetzt erfolgenden allgemeinen Krisis geben als die bestimmte Er-
klärung, dass die Ekstase überhaupt weder für den prophetischen
Geist noch für das christliche Bewusstsein sich eigne 0* Seitdem
wird es zur orthodoxen Vorstellung, dass schon die Propheten des
A. T. nicht in bewusstloser Ekstase, sondern mit Bewusstsein und
Verstand geweissagt haben, die Ekstase gilt als ein unwürdiger, das
dämonische Heidenthum charakterisirender Zustand, während da-
gegen das Beisichsein des inspirirten Subjekts als eine wesentliche
Bestimmung einer auf dem Standpunkt des christlichen Bewusstseins
stehenden Inspirationstheorie betrachtet wird. Das christliche Be-
wusstsein fühlt sich jetzt, nachdem es festem Fuss in der bestehen-
den Welt gefasst hat, und in dem zur katholischen Kirche sich ge-
staltenden Christenthum eine neu sich entwickelnde Ordnung der
Dinge begründet sieht, stark genug, auch den Einwirkungen des
göttlichen Geistes gegenüber bei sich zu bleiben, und das Bewusst-
sein seines eigenen Selbsts festzuhalten 0*
Es erhellt aus dem Bisherigen, welche Wichtigkeit der Epis-
kopat für die Gestaltung und Entwicklung der Kirche hat Durch
1) So schrieb schon unter den kleinasiatischen (Gegnern der Montani-
sten Miltiades eine Schrift unter dem Titel: nt^l th fitj Stlv ngotp^ttfv if
iKcdati ?<.aX6tr. Eusehius E.G. 5, 17. Vgl. Schwegler a. a. O. S. 2S7*
2) Bemerkenswerth ist, dass auch die pseudoclementinisohen HomiKeDt
so hoch sie die Prophetie stellen, gegen die Zulässigkeit der Ekstase in
göttlichen Dingen sich erklären. In demselben Interesse, wie die katho-
lische Kirche, betrachten auch sie die Ekstase als ein Element, das weder
mit einer geordneten Verfassung der Kirche, wie eine solche im Episkopal-
system besteht, noch auch mit einer hohem Entwicklungsstufe des chritt-
Ivchea Bewusstseins sich verträgt Ausdrücklich stellen sie der dämoaisek
täuschenden Ekstase das immanente Bewusstsein des t/ttpvrop ual airwMtv
iTvsvurt entgegen, das nicht blos die Propheten, sondern überhaupt alle
Frommen in sich haben. Vgl. oben S. 210.
Die Bischöfe die Organe des Geistes* 87tt
den Episkopat erhielt sie ihre bestimmte Form, in den Bischöfen erst
hatte man Subjecte, auf welche man sich alles übergegangen den-
ken konnte, was Christus selbst den Aposteln als ihren höchsten
Vorzug ertheilt hatte, in ihrer Person concentrirte sich und stellte
sich dar, was die Kirche im Ganzen wesentlich und ihrem eigent-
lichen Princip nach war. Was der heilige Geist für die Christen
überhaupt ist, als das Princip des christlichen Bewusstseins, als der
sie beseelende eigenthümliche Geist, welcher sie zu ä^io^ in der-
selben Weise macht, wie Christus selbst, als der mit dem heiligen
Geist, dem Princip der Hessianität, Begabte oder Gesalbte, schlecht-
hin der ä/iog ist, als das in der christlichen Gemeinschaft wirkende
Princip, das überall, wo es das christliche Interesse erfordert, mit
seiner göttlichen Macht eingreift, ist er imhöchsten und intensivsten
Sinne in den Bischöfen. Sie sind vorzugsweise die Träger und In-
haber des der Kirche immanenten göttlichen Geistes, und wie
Christus den Aposteln mit der Ertheilung seines Geistes auch die
Yollniacht der Vergebung der Sünden verliehen hat, so ist auch bei
den Bischöfen dieses Recht, als die höchste der Kirche verliehene
Gewah, an den Besitz des Geistes geknüpft. Durch die successio
apostolica und die vicaria ordinatio geht auch dieselbe potestas von
den Aposteln auf die Bischöfe und von einem Bischof auf einen an-
dern über, und wie Christus den Aposteln mit der Vollmacht der
Sündenvergebung das Höchste, was er zurücklassen konnte, ver**
liehen hat, so kommen dem Amte der Bischöfe mit dem Recht der
Schlüsselgewalt die höchsten Attribute zu 0* Da in ihnen, als den-
I) Man vgl. Gyprian £p. 75» wo der Bischof Firmilian nach Anfüh-
rung der SteUe Joh. SO» 21 sagt: potestas ergo remittendorum pecoatomm
iqpoatolia data est, et ecclefliis, qnas illi a Christo missi constituerunt , et
fpiBCopia, qiii eis ordinatione yicaria successerunt. Das ursprüngliche Becht
te Gkmeinden ist hier noch nicht ganz vergessen, denn nur durch die Ver«
■ittinng der von den Aposteln gestifteten Gemeinden haben die Bischöfe
das apostolische Recht. Was die SteUe Joh. 20^ 21 betrifft, so werden die,
welche das joh. Evangelium nur för nachapostolisch halten können, sich
kioht übersengen können, dass es auch zu dieser Zeitirage eine analoge
lleUimg htAy wie zur Passahfrage. In der Bezeichnung des heiligen Geistes
als des Paraklets trifft das Evangelium mit den Montanisten zusammen, die
y)stol lache Vermacht zu lösen und zu hinden wird in demselben Sinne,
in welchem zwischen den Montanisten und ihren Gegnern fiher dieses Recht
gestritten wurde, in diui Becht der Vergebung der Bünden gesetzt und durch
18»
y76 Dritter Abschnitt. Das Christenthiim «Is abflolates We%rinoip.
#
jenigen, in welchen die ganze Gewalt der Kirche sich concentrirt,
'ihre Spitze und lebendige Einheit hat, die Kirche sich ihrer selbst
erst bewusst ist, sie also das Bewusstsein der Kirche selbst sind, so
muss es sich in ihnen auch in einer bestimmten Form aussprechen.
Diese Form ist ebendadurch bedingt, dass jeder Bischof zwar das-
selbe ist, was alle Andern sind, aber ebenso auch das, was er ist,
nicht für sich ist, sondern nur mit allen zusammen. Daher kann
sich auch das kirchliche Bewusstsein, dessen Repräsentanten die
Bischöfe sind, nicht in dem einzelnen Bischof für sich, sondern nur
in einer grossem oder geringern Hehrheit versammelter Bischöfe
aussprechen; und es konnte somit nicht anders sein, als dass es
schon mit dem Anfang der bischöflichen Verfassung auch Synoden
gab. Man sah sich nicht nur veranlasst, so oft Fragen entstanden,
die em gemeinsames Interesse hatten und ein gemeinsames Han-
deln erforderten, sich zu besprechen und Beschlässe zu fassen, wie
diess zuerst aus Veranlassung der Montanisten und der Fassahfra-
gen geschah, sondern es wurde auch schon sehr früh gewöhnlich,
regelmässige Versammlungen dieser Art zu halten, welche, wie
sie selbst schon aus dem kirchlichenSelbstbewusstsein der Bischöfe
hervorgingen, so auch am meisten dazu dienen mussten, das Stan-
desbewusstsein der Bischöfe zu verstarken und den Synoden den
Charakter einer allgemeinen kirchlichen Repräsentation zu ge-
ben 0* Dsi es zum Wesen einer solchen Repräsentation gehörti
dasselbe Princip begründet, auf welchem bei den Montanisten aUes beruhtOi
das nvsvfia aytov, Yon welchem weder Matth. 16, 19 noch 18i 18 die Bede
ist. Und wie das Evangelium in der Passahfrage sich auf die Seite derer
stellte, deren Ansicht sich als die katholische geltend machte, so ist eis aach
hier. Wenn es die Ertheilung des Geistes an die Jünger durch den Aiu-
Spruch Jesu motivirt 30,21: »wie mich der Vater gesendet hat, so sende ieb
euch,'' so ist damit auch der Begriff der apostolischen Succession und dtf
Grundsatz ausgesprochen, dass es auch immer Nachfolger der Apostel gl*
ben müsse, die das gleiche Recht der Vergebung der Sünden haben. Es lit
auffallend, dass die Stelle Joh. 20, 21 zwar von Cyprian und Firmilian, ESp*
73 und 75| nicht aber von Tertullian citirt wird. Auch Cyprian sag^ in Be-
ziehung auf jene Stelle : unde intelligimns, nonnisi in ecclesia praepositis ^
in evangelica lege ao dominica ordinatione fundatis licere baptizare, et
remissam peccatorum dare. Auch ihm schien also das in der Stelle voa
den Aposteln Gesagte ebenso auch von den Bischöfen und nur von ihnen «i
gelten. Diess aber konnte Tertullian nicht zugeben.
1) Vergl. Tert. de jej. c 13: Aguntur per Graecias illa.oertis in lodl
Die Synoden. j|77
dass sie eine um so g^rössere Bedeutung hat, je grösser die Zahl
der sie bildenden Mitglieder ist, so hatte die Synodalverfassung,
noch ehe die Episkopalverfassung die Stufe der Metropolitenwürde
flberschritt, ihren nächsten Zielpunkt schon mit der ersten allge-
meinen Synode erreicht, die als eine ökumenische die Gesammtheit
der Bischöfe des römischen Reichs in sich darstellte. Und wenn
schon jeder Bischof sich vorzugsweise als ein Organ des heiligen
Geistes betrachten konnte, und was von dem Einzelnen galt, um so
mehr von Hehreren gelten musste, so kam auch in dieser Bezie-
hung das der kirchlichen Verfassung zu Grunde liegende Principaüf
den ökumenischen Synoden zu seiner vollen äusseren Erscheinung.
Wie der Apostelgeschichte zufolge schon die von den Aposteln zu
Jerusalem gehaltene Versammlung ihren Beschluss im Namen des
heiligen Geistes erliess CApg. 15,28), und in der Folge auch Pro-
yincialsynoden derselben Formel sich bedienten 0? so mussten um
80 mehr die auf einer ökumenischen Synode versammelten Bischöfe
m ihrer Gesammtheit dafür gelten, dass durch sie unter der Ein-
wirkung des heiligen Geistes der Wille Gottes sich offenbare 0*
Das System, dessen Grundzüge hier entwickelt sind, enthält schon
in seinen ersten, aus den gegebenen Verhältnissen sehr natürlich her-
vorgegangenen Anfängen die Elemente der umfassendsten und durch-
greifendsten Hierarchie. Das Grossartige desselben ist die Einfachheit
der Formen, auf welchen es beruht. Die Grundform ist das Verhält-
Biss des Bischofs zu der Gemeinde, an deren Spitze er steht. Diese
Form bleibt immer dieselbe, wie auch das System sich entwickeln,
erweitem und modificiren mag. Der Bischof der kleinsten Gemeinde
ist wesentlich dasselbe, was der Papst auf der höchsten Stufe des
Qoncilia ex universis ecolesiis, per quae et altiora quaeque in commune trac-
tntor, et ipsa repraesentatio totius nominis christiani ma^a veneratione ce-
lebrator. Vgl. C3rpr. £p. 75, woFirmilian sagt: necessario apud nos fit, ut
per singulos annos seniores et presbyteri in unnm conveniamus ad dispo-
Benda ea, qnae curae nostrae commissa sunt, ut, si qua graviora, communi
eensilio dirigantnr.
1) Wie die zu Karthago im J. 252 unter Cyprian, vgl. Opp. Cypr.
2) Man vergl. Sokrates K.G. 1, 9) wo Konstantin in seinem Schreiben
an die alexandrinische Kirche von der nicänischen Synode sagt: o" yag
TOiS T^taxoaioie TJgeaev in$aKC7T0te, sdiv ieiv srtQOV y rS &S8 yvotfiij^ fid-
Xigd ya Sna ro ayiov itvsvfia, TOiavouv utal TTjXixsrmv dv^QOiv ra/ff dtavoi^
at9 iytuifuvov, r^v Otiap fialfiaw üaiptiTiatv,
jn'S Dritter Abschnitt. Das Christenthnm als absolutes Weltprindp.
Ptpstthums ist Auf allen Stufen dieses hierarchischen Systems
wiederholt sich nur dieselbe Grundform, deren gTrössteEigenthüm«
Uchkeit ebendarin besteht, dass sie einer unendlichen Ausdeiiiiuig
fähig ist. Indem der Episkopat zwar qualitativ immer derselbe ist|
quantitativ aber sehr verschieden sein kann , das Verhältniss der
Gleichheit auch wieder ein Verhältniss der Unterordnung ist, das
durch eine Reihe von Stufen und Mittelgliedern von unten nach oben
hinaufsteigt, wird er dadurch zu einer Form, welche sich nichtblos
auf das weiteste Gebiet erstreckt, sondern auch die Möglichkdt
eines sehr gegliederten Organismus in sich schliesst Dieser Un-
terschied eines durch Unterordnung aufsteigenden und verschieden
sich gestaltenden Systems gehört zum Begriff der Hierarchie. Bi
gibt keine Hierarchie, in welcher alles einander gleich ist Der
Bischof muss mehr sein als der Presbyter und der Diakonus, und
der Presbyter mehr als der Diakonus? und der Unterschied dieser
drei Stufen ist der bestimmende Typus für das ganze System , wie
viele Stufen es auch sein mögen, durch welche es zu seiner Höhe
hinaufsteigt Auf der einen Seite hat das System die Tendenz, in
dem Nebeneinandersein der Bischöfe, von welchen jeder vneder
dasselbe ist, was alle andern sind, sich die breitesteBasis zu geben,
auf der andern strebt es, da unter den Bischöfen auch wieder ein
Unterschied ist, ebenso sehr sich in seiner Spitze zusammenzufasiffi
und in einer höchsten Einheit sich abzuschliessen. Wie die Unter-
ordnung charakteristisch für dieses kirchliche System ist, so ist es
nicht minder das Princip dieser Unterordnung, es ist nicht blos ein
hierarchisches, sondern auch ein theokratisches System, und die$&t
theokratische Charakter gehört gleichfalls wesentlich zu der ein-
fachen Grundform, auf welcher es beruht Die Unterordnung,
welche das System fordert, ist eine absolute Forderung, sie hat
denselben Charakter einer innem Nothwendigkeit, wie die Unter-
ordnung, vermöge welcher das Menschliche sich dem Göttlichen
unterordnen muss. Die Grundanschauung des Bischofs ist es ja«
dass er der Stellvertreter Gottes und Christi ist, das Organ, in wel-
chem der heilige Geist, als das immanente Princip der kirchlichen
Gemeinschaft, vorzugsweise sich ausspricht Alles beruht auf gött-
licher Auktoritat In dem Verhältniss, in welchem der Bischof zn
seiner Gemeinde steht, wird dasselbe Verhältniss angeschaut, das
zwischen Christus und der Kirche stattfindet Dieses YerhiUniss
Die Hierarchie. 279
setzt auf der einen Seite eine unbedingte Unterordnung, sofern alles
schlechthin von der Einheit ausgeht : wie Ein Gott und Ein Christus
ist, so kann es auch nur Eine Kirche und Einen Episkopat geben,
und es muss alles dieser Einheit schlechthin sich unterordnen. Auf
der andern Seite ist es aber auch wieder einVerhältniss der Pietät,
und es verknüpfen sich mit ihm alle Pietätsgefühle, welche das re-
ligiöse Verhältniss des Menschen zu Gott und Christus in sich
schliesst Der Bischof soll der geistige Vater seiner Gemeinde sein
und die Glieder «eiuer Gemeinde sollen mit kindlichem Vertrauen
ihm anhängen 0* Fassen wir daher dieses System in den Elemen-
ten seines Ursprungs auf, so ist es wesentlich bedingt durch eine
Stufe der religiösen Entwicklung, auf welcher es dem Menschen
Bedürfniss ist, das Verhältniss, in welchem Christus, als der Herr
der Kirche, zu derselben steht, in einer sichtbaren Stellvertretung
anzuschauen. Wie die Apostel die Stelle des sie sendenden Chri-
stus vertraten, so konnte man auch in den Bischöfen, als den Nach-
folgern der Apostel, nur die Repräsentanten Christi sehen.
l) Die apostolischen Konstitutionell verordnen 2* 34: xov iirianonov
^igyi^v otpiUsra (u9 naviga^ dabei aber auch tpoßetad'ai wQ ßaaikin, rtfiav
tut y.vg&ov. Was von dem Bischof gilt, gilt auch vom Stande der Kleriker
Überhaupt. Auf dem Ghrunde der alttestamentlichen Priesteridee, welche
schon Cyprian, der Hanptrertreter der Episkopatsidee, in ihrem vollen Um-
flmg in Anspruch nimmt, sind sie dnnih dieselbe absolute Superiorität von
dflr Welt geschieden, mit welcher der Bischof über der Gemeinde steht.
Daher ist es nur eine Entwürdigung ihres Standes, wenn sie sich mit welt-
lichen Dingen und Geschäften befassen. Nach Cyprian, Ep. 66* ist es pri-
dem in concilio episcoporum statutum, ne quis de clericis et Dei ministris
tntorem vel curatorem testamento suo constituat, quando singuli divino 8a>
oerdotio honorati et in clerico miuisterio constituti nonnisi altari et sacri-
fioiis deservire, et precibus atque orationibus vacare debeant. — Quae nune
mtio et forma in clero tenetur, ut qui in eoclesia Domini ordinatione cle*
rica promoventur, — in honorc sportulantium fratrum tanquam decimas ex
fructibus accipientes, ab altaris sacrificiis non recedant. — Es muss das sacer-
dotum deoretnm streng gehalten werden, ne quis sacerdotes et ministros Dei al-
tari ejus et ecclesiae vacantes ad sAnlares molestias devocet. Es spricht
sich schon in den Worten Cyprians aus, welche grosse praktische Bedeutung
dieser Grundsatz hatte, und die Ansicht von dem priesterlichen Charakter
des Klerus, auf welchem er beruhte. Vgl. Epist. Clem. ad Sac. c 5. Stom. 3, 71 •
vierter Abschnitt»
Das Christenthuin als höchstes Offenbanmgs-
princip und als Dogma.
Zwei Richtungen sind es , in deren Sphäre , wenn wir auf die
bisherige Darstellung zurücksehen, die dem christlichen Bewusst-
sein immanente Idee des Christenthums sich realisirte. Es musste
vor allem die Schranke, die der Partikularismus des Judenthoms
dem christlichen Heilsprincip setzen wollte, durchbrochen und der
christliche Universalismus festgestellt werden. Es konnte nur da-
durch geschehen, dass die Scheidewand zwischen Judenthum und
Heidenthum aufgehoben, und die ganze des christlichen Heils eben-
so bedürftige als empfängliche Menschheit als das weite Gebiet an-
geschaut wurde, in welchem die Idee des Christenthums sich ver-
wirklichen sollte. Wie aber in dieser Hinsicht das ChristenAom
von Anfang an die Tendenz hatte, sich zum Universalismus zu er-
weitem, so musste es auf der andern Seite dasselbe Interesse ha-
ben, auf seinem universellen Standpunkt seinen specifischen Inhalt
und Charakter festzuhalten, und beides, dass es ebenso specifiscb,
oder persönlich individuell und konkret geschichtlich, als universeil
sein wollte, in das adäquate Verhältniss zu einander zu setzen.
Sein Universalismus versetzte es in die weite Sphäre einer von
heidnischen Elementen durchdrungenen Weltanschauung und brachte
es in die nächste Berührung mit einer Anschauungsweise, in wel-
cher bereits das Judenthum mit Id^en der griechischen Philosophie
so zersetzt war, dass auch das Christenthum, in denselben Ideen-
kreis hineingezogen, nur einen dem heidnischen Polytheismus
mehr oder minder verwandten Charakter annehmen konnte. Der
christliche Heilsprocess verwandelte sich in einen allgemeinen Well-
entwicklungsprocess, in welchem Christus selbst nur eines der ver-
Uebergang auf das Dogma. S81
schiedenen, den Gang der Weltentwicklung bedingenden Weltprin-
■cipien wurde. Yerweltlichung ist mit Einem Worte die Gefahr,
welche dem Christenthum von Seiten seines Universalismus drohte.
Glaubte der Montanismus, nur vorzugsweise vom sittlich religiösen
Gesichtspunkte aus, derselben Gefahr einer Yerweltlichung des
Christenthums dadurch begegnen zu müssen, dass er überhaupt mit
der Welt gebrochen wissen wollte , und die jüdisch-messianische
Weltkatastrophe zum Princip seiner Weltanschauung machte , so
hatte das christliche Bewusstsein auch nach dieser Seite hin die
Aufgabe, das Christenthum in die Bahn einzuführen, auf welcher
es der seiner ursprünglichen Idee entsprechenden geschichtlichen
Entwicklung entgegengehen konnte. Alle diese nach verschiede*
nen Seiten hin in Betracht kommenden Momente vereinigte die Idee
der katholischen Kirche in sich, deren Bewusstsein alle diejenigen
in sich hatten, die ebensosehr den Universalismus des Christen-
thums aufrecht erhalten, als auf der andern Seite alles fern halten
wollten, was den specifischen Charakter des Christenthums durch
jüdische oder heidnische Einflüsse trübte, und nach der einen oder
andern Seite hin eine ins Extreme verlaufende Richtung zu nehmen
schien. Indem nun aber die Idee der katholischen Kirche zunächst
nur in denjenigen existirte, die im Bewusstsein derselben die über*
wiegende Mehrheit bildeten und am erfolgreichsten darauf hinar-
beiteten, sie zu realisiren und ihr ihre feste Konsistenz zu geben, so
war die auf diesem negativen Wege des Gegensatzes gegen alles
christlich Inadäquate sich bildende katholische Kirche auch noch
eine blosse Form , welche erst mit ihrem bestimmten Inhalt sich
erfüllen musste. Sosehr man auch darüber einverstanden sein
mochte, was in Gemässheit des in der Mehrheit sich aussprechen-
den christlichen Bewusstseins abzuwehren und fenizuhalten war,
sosehr kam es auch darauf an, der Verneinung die Bejahung ge-
genüberzustellen, und positiv zu bestimmen, was als der absolute
Inhalt des christlichen Bewusstseins gelten sollte. Die Kirche hatte
sich in ihren bestimmten Formen constituirt, seitdem sie Bischöfe
hatte, die als Träger und Repräsentanten der apostolischen Ueber-
lieferung und des kirchlichen Bewusstseins angesehen werden
konnte, dieses Bewusstsein selbst aber war noch etwas sehr Unbe-
stimmtes, eine blosse Form ohne Inhalt, solange nicht das Dogma,
als InhaU der apostolischen Ueberlieferung oder der christlichen
S8S Vierter Abschnitt. Das Cbristentham als höchstes Offenbanmgspnncip.
Offenbarung, in seiner Entwicklung und allmfihligen Ausbildung auf
seinen bestimmten Begriff und Ausdruck gebracht war. Wie hier
beides zusammenhangt, die verrassungsmässige Form, welche die
Kirche in den Bischöfen, den Repräsentanten ihrer Einheit, erhalten
hatte, und das Dogma als der Inhalt, welcher von den Interpreten
der Tradition und den Organen des kirchlichen Bewusstseins aus-
gesprochen und als allgemein geltende Lehre fixirt werden sollte,
stellt die die erste Periode der Entwicklungsgeschichte der christ-
lichen Kirche schliessende Synode zu NicSa in einer sehr klaren
Anschauung vor Augen. Wie sie als eine ökumenische Synode die
vollkommenste Repräsentation des Episkopats und der Kirche ist,
so hat sie in ihrem Dogma von der Homousie das Höchste ausge-
sprochen, was das christliche Bewusstsein zu seinem dogmatischen
Inhalt haben kann.
Es ist somit überhaupt das Dogma, das hier seine bestimmte
Stelle hat. Die Kirche wäre eine blosse Form, wenn sie nicht in-
nerhalb der von ihr selbst fest bestimmten, aber gleichmässig nach
allen Seiten hin zur Idee der katholischen Kirche sich erweiternden
Grenzen ihren bestimmten Inhalt in ihrem katholischen Dogma
hätte, und zwar concentrirt sich die ganze Entwicklung des Dogma
in ihrer ersten Periode in der Lehre von der Person oder der gött-
lichen Wärde Christi. Alle zum Inhalt des christlichen Glaubens
gehörenden Dogmen treten nur so weit hervor, als sie eine nähere
oder entferntere Beziehung zu diesem Hauptdogma haben. Dieses
selbst aber ist, so hoch es gestellt wird, doch nicht eigentlich der
nächste und unmittelbare Gegenstand des christlichen Bewusstseins.
Da Christus nur dazu kommt, das messianische Heil zu bringen, so
verhält er sich selbst nur wie das Mittel zum Zwecke, und es kann
daher nicht anders sein, als dass auch in der Entwicklung des
Dogma das Eine durch das Andere bedingt ist. Durch die ganse
Geschichte des Dogma's hindurch lässt sich wahrnehmen , wie die
Lehre von der Person Christi in den verschiedenen Formen ihrer
Ausbildung nur der Reflex der Ansicht ist, die man von dem Werke
Christi, von der Bedeutung und Beschaffenheit des durch ihn be^
wirkten messianischen Heiles hatte.
Da wir auf dem Standpunkt der kritischen Betrachtung der
evangelischen Geschichte es nie vergessen dürfen, dass .wir, wie
die Lehre Jesu äberhaupt, so auch alles, was er selbst nher dieBe^
Die synoptisclien EvaDgelien.
deulung and Würde seiner Person lehrte, nur durch die Vermitt-
Inng der neutestamentlichen Schriftsteller kennen, so ist auch hier
zwischen dem rein geschichtlichen und dem dogmatischen Ge-
sichtspunkt streng zu scheiden, und wir können uns daher, indem
alles Andere in das Gebiet der irgendwie begründeten dogma-
tischen Voraussetzungen und Behauptungen gehört, nur auf die
Frage beschränken, wie sich in den verschiedenen Lehrbegriffen,
innerhalb der kanonischen Schriften , die Person Jesu darstellt.
Was in dieser Beziehung zunächst die Christologie der synop-
tischen Evangelien betrifft, so wird niemand mit zureichenden Grün-
den bestreiten können, dass wir in ihnen nicht die geringste Be-
rechtigung haben, über die Vorstellung eines rein menschlichen
Messias hinauszugehen. Wie sehr die Idee der Präexislenz noch
ausserhalb des synoptischen Gesichtskreises liegt, kann nichts
deutlicher beweisen, als die Erzählung von der übernatürlichen
Geburt Jesu. Alles , was ihn über das Menschliche erhebt , aber
das rein Menschliche seiner Person nicht aufhebt, ist nur auf die
Causalität des seine Erzeugung bewirkenden, oder nach einer an-
dern Vorstellung erst bei der Taufe ihm mitgetheilten npivfia a/$op
zurückzuführen, das als das Princip der messianischen Epoche auch
das seine messianische Persönlichkeit constituirende Element ist
Die substanzielle Grundlage der synoptischen Christologie ist der
Begriff des als vlog &iS bezeichneten und gedachten Messias, und
alle Momente derselben beruhen auf derselben Voraussetzung einer
an sich menschlichen Natur. Gott hat ihn vom Tode auferweckt,
weil es nicht möglich ist, dass er vom Tode bewältigt wurde CApg.
2, 23.> Es ist an sich nicht möglich , dass der Messias dem Tode
anheimfällt, weil er dem Tode anheimgefallen nicht mehr der Mes-
sias wäre. Wenn also auch der Messias stirbt, so ist an sich in ihm
der Tod im Leben aufgehoben , wenn auch nicht in dem Ueber-
menschlichen seiner Person, doch in seiner messianischen Würde.
In demselben Sinne gehört es zum Begriff des Messias, dass er der
Fürst des Lebens ist CApg. 3, 15.). Das Höchste, was die synop-
tische Christologie von Christus prädicirt, ist, dass ihm alle Gewalt
im Himmel und auf Erden gegeben ist CMatth. 28, 18.), oder dass
er zur Rechten Gottes sitzt, wodurch die unmittelbare Theihiahme
an der göttlichen Macht und Weltregierung bezeichnet ist Dazu
ist er als Mensch durch Tod und Auferstehung erhöht, und das
SS4 Vierter Abschnitt. Das Christenthom als höcbstes Offenbannigsprinoip.
Vermittelnde zwischen diesen beiden, Himmel und Erde verknä-
pfenden Punkten ist die Himmelfahrt, in welcher man ihn sogar in
sichtbarer Gestalt von der Erde zum Himmel schweben sieht Es
liegt hier klar vor Augen, wie der allgemeine Gesichtspunkt fär
diese Christologie die Erhebung des Menschlichen zum Götttichcai
ist, und vom Begriffe des Messias aus mit dem einen Moment immer
auch schon das andere gegeben ist Der diesem Standpunkt gegen-
überstehende ist der der johanneischen Logosidee, welcher zufolge
der substanzielle Begriff der Person Jesu das an sich Göttliche sei-
nes Wesens ist, und die ganze Betrachtung nicht von unten nach
oben, sondern von oben nach unten geht, das Menschliche somit
nur das Sekundäre und erst Hinzukommende ist Zwischen diesen
beiden einander entgegengesetzten Standpunkten nimmt die pao-
linische Christologie eine so eigenthümliche Stelle ein, dass wir nur
an ihr den Uebergang von dem einen zu dem andern begreifen
können. Auf der einen Seite ist Christus wesentlich Mensch, auf
der andern ist er mehr als Mensch, und das Menschliche ist in ihm
schon so gesteigert und idealisirt, dass er in jedem Fall in anderem
Smne Mensch ist, als nach der auf der festen Basis der geschicht-
lich menschlichen Erscheinung Jesu stehenden synoptischen An-
schauungsweise. Mensch ist Christus nicht blos nach der einen
Seite seines Wesens, sondern schlechthin, weil er ja Mensch is^
wie Adam, und von Adam sich nur dadurch unterscheidet, das0
nicht das Psychische, sondern das Pneumatische das eigentlichjß
Element seines Wesens ist, ist er aber ungeachtet seiner pneuma-
tischen Natur Mensch, so folgt daraus nur, dass beides, sowohl dal
Pneumatische als das Psychische, ein integrirendes Element der
menschlichen Natur ist Gegenüber dem Einen Menschen, durch
welchen die Sande und der Tod in die Welt kam, ist er der Eine
Mensch Jesus Christus , in welchem die Gnade Gottes den Vielen
geschenkt worden ist CRöm. 5, 25.). Wie durch einen Menschen i&
Tod, so ist durch einen Menschen die Auferstehung der Todten
Cl Kor. 15, 21.). Wie Adam der erste Mensch war, so ist er der
zweite Mensch, vom Himmel her CV. 15.) 0- Wesentlich Mensdi
1) Es ist für die richtige Auffassung der paulinischen Christologie nicht
unwichtig y dass den neuesten kritischen Auktoritäten zufolge in der Stelle
i Kor. 15, 47« no^tog nicht in den Text gehört. Dadurch Wlt von 'Belbft
PaalQB. S85
St also Christus, Mensch wie Adam, nur Mensch im höheren Sinn.
)ie Frage kann also nur sein, welchen höheren Begriff wir auf der
mbstanziellen Grundlage der menschlichen Natur mit der Person
uhristi zu verbinden haben. Das höhere Princip der Person Christi
lezeichnet der Apostel als das Geistige, Himmlische in ihm, nicht
irie wenn ein von der menschlichen Natur verschiedenes göttliches
Princip zu ihr erst hinzugekommen wäre, sondern das höhere Prin-
cip ist nur die reinere Form der menschlichen Natur selbst. Chri-
stas ist als der pneumatische Mensch, der vom Himmel her oder
liimmlischen Ursprungs ist, der urbildliche, die Vollkommenheit der
menschlichen Natur in sich darstellende Mensch. Wie Adam, als
der irdische psychische Mensch, der der Sünde und dem Tode ver-
fallene Mensch ist, so ist Christus als der geistige, himmlische
Mensch, als derjenige, in welchem die niedrige Seite der mensch-
lichen Natur in der höheren aufgehoben ist, der unsündliche
Mensch. Dass Christus ohne Sünde war C^Kor. 5, 21.), ist eine
wesentliche Bestimmung seines Begriffs. Wie Adam mit der Sünde,
die in ihm zuerst ihre Macht zu äussern begann , auch das Princip
des Todes in sich hatte, so war dagegen Christus mit der Freiheit
TOfl der Sünde auch frei vom Tode, er war nicht nur dem Princip
des Todes nicht unterworfen, sondern hatte vielmehr das entgegen-
gesetzte Princip des Lebens in sich, den lebendig machenden Geist.
Wenn daher auch Christus eine leibliche Natur, wie alle andern
Menschen hatte, so hatte doch seine oä^^ nichts vom Princip der
Sande and des Todes in sich, sie war nur ein ofiolwfta aa^nog
ftfia^tlag (Rom. 8, 3.) wegen seiner Unsündlichkeit Als frei von
i&t Sünde hätte er auch nicht sterben sollen, aber er unterlag ja
loch nicht durch sich selbst der Nothwendigkeit des Todes, son-
dern nur weil er die Sünden der Menschen auf sich nahm, was je-*
doch voraussetzt, dass die aciQ^, auch abgesehen von der Sünde, an
rieh sterblich ist. War die <ra^ Christi nur ein o(iolo}(iu aagnog
unaftlag, oder, da die dfiagvla von der goIq^ nicht zu trennen ist^
sofern die aag^ als solche der Sitz der dfia^tla ist, und die Anlage
und den Keim derselben in sich hat, der odfi überhaupt 0» so ist
alleg hinweg) was der unmittelbaren Verbindung des <$ tgavS mit ap&^m
noQ im Wege steht. Der A|>ostel sagt demnach beides auf gleiche Weiso
Ton Ohristus aus, er ist als av^pwTros somit ü sQapi,
i) Dass der Apostel da, wo die ad(jS ohne d/ia(fTia ist, nur ton einem
ftSß Vierter Abschnitt. Das Christenthtim als höchstes Offuibaniiigsprineip.
die cafi ein blosses Accidens des Wesens Christi, und die eigent-
liche Substanz derselben kann nur das nvivfia sein. Christas ist,
wie der Apostel 2 Kor. 3, 17. schlechthin sagt, ro itp^vfia, der
Geist, an sich, seinem substanziellen Wesen nach Geist, das Wesen
des Geistes aber dachte sich der Apostel als geistige Lichtsubstanz,
als einen Lichtglanz in demselben Sinne, in welchem er von den
strahlenden Angesicht des Moses spricht C^ Kor. 3, 7 f.). In die-
sem geistigen Lichtglanz Christi spiegelt sich das ewige Lichtwesen
Gottes selbst ab (2 Kor. 4, 4.). Das ganze Verhaltniss Christi zu Gott
beruht darauf, dass Christus wesentlich Geist ist, weil es an sich
zur geistigen Lichtnatur Gottes gehört, sich in einem Lichtglanz zu
reflektiren, und Christus ist daher, wie er to npivfia ist, so auch
der nvQ$i^ t^g ^o^^ wesentlich Geist und Licht, nicht erst in
Folge seiner Erhöhung, sondern an sich, da durch seine Erhöhung
nur das, was er zuvor schon war, zu seiner vollen Realität kommen
konnte. Schon darin liegt auch die Idee der Präexistenz , und der
Apostel kann sich demnach Christus, wenn er auch schon in seiner
präexistirenden Persönlichkeit wesentlich Mensch gewesen sein
soll, nur als die geistige Lichtgestalt des himmlischen oder urbSd-
lichen Menschen gedacht haben, auf analoge Weise, wie nach der
Christologie der pseudoclementinischen Homilien der Urmenseb
zuerst aus Gott hervorging, vermittelst der von Ewigkeit Gott bei-
wohnenden Weisheit, oder des heiligen Geistes, welcher, da er in
höchsten Sinne Christus inwohnt, somit sein eigenäiches Wesen
ausmacht, auch der Geist Christi genannt wird. Der Apostel mntt
daher einen doppelten Urmenschen angenommen haben, einen ir-
dischen, der von Anfang an /x yng jro/xoV und psychischer Nator
war, und einen himmlischen, urbildlichen, der im Hinunel präexi*
stirte, bis er als der isvuifog ap^gcanog iS iffmitS zu der bestimiR-*
ten Zeit im Fleische erschien, als der zweite Adam, oder der l9%a-
to9, wie er mit Rücksicht auf seine irdische, die zweite oder letite
Oftoiwfia oofso«, oder, da beides sasammengehdrt, die oa^^ und die ofi^
tia, von einem Ofioim/ta aa^xos dfia^tiac spricht, beweist am dcQÜiohsteBi
dass er sich die dfiagria als das Wesen der ad^S selbst dachte. Wo die
oaV£ nicht eine aagS »ftaQTias ist, d. h. eine act(>|, au deren Wesen die
OfAafTitt gehört, ist nichts, was eigentlich so genannt werden kam, « i^
keine odgS dfia^la^y somit auch keine eigentUche «afS» ein UoBsea of»oi»ti*i
tr ist ttBa mur oftoi^s.
Paulus. 887
Weltperiode eröffnende Erscheinung genannt wird. Wie sieb nun
aber der Apostel die Geburt Christi im Fleisch und seinen Eintritt
in die Menschheit gedacht habe , darüber lasst sich nichts weiter
sagen. Wenn auch die Sendung des Sohnes, von welcher GaL4,4«
und Rom. 8, 3. die Rede ist, die Existenz desselben voraussetzt, so
ist diess doch nur dieselbe Praexistenz, die auch schon in dem ii
bpa^S 1 Kor. 13,47. liegt, über die Art und Weise seiner Erschei-
nung im Fleische aber geben auch diese Stellen keine weitere
Auskunft. Es ist überhaupt das Eigene der paulinischen Christo-
logie, dass, obgleich sie die Praexistenz Christi voraussetzt, doch
der Blick des Apostels nicht sowohl auf das, was Christus rück-
wärts ist, geht, als vielmehr auf das, was er vorwärts geworden ist
Aus diesem Gesichtspunkt ist besonders auch die für die Christo-
logie des Apostels wichtige Stelle Rom. 1, 3 f. aufzufassen. Der
Apostel will hier alle zum Begriff der messianischen Würde Christi
gehörenden Momente zusammenfassen. Er ist als Davidssohn der
Messias , aber ein noch wichtigeres Kriterium seiner Messianität ist
ihm die Auferweckung vom Tod. Was Christus als Davidssohn
leiblich ist, ist er durch seine Auferstehung geistig, sie ist die gei-
stige Beglaubigung seiner messianischen Würde, weil sie erst den
thatsächlichen Beweis geben konnte, dass der Geist, der ihn allein
zum Messias machte, auch wirklich in ihm war. Diess ist der Be-
griff des nvivfia ayimavptjg, es ist das ntfiCfia aytop, sofern es die
iy$oaaviffi bewirkt, durch welche Christus der «/^o^, die Christen
die a/«o* sind, d. h. sich als messianisches Princip bethätigt und die
Idee der Messianität realisirt. Nehmen wir es mit den übrigen Mo-
menten der paulinischen Christologie zusammen, so ist der Begriff
der Persönlichkeit Christi so zu bestimmen : 1) an sich ist Chri-
stus seinem substanziellen Wesen nach Geist, und die geistige Natur
Christi schliesst von selbst den Begriff der Präexistenz in sich in
der idealen Gestalt des Urmenschen ; 2) als das wesentliche Ele-
ment der Persönlichkeit Christi wird der Geist in der irdisch-
menschlichen Erscheinung Christi zum messianischen Geist, das
nvtSfia zum npivfia ayiwaiiviig; 3) wie Christus als Sohn Gottes
im höchsten Sinn sich erst durch die Auferstehung beurkundet, so
erweist sich das nptvfi« uytmohvtig in seiner vollen Bedeutung erst
dadurch, dass es sich als das nvtvfuu imono^iw (i Kor. 15, 45.)
bethätigt. Was der messianische Geist für die Person Christi selbst
JtSS Vierter Abschnitt. Das Christentbum als bdohstes Offenbanmgipzineip.
ist , ist der lebendig machende Geist für die Menschheit überhaupt
als das in ihr wirkende, Sünde und Tod in ihr aufhebende, die
sterbliche oa^i zum Bilde des himmlischen Menschen verklärende
Lebensprincip. Die Idee, die sich in ihm als dem urbildlichen Men-
schen darstellt, ist dann vollkommen realisirt, wenn die ganze
Menschheit, wie es die Bestimmung Gottes ist, nach seinem Bilde
gestaltet ist CRöm. 8, 29.) 0*
Die Lehre von der höheren Würde Christi ist erst durch den
Apostel Paulus dogmatisch fixirt worden. Wenn auch in dem Glau-
ben an die Auferstehung und Erhöhung Jesu, und an seine dadurch
faktisch bestätigte messianische Würde von selbst der höhere Be-
griff seiner Person enthalten war, so kam es nun darauf an, den-
selben in seinen bestimmteren Momenten aufzufassen. Der erste
1) Nor die Frage künnte noch entsteben, ob, wenn auch Christus ti
HQavs war, die Benennung des StCreQoc äv&QoiTtoc und des «aj^aroc *j4San
sich nicht erst von seiner irdisch -menschlichen Erscheinung datirt. Was
soll aber Christus als nrer/ua gewesen sein, wenn seine geistige Persönlich-
keit nicht in der Form der menschlichen Existenz gedacht wird? Es ist
neuesten« die nAher nachgewiesene Behauptung, dass man sich, nach einer,
auf der Grundlage der schon innerhalb des Judenthums mit der messianisohsa
Idee combinirten Angelologie in der ältesten Kirche weitverbreiteten, besonders
populären Vorstellung, das in Jesu erschienene prftexistente Subject als einen
Engel gedacht habe, in nähere Beziehung zur paulinischen Christologis
gesetzt worden (Theol. Jahrb. 1848. S. 239 f.)* Allein von Christus ab
einem Engel oder engelähnlichen Wesen findet sich bei Paulas keine SpfOi
und wir haben kein Recht, die eine der beiden Vorstellungen, dass er Greist
war und dass er wesentlich Mensch war, gegen die andere zurückzustellen.
Dass der Apostel Christus nicht blos Präexistenz, sondern auch die Welt-
sch6pfung zugeschrieben habe, liegt unstreitig in der Stelle 1 Cor. 8» 6* s^hr
nahe, auf der andern Seite lässt sich aber auch nichts dagegen sagen, dass
wie der Umfang des c£ i td ndvxa durch den Begriff von &m^ bestimmt
wird, so dasselbe bei 9i a rd ndvta mit dem Begriff des »vQto^ der FallisL
Der Begriff des KVQtoi geht doch nur auf das, was Christus durch seine Aufe^
Btehung und Erhöhung geworden ist, nicht auf das, was er in seinem yorwelt-
lichen Zustand war, und wenn 1 Cor, 15, 47. '«v'c*^^ rafihi in den Text ge-
hört, so macht auch diese Stelle keine Ausnahme in Hinsicht der mit dem
Worte HVQioi verbundenen Bedeutung. Die Stellen 1 Cor. 10| 4* nnd t Cor.
8, 9. Böm. 9} 5* sind ohnediess nicht beweisend, und es ist an ihnen nor
Bu sehen , wie willkürlich man den Begriff der Gottheit Christi in der paa*
linischen Christologie ausgedehnt hat. Man vergl. über die paulinisohe Chri-
0tologie überhaupt meine Schrift: Patdus det Ap. U. s. w. S. 633*
Paolos. 9d9
unkt, von welchem die ganze Entwicklung ausging, war die Auf-
rstehung. Man konnte sich den Auferstandenen, den durch seine
tuferstehung zum Sieger über den Tod Gewordenen und in ein
oberes Leben Eingegangenen nicht denken, ohne sich ihn in einem
«stand der Verherrlichung und in der unmittelbarsten NShe Gottes
orzustellen. So wurde er das Subjekt aller jener Bestimmungen,
reiche die Idee des xugiog^ wie er nach seiner Erhöhung schlecht-
in genannt wird, in sich begreift. Alles aber, was man ihm als
em Auferstandenen und zur Rechten des Vaters Erhöhten zu*
chrieb, hatte noch keine genügende Begründung, wenn man nicht
lern nachirdischen Zustand der Verherrlichung einen gleich erha-
)enen vorirdischen gegenüberstellte. So erst, wenn er schon vor
seiner irdisch menschlichen Erscheinung wesentlich dasselbe war, was
ernach derselben geworden ist, konnte man eine höhere Anschauung
seiner Persönlichkeit überhaupt gewinnen. Die höhere Würde, zu
welcher er nach seinem Tode erhöht wurde, konnte nun nicht mehr
ab etwas blos Ausserordentliches, erst durch einen AktGottes ihm
Verliehenes angesehen werden , es kam ihm an sich zu, war an
sich im Wesen seiner Persönlichkeit begründet, seine menschliche
Existenz war daher für ihn nur ein Durchgangsmoment, um das,
was er an sich schon war, auch in dieser konkreten, durch seine
menschliche Existenz bestimmten Form zu sein. Die Idee der Prä-
existenz ist nun der Hauptpunkt, um welchen sich die weitere
Entwicklung der Christologie bewegt, und die ganze Tendenz gehl
dahin, mit dem Zustand der Präexistenz immer mehr die Prä-
dikate zu verbinden, durch welche der Unterschied zwischen Gott
und Christus so viel möglich aufgehoben wird. Schon der Apostel
Paulus geht von der Idee der Präexistenz zu der der Weltschöpfung
fort Wenn auch dieses Prädikat bei ihm noch einen unbestimm-
ten und zweideutigen Charakter hat, so ist es dagegen bald nach-
her um so bestimmter fixirt worden. Dass aber der Apostel Pau-
lus es war, mit welchem die Christologie diesen höheren Auf-
schwung nahm, hängt unstreitig mit der höhern Vorstellung zu-
sammen, die er von der Bestimmung und dem Werke Christi hatte,
wie ja der schon gemachten Bemerkung zufolge durch die ganze
Geschichte des Dogma hindurch der Kanon gilt, dass, je nachdem
man von dem Werke Christi eine höhere oder geringere Vorstel-
lung hat, dasselbe auch bei der Person Christi der Fall ist, und jede
Baur, dto dr«i «nten Jahrh. ^^
890 Vierter Abschnitt. Das Christenthiim ala höchstes Offenbornngsprineip.
Zeit und Partei auf die Person Christi alle Bestimmungen übertragt,
die ihr die nothwendige Voraussetzung zu sein scheinen, umihnzn
dem Erlöser in dem bestimmten Sinne, in welchem er es sein S4^
zu befähigen. Der Apostel Paulus hat zuerst dasChristenthum aus
einem höheren und universelleren Gesichtspunkt aufgefasst und in
ihm die Bedeutung eines allgemeinen, den ganzen Weltyerlauf und
den Entwicklungsgang der Menschheit bedingenden Princips er-
kannt Von diesem Standpunkt aus ergab sich ihm als nothwen-
dige Voraussetzung die Ansicht, dass Christus ein mehr als mensch-
liches, ein überweltliches Wesen sein müsse, und hiermit war nun
der Anfang gemacht, den Begriff der Person Christi immer höher
zu steigern, bis zur absoluten Einheit mit Gott, und alles auf ihn
Überzutragen, was die Zeitphilosophie Analoges darbot*
Der paulinischen Christologie steht die der Apokalypse der
Zeit nach am nächsten, und auch in ihr bewährt sich der
zuvor erwähnte Kanon dadurch, dass je grossartiger die Erwar-
tung von der mit der Parusie Christi verbundenen Katastrophe
ist, um so höher die Vorstellung von der Person dessen sein muss,
der durch seine Parusie sie herbeiführt Auf demselben Wege,
wie bei dem Apostel Paulus, gelangt auch bei dem Apokalyptiker
Christus durch Tod und Auferstehung zu der höchsten göttlichen
Macht und Herrlichkeit In dem vor dem Throne Gottes stehenden
qQpiov ioqtayiAivov verknüpft sich dem Apokalyptiker das Grösste
und Kleinste, der Gegensatz des Lebens und des Todes, des Him-
mels und der Erde, zu einer und derselben Anschauung. In der
unmittelbaren Nähe Gottes theilt Christus mit Gott nicht nur dieselbe
Macht und Herrschaft und dieselbe Verehrung, sondern er erhält
auch Prädikate, welche keinen wesentlichen Unterschied zwischen
ihm und Gott übrig zu lassen scheinen. In demselben Sinne, in
welchem Gott, der Allherrscher, o (ov kuI 6 ^v nat 6 iQ^ofitvoi
genannt wird, heisst auch Christus das A und das 0, der Anfang
und das Ende. Der neue Name, welcher demMessias C3, 12) gege-
ben wird, derselbe Name, von welchem C19, 12) gesagt wird, es
kenne ihn niemand, als er selbst, ist der unaussprechliche Jehova-
name. Ja, Christus hat nicht nur die sieben Geister Gottes, in wel-
chen die alles überschauende und alles beherrschende Macht der
göttlichen Weltregierung individualisirt ist, zu seinem Attribut
C3, 1), sondern er ist auch die apjt'2 ^^^ xTiaewg t5 ^*5, und der
Die Apokalypse. )t91
loyog t3 ^iS (3, 14. 19, 13). Alle diese Prädikate stehen aber
in einer blos äusserlichen Beziehung zu der Person des Messias.
Jehova, oder Gott im höchsten Sinn, wird zwar der Messias ge-
nannt, aber er wird auch nur so genannt, ohne dass aus dem Namen
geschlossen werden darf, es werde ihm auch eine wahrhaft gött-
liche Natur zugeschrieben. Ebenso wenig folgt diess aus der Be-
zeichnung des Messias als des loyos to &fS, Der Apokalyptiker
betrachtet die ganze Erscheinung Jesu aus dem Gesichtspunkt des
koyog r« ^*ö, sofern das Wort Gottes durch ihn sowohl enthüllt
als erfüllt wird. Das Christenthum ist selbst der koyog tS i^fS
Cl, 9), alles, was den Inhalt der apokalyptischen Visionen aus-
macht, sind die Ao/o* dXri^tvol r« &e3 (19, 9). Jesus ist es, der
den Rathschluss Gottes offenbart und der ihn auch vollzieht. Was
einmal als Rathschluss Gottes ausgesprochen ist, muss auch reali-
sirt werden. Auch in dieser Beziehung ist Jesus der loyog tS ^tS.
Es bezieht sicTh darauf die Vergleichung der Wirksamkeil Jesu mit
einem aus seinem Munde ausgehenden scharfen Schwerdt Cl9, 15).
Dass dieses Schwerdt aus seinem Munde ausgeht , weist deutlich
daraufhin, dass das, was mit dem Schwerdt verglichen wird, eigent-
lich das aus dem Munde ausgehende Wort ist, der loyog tS ^i5^
welchen er offenbart, ein scharfes Schwerdt aber ist es, sofern
durch ihn der ganze Rathschluss Gottes als strenges Strafgericht
mit unwiderstehlicher Macht vollzogen wird, wesswegen er auch
erst an dieser Stelle der Apokalypse Cl9, 13), wo er als strafender
Richter vom Himmel auf die Erde herabkommt, diesen Namen er-
hält Der Grundbegriff ist das Wort Gottes, oder der in der Strenge
des göttlichen Strafgerichts sich vollziehende Wille und Rathschluss
Gottes. Da demnach der Ausdruck keinen metaphysischen Begriff
enthält, und nichts über ein Yerhältniss aussagt, das an sich zur
Natur des in Frage stehenden Subjekts gehört, so ergibt sich hier-
aus von selbst auch der Sinn, in welchem das weitere, noch beson-
ders bemerkenswerthe Prädikat zu nehmen ist, das die Apokalypse
Jesu gibt, wenn sie ihn als die d^x^ r^g xTioecog r« i^^ö bezeich-
net C3, 1"4). Wenn er auch als der Anfang der Schöpfung nur der
zuerst Geschaffene ist, so scheint doch dieser Ausdruck klar ge-
nug den Begriff der Präexistenz zu enthalten. Erwägt man aber
auf der andern Seite, dass unmittelbar vorher C3, 12) der himm-
lische Name des Messias ein neuer Name heisst , dass auch sonst
19»
Üldit Inerter Abgctmitt. Üas Ctiristentimm als höchstes OffenbanmgpBprincip.
nirgends in der ganzen Schrift die Präexistenz des Messias mit kla-
ren Worten ausgesprochen ist, so ist sehr wahrscheinlich, dass jene
Bezeichnung keine dogmatische Bestimmung, sondern ein blosser
Ehrenname ist, ein gesteigerter Ausdruck für den Gedanken, dass
der Messias das höchste Geschöpf ist, auf welches von Anfang an
schon bei der Schöpfung Rücksicht genommen wurde. Die Chri-
stologie der Apokalypse hat somit überhaupt das Eigene , dass sie
zwar Jesu als dem Messias die höchsten Prädikate beilegt, aber alle
diese Prädikate nur äusserlich auf ihn übergetragene Namen sind,
welche mit seiner Person noch zu keiner innem Einheit des We-
sens verknüpft sind, es fehlt noch an der innem Vermittlung zwi-
schen den göttlichen Prädikaten und dem geschichtlichen Indivi-
duum, das der Träger derselben sein soll 0- So bemerkenswerth
es daher ist, wie das christliche Bewusstsein auch auf diesem Punkte
den Drang in sich hat, die Person Jesu so hoch zu stellen, so we-
nig darf dabei übersehen werden, wie der ganze Inbegriff dieser
Prädikate noch eine transcendente Form ist, welcher es an dem
konkreten, in der Persönlichkeit Jesu selbst begründeten Inhalt
fehlt, sie sind noch keine immanenten, aus dem substanziellen We-
sen seiner Person selbst sich ergebenden Bestimmungen. Es sind
nur die grossen eschatologischen Erwartungen, um deren Mrillen
der Messias, als das Hauptsubjekt derselben, auch eine adäquate
Stellung haben muss. Alles Metaphysische liegt noch ausserhalb
des Gesichtskreises der Apokalypse, sie nimmt ihren Standpunkt
noch ganz von unten, um auf den Messias erst nach seinem Tode
alles überzutragen, was ihm seine höhere göttliche Würde gibt
Vgl. 5, 12.
Eine weitere Entwicklungsstufe bilden der Hebräerbrief und
die kleineren paulinischen Briefe , in deren Christologie Christos
nun schon als an sich göttliches Wesen aufgefasst ist
Der Grundbegriff der Christologie des Hebräerbriefs ist der
Begriff des Sohns, als Sohn Gottes im eigentlichen Sinn ist Christos
das Subjekt aller Prädikate, welche ihm hier gegeben werden. Als
Sohn ist er der Abglanz, der unmittelbare Reflex der Herrlichkeit
Gottes, derjenige, der in der konkreten Realität seiner persönlichen
i) Yergl. Zelleb, Beiträge zur Einleitung in die Apokalypse. TheoL
Jahrb. 1842. S. 709 f.
Der Hebräerbrief. HOS
Existenz das Gepräge des göttlichen Wesens an sich trägt CI9 3).
Dadurch ist Christus, als der Sohn Gottes, schlechthin über die Welt
gestellt, er ist ein wesentlich göttliches, von der Welt verschiede-
nes Wesen, wenn er auch das mit der Welt gemein hat, dass er,
wie alles, aus Gott hervorgegangen ist, wesswegen er n^mvotonog
heisst CI9 6), so ist doch er es, welcher alles mit dem Worte seiner
Macht trägt CI9 3), der, durch welchen Gott die Aeonen geschaffen
hat CI9 2), d. h. die jetzige und die künftige, oder die sichtbare und
die unsichtbare Welt Ueber die Sphäre des Menschlichen erhebt
sich die Christologie des Hebräerbriefs schon so sehr, dass es sich
zunächst darum handelt, den Begriff des Sohns im Unterschied von
den Engeln, über welche der Sohn, als solcher, durch diesen ihm
allein zukommenden Namen, und die übrigen ihm gegebenen Prä-
dikate CI9 4-- 14) weit erhaben ist, genauer zu fixiren. Die Chri-
stologie des Hebräerbriefs steht so überhaupt in der Mitte zwischen
der paulinischen und der johanneischen. Während dem Apostel
Paulus Christus, so hoch er gestellt wird, doch immer noch we-
sentlich Mensch ist, der divregog uv&Q(onog iS igotvS^ lässt dage-
gen der Verfasser des Hebräerbriefs das ursprünglich Menschliche
v^lig fallen , Christus ist als rein göttliches Wesen in die über-
sinnliche Region entrückt. Auf der andern Seite ist aber der Sohn
noch nicht der Logos im johanneischen Sinn. Er ist nicht selbst der
Logos, sondern trägt nur das AH mitdem Worte seiner Macht Cl, 3).
Es ist um so eigenthümlicher, dass der Verfasser des Hebräerbriefs
dabei stehen bleibt, und nicht zur Identificirung des Sohns mit dem
Logos fortgeht, da er den Logos Gottes (4, 12. 13) auf eine Weise
personificirt, welche von selbst zur Identificirung der beiden Be-
griffe führt Ungeachtet dieser Hypostasirung des Logos Gottes
sind die beiden Begriffe Sohn und Logos noch so wenig mit einan-
der vermittelt, dass die göttliche Natur des Sohns nicht durch den
Begriff des Logos, sondern den des Pneuma iTestimmt wird. Die
versöhnende Kraft des Todes Christi ligt darin, dass Christus das
aioip&op nvivfia hat (9^ 14). Er versöhnt die Welt mit Gott, weil
er im Elemente des Geistes sich Gott darbringt, weil nicht Blut von
Böcken und Stieren, lindern das nviofia amp$o¥ das Sühnmittef,
das die eigenthümliche Beschaffenheit und Wirksamkeit dieses To-
des vermittelnde und bestimmende Moment ist Was Christus zu
einem ewigen Hohenpriester macht, was ihm die Kraft unauflös-
3094 Vierter Abschnitt. Das Christenthntn als höchstes Ofienbamngsprincip.
liehen Lebens g^bt, so dass das absolute Lebcnsprincip eine imma-
nente Bestimmung seines Wesens ist , ist das nwfufta , dass er ein
rein geistiges Wesen ist, wie Gott selbst Geist und der Vater der
Geister ist Cl2, 9). Dabei denkt sich der Verfasser das Verliält-
niss des Sohns zum Vater unter dem Gesichtspunkt strenger Un-
terordnung. Der Sohn ist vom Vater so abhängig, dass der Vater
auch in dem den Sohn unmittelbar BetretFenden das thätige Subjekt
ist Der Vater hat den Sohn auf kurze Zeit unter die Engel er-
niedrigt C2, 7), nicht sich selbst hat Christus verherrlicht, so dass
er Hohepriester wurde, sondern der, der zu ihm sprach: „mein
Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt", auf welche Psalmstelle
hauptsächlich der Begriff der Sohnschaft gestützt wird C5, 5). Man
kann diess nur von einem durch den Willen Gottes gesetzten Ver-
hältniss verstehen, dagegen bezeichnen es die Ausdrücke dnauyaaft»
und ;fa(>axr<Jp als ein natürliches. Es liegen so schon im Hebräer-
brief die Elemente der beiden Vorstellungen von dem Verhältniss
des Vaters und Sohns, welche immer den Hauptgegensatz bildeten.
Da der Sohn in der einen oder andern Weise ein an sich göttliches
Wesen ist, so muss er demnach erst in das menschliche Dasein
eintreten. Den Begriff der Menschwerdung fasst jedoch der Ver-
fasser des Hebräerbriefs noch nicht schärfer ins Auge, es ist nur
davon die Rede, dass er dem Menschen in allem gleich geworden,
in ihrer sittlichen Schwäche durch seine Versuchbarkeit C2, 18), in
ihrer Unmacht und Endlichkeit durch seine Erniedrigung unter die
Engel C2, 6—9) und vor allem durch seine Leidensfähigkeit. Wie
diess für den Zweck der Erlösung geschah, damit er als der ewig
aufgestellte Hohepriester die Menschen von der Sünde reinigte, st'
ist es überhaupt die Idee eines sittlichen Entwicklungsprocesscs.
unter deren Gesichtspunkt das ganze persönliche Sein Christi ge-
stellt wird. Das Gebet Jesu um Rettung vom Untergang vom Tode
wurde wegen seiner Ergebung von Gott erhört, er wurde aus dem
Reiche der Todten wieder heraufgeführt Cl3, 20), in den Himmel
wieder aufgenommen, über die Engel, unter welche er erniedrigl
war, wieder erhoben C4, 14. 7, 26. 1, 4), mit Freude, Ehre und
Herrlichkeit gekrönt C2, 9 vgl. 1, 9. 12, 2) und erhielt auf ewig
den Sitz zur Rechten Gottes Cl, 3. 8. 13. 8, 1. 10. 12). Alles diess
zusammen macht den Begriff der Vollendung aus, in welchem in
der Anschauung des Hebräerbriefs das Ende mit dem Anfang si^li
•
Der Hebrfterbrief, die kleinem paulinischen Briefe. X95
zusammenschliesst. In dem an der Person Jesu seinen Verlauf
nehmenden Process stellt sich nur der allgemeine Process dar, in
welchem das Unvollkommene zum Vollkommenen, das Gegenwär-
tige zum Künftigen, das Judenthum zum Christenthum sich aufhebt,
oder die Idee durch ihre noch unwahre Gestalt sich hindurchbe-
wegt, um zu ihrer wahren konkreten Realität zu gelangen. Die
schon im A. T. in der Person Melchisedeks vorbildlich enthaltene
Idee des Hohepriesters ist realisirt, wenn der sich selbst opfernde
and durch seinen Tod dem unvollkommenen levitischen Prlester-
thum ein Ende machende wahre Hohepriester mit seinem Blute die
Himmel durchschreitend vor dem Angesichte Gottes erscheint und
sich zur Rechten der Herrlichkeit auf den Thron der Gnade setzt
C9, 11. 10, 12).
Denselben Charakter hat die Christologie der kleineren pau-
Unischen Briefe, nur tritt in ihnen schon bestimmter der spekula-
tive, metaphysische, den gnostischen Anschauungen verwandte Ge-
sichtspunkt hervor, unter welchen die Person Christi gestellt
wird.
Wie im Hebräerbrief wird auch hier Christus nach seiner an
sich göttlichen Natur das Bild Gottes genannt, Kol. 1, 15. Er ist
der Reflex Gottes, in welchem das an sich unsichtbare Wesen Got-
tes in sichtbarer Gestalt angeschaut wird. Die weitere nähere Be-
stimmung ist, dass in ihm alles geschaffen ist, alles im Himmel und
auf der Erde, das Sichtbare und Unsichtbare, seien es Throne oder
Herrschaften oder Mächte oder Gewalten, alles also von den höch-
sten Regionen der Geisterwelt bis zu den untern hat in ihm sein Sein
und Bestehen. Es ist nun nicht mehr blos darum zu thun, ihm mit
dem Begriffe des Sohnes, den Engeln gegenüber, seme bestimmte
Stelle zu geben, er hat schon die Bedeutung eines auf abso-
lute Weise an der Spitze aller geistigen Wesen stehenden, Gott
und Welt vermittelnden Princips. Als der Erstgeborene der gan-
zen Schöpfung ist er zwar in Eine Reihe mit der Kreatur gestellt,
er ist, wenn auch das Erste von allem Geschaffenen der Zeit und
dem Rang nach, doch auch nur, wie alles Andere, von Gott geschaffen,
sofern aber alles Geschaffene von ihm getragen und gehalten wird
und in ihm den substanziellen Grund seiner Einheit hat, steht er auf
absolute Weise über allem Geschaffenen , er ist somit absolut von
der Welt verschieden, gleichwohl aber kann sein Verhältniss zur
Jttl6 Vierter Abschnitt. Das Christenthum als höchstes Offbnbanmgsprinoip.
Welt nur als ein immanentes bezeichnet werden« In diesem
Sinne ist es schon zu nehmen, wenn alles nicht sowohl durch
ihn als in ihm geschaffen worden ist CKoI. 1, 16 3, ganz
besonders aber liegt diess in dem eigenthümlichen, auf Chri-
stus übertragenen Begriff des nXijQtofia^ in welchem das inn
manente Verhältniss, in welchem Christus zu der Knrche steht,
nur als die konkretere Form des allgemeinen Verhältnisses auf-
gefasst wird, in welchem er zur Welt überhaupt steht Christas
ist, was ein specifischer Begriff der beiden Briefe an die Epheser
und Kolosser ist, das Pleroma, weil in ihm erst der an sich seiende
Gott aus seinem abstrakten Sein heraustritt und zur Fülle des kon-
kreten Lebens sich aufschliesst Kol. 1, 19. 2, 9. Eph. 1, 22. 23.
3, 19. 4, 13. Christus ist das nX^QOifia im höchsten absoluten
Sinne, er ist o rcx näpta ip naai, nltjQtifAiPog, Er ist das nlii^afia
Gottes, als derjenige, in welchem das, was Gott an sich ist, auf ab-
strakte ideelle Weise, mit seinem bestimmten konkreten und realen
Inhalt sich erfallt. Das nXi^piafia Christi ist die Kirche, als das kon-
krete reale Sein, mit welchem, als seinem Inhalt, Christus sich er-
füllt Mit dem Ausdruck nltJQiofJia wird ein konkretes reales Sein
bezeichnet, als der Inhalt eines andern Seins, mit welchem es sich
zur Einheit der Form und des Inhalts zusammenschliesst Wie mit
dem Begriff des nlij^mfi«, verhält es sich auch mit dem Begriff des
ümfia. Die Kirche ist das acSfia Christi CEph. 1, 23.4, 12), aber auch
Christus selbst wird das ocSfia genannt, er ist das adSfia der Gott-
heit, sofern in ihm die ganze Fülle der Gottheit, alles, was die Idee
der Gottheit mit ihrem bestimmten konkreten Inhalt erfüllt, frtofia-
Tim^Q wohnt, CKol. 2, 9). Ist aber er selbst das acojua der Gottheit,
so kann die Kirche nur in einem konkreteren Sinn sein aou^ua sein,
da er, als omiia der Gottheit, das Haupt der Kirche und das Princip
ist, an welchem der ganze innerlich gegliederte Organismus der
Kirche hängt CEph. 4, 16. Kol. 2, 19> Die Bestimmungen über das
Yerhältniss Christi zu der Kirche erhalten ihren vollen Sinn erst
durch die allgemeine Idee , welche der Christologie dieser Briefe
zu Grunde liegt Christus ist das Haupt, das Princip, der Central-
punkt von Allem, es drückt sich in seiner Person eine allgemeine
Idee aus, welche die Form einer bestimmten Weltanschauung ist
Wie es aber zum Wesen der Idee gehört, dass sie das, was sie an
sich ist, auch in der Wirklichkeit ist, so muss sich auch die in der
Die kleinem panlinisclieii Briefb. 1197
Person Christi enthaltene Idee in einer Reihe bestimmter Momente
realisiren. Es geschieht diess durch jenes dvaniq^aluioiaua&ui, td
Mvro iv Xqiov^ , di avtS dnoxatttlld^a^ tu napt» iig aviop,
das der Grundgedanke der beiden Briefe ist CEph. 1, 10. KoL 1, 200*
Wie von ihm alles ausgeht, so soll in ihm alles wieder zu seiner
Einheit zurück gebracht werden. In diesem Sinne wird als das
Werk Christi die allgemeine Versöhnung und Einigung des Uni-
Tersums betrachtet, und es ist nicht blos die Erde, sondern auch
die Unterwelt, das ganze Universum, soweit es von vernünftigen
Wesen bewohnt ist, worauf sich seine erlösende, alles mit ihrem
Einfluss erfüllende, das Oberste und Unterste mit einander ver-
bindende Thdtigkeit erstreckt CEph. 4, 8 f.> Alles muss ja in Chri-
stas recapitulirt und an die ursprüngliche Einheit wieder ange-
knüpft werden, in welcher es in ihm den substanziellen Grund
seines Seins und Bestehens hat In demselben Anschauungskreise
bewegt sich auch der Philipperbrief, sofern er C2, 6 f.) nicht blos
die Gottesgestalt und Knechtsgestalt unterscheidet, sondern auch
dem vndQXHP iv f^ogqiv, d'iS das iha^ ha <titf so gegenüberstellt,
dass Christus auch hier einen durch bestimmte Momente hindurch-
gehenden Process an sich durchmachen muss. Erst nachdem er
seine an sich göttliche Natur auf dem Wege des sittlichen Strebens
durch die Erprobung seines Gehorsams bethätigt hat, ist er, was
er an sich ist, auch wahrhaft und wirklich mit der vollen Realität
des göttlichen Seins 0«
Halten wir die schon so weit entwickelte Christologie mit der
Johanneischen Form derselben zusammen, so ist der Fortschritt
zu der letztem kein sehr grosser, es war im Grunde nur übrig,
die schon vorhandenen Elemente auf ihren bestimmtem Begriff
und Ausdrack zu bringen. Diess ist durch den johanneischen Lo-
gosbegriff geschehen.
Der höchste Ausdrack für alles, was in Ansehung der Person
Christi den eigenthümlichen Inhalt des christlichen Bewusstseins
1) Man vgl. Über die Christologie des Hebrfterbrieüi und der kleinem
Ptolinischen Briefe Köstlin, der Lehrb. des Evangeliiuns und der Briefe
Johannis 1842. S. 352 f- 387 f.> Schwbgleb, daß nachapostolisdhe Zeitalter
)• 8. 286 f., meinen Paulus 8. 417 f. Theol. Jahrb. 1849. S. 501 f. 1852.
8- i5$ i
998 Vierter Absohnitt. Das Christenthum all höchites Offenbaningsprincip.
ausmacht, ist nun in dem Begriffe des Logos gefunden, mit wel-
chem dasselbe Subjekt, das seiner äussern zeitlichen Erscheinung
nach der Mensch Jesus ist, als ein in der unmittelbarsten Bezie-
hung zu Gott stehendes selbststdndiges göttliches Wesen, ja selbst
als Gott bezeichnet wird. In dem Satze Joh. 1, 1: ^fog ^v 6 Xoyog,
ist der Logos, wenn auch nicht als der absolute Gott, doch als
Gott, oder göttliches Wesen prädicirt Schon im Begriffe des Lo-
gos und in der ganzen Beschreibung, die von ihm gegeben wird,
liegt es, dass er nur als ein für sich bestehendes göttliches Wesen
gedacht werden kann, es weist darauf auch noch besonders diess
hin, dass von ihm gesagt wird, er sei ngog roV ^iop gewesen,
sei (op (ig top xoknop vS natgig. Die eigene Verbindung yod
ihai, mit nQog und dg und dem Accusativ soll das Sein des Logos
bei Gott nicht blos als ein ruhendes, sondern als ein thatiges be-
zeichnen, der Logos ist in steter Thatigkeit und Bewegung, und
das Object derselben ist das Wesen Gottes. Sein immanentes Yer-
hältniss zu Gott ist dadurch ausgedrückt, dass er, als der (5» fk
top xoknov tS nuTQog^ der gleichsam zum Herzen Gottes sich be-
wegende ist, und alles, was ihn von Gott trennt und unterscheidet,
in der Einheit mit ihm aufzuheben sucht Eben diess setzt aber
auch das Bewusstsein seines persönlichen Unterschieds in ihm vor-
aus. Das Absolute seines Wesens liegt daher in dem Ineinander-
sein dieser beiden Momente, dass sein Verhältniss zu Gott ebenso
sehr der Unterschied in der Einheit, als die Einheit im Unter-
schied ist Dass nun aber die höhere göttliche Würde, welche
das christliche Bewusstsein mit der Person Jesu verband, hier so
einfach und schlechthin mit dem Begriffe des Logos bezeichnet
wird, lässt sich nur daraus erklären, dass diese Idee dem Ideen-
kreise d^r Zeit und der Lokalität, in welcher das johanneiscbe
Evangelium erschien, gar nicht fremd war. Bedenkt man, welche
Bedeutung die Logosidee schon in der alexandrinischen Religions-
philosophie hatte, so wäre es gegen alle geschichtliche Analogie,
wenn man annehmen wollte, der Evangelist sei ohne alle Bezie-
hung zu den Zeitvorstellungen, zu der damals so weit verbreiteten
Logosidee, auf seine Lehre vom Logos gekommen. Den Inhalt der
Logosidee selbst konnte er freilich nicht aus der Zeitphilosophie
entnehmen, denn, wenn es nicht zuvor schon eine wesentliche Be-
stimmung des christlichen Bewusstseins gewesen wäre, Christus
Das johaniieische Evangelium. S99
seiner hohem Würde nacli in das Identitätsverhältniss zu Gott zu
setzen, das der Logosbegriff ausdrückt, so hätte er nicht auf den
Gedanken kommen können, diese gangbare Zeitvorstellung auf
Christas überzutragen. Man kann sich daher die Sache nur so
denken: wenn die höhere Würde, welche das christliche Bewussl-
sein Christus beilegt, auf ihren bestimmten Begriff und Ausdruck
gebröcht werden sollte, so schien diess auf keine adäquatere Weise
geschehen zu können, als durch den Logosbegriff, wobei als ver-
mittelnde Vorstellung auch diess mitgewirkt haben mag, dass die
christliche Lehre, deren Urheber Jesus ist, 6 loyog {if5, oder auch
schlechthin 6 kcyug genannt wurde. Auch schon in der Apokalypse
heisst ja Jesus der Xoyog {kfS. Die Bedeutung Wort, d. h. Offen-
barungsorgan , muss im Begriffe des Logos immer festgehalten
werden, da loyog auch Vernunft nur insofern heisst, als das Den-
ken auch einsieden ist Aber auch zu dem gnostischen Ideenkreise
und namentlich der gnostischen Aeonenlehre, in welcher uns die-
selben Begriffe, wie Xoyog, foi>;, qxug^ nlti^w/ia, x*^9^^> dXri&fia,
m einer ganz analogen Verbindung begegnen, steht das johan-
neische Evangelium in einer sehr nahen Beziehung, nur zeigt sich
auch darin wieder das Eigenthümliche und Praktische der ur-
sprünglichen christlichen Anschauungsweise, dass sie mit Besei-
tigung aller jener so mannigfaltigen Vorstellungen, mit welchen
die gnostische Phantasie und Spekulation die übersinnliche Welt
ausgefüllt hat, nur den einfachen Begriff des Logos festhält und
in ihm alles dasjenige zusammenfasst, was dem christlichen Be-
wusstsein als der höchste Ausdruck seiner Anschauung von der
Person Christi gelten sollte. So genau man aber auch mit Rück-
sicht auf solche schon vorhandene Elemente in dem johanneischen
Logosbegriff zwischen Form und Inhalt unterscheiden mag, die
Aufnahme dieser Idee in die johanneische Christologie lässt sich
in letzter Beziehung doch nur daraus erklären, dass der Verfasser
des johanneischen Evangeliums mit der alexandrinischen Religions-
philosophie und der christlichen Gnosis denselben Standpunkt der
tbßoluten Gottesidee theilte. Die Logosidee im höheren Sinne kann
nur da ihre Stelle finden, wo das Wesen Gottes in seinem rein
abstracten Ansichsein in eine so transcendente Feme entrückt ist,
dass das Verhältniss Gottes und der Welt nur durch ein Offenba-
rungsorgan, wie der Logos ist, vermittelt werden kann. Je trans-
300 Vierter Abschnitt. Das Christentbam als höchstes Offenbanmgspiiiic^.
cendenter aber die ganze Betrachtungsweise ist, um so mehr findet
auch hier, wie schon bei Philo, derselbe Widerspruch unvermit-
telter Vorstellungen darin statt, dass auf der einen Seite die ganze
Bedeutung des Logos wesentlich darauf beruht, dass er, weil der
höchste Gott selbst in keine unmittelbare Berührung mit dem End-
lichen treten kann, ein von Gott verschiedenes Wesen ist, auf der
andern Seite aber doch, um das Göttliche an die Welt mitzutheilen,
mit Gott identisch sein muss 0*
Seinen absoluten Standpunkt in der Auffassung der Gottesidee
hat der Evangelist selbst CI9 180 mit klaren Worten ausgesprochen.
Niemand hat Gott je gesehen, weil das Wesen Gottes überhaupt
über alles Endliche absolut erhaben und seiner Natur nach un-
sichtbar ist, Gott und Geist schlechthin identische Begriff^ sind
(4, 24). In dieser Transcendenz liegt die Nothwendigkeit eines das
Yerhältniss Gottes und der Welt vermittelnden Wesens. Diess ift
der Begriff des Logos, als des göttlichen Offenbarungsorgans. Ein
solches kann er aber nur sein in seiner unmittelbaren Einheit mit
Gott Nur als eingeborner Sohn, der im Schoosse des Vaters ist,
kann er offenbaren und aussprechen, was ohne ihn m dem an sich
seienden absoluten Wesen Gottes für die Menschen verschlossen
ist In dieser Identität mit Gott ist er der eingeborene Sohn (1,
14. 18). Da er ausdrücklich Gott genannt wird, so kann auch das
Prädikat des Sohnes sich nur auf seine Wesensgemeinschaft mit
Gott beziehen. Im Begriffe des Sohnes liegt von selbst der Begriff
der Zeugung. Er ist nicht geschaffen, wie die Welt und alles,
was ist, durch ihn geschaffen ist, sondern gezeugt, und der Sohn
Gottes hat daher im johanneischen Evangelium eine ganz andere
Bedeutung als bei den Synoptikern. Was die aus Gott Geborenen
Cl, 13. 14.) auf relative Weise sind, ist er als der Emgebome aaf
absolute. Daher ist Gott auf eine ganz eigenthümliche Weise sein
Vater C5, 18. 10, 36). Einheit und Gleichheit mit Gott ist der Grund-
begriff dieses Verhältnisses. Der Logos ist als Sohn so sehr mit
dem Vater Eins, dass er eigentlich nur die concreto Erscheinung
des Vaters ist Wer ihn sieht, sieht den Vater C14, 9.), er und
der Vater sind Eins CIO, 30. vgl 38. 17, 21). Der Vater und der
Logos oder der Sohn sind zwar zwei verschiedene Personen, jeder
von beiden hat sein persönliches Selbstbewusstsein, aber der per-
1) Vgl. Zelleb, die Philosophie der Grieohen 3» 2. S. 697*
Das johanneische Eyangeliom« 301
sönliche Unterschied ist dadurch aufgehoben, dass jeder von bei-
den in dem Ich des Andern sein eigenes persönliches Ich erkennt
Die Einheit, welche beide verbindet, kann daher in letzter Bezie-
hung nur als eine moralische bestimmt werden, aber sie setzt nur
als freie That, was an sich zu ihrem Wesen gehört. Jeder von bei-
den gibt sein eigenes Selbst an das des Andern so hin, dass er sich
mit ihm Eins weiss und sein Selbstbewusstsein in dem des Andern
aufgeht. Vermöge dieser Einheit des Wesens und Willens kommen
dem Logos oder dem Sohn auch in seiner menschlichen Erschei-
nung wahrhaft göttliche Attribute zu. Wie der Vater auf absolute
und ursprüngliche Weise das Leben in sich hat, so auch der Sohn
durch die Mittheilung des Vaters (5) 26.). Die Machtvollkommenheit
des Vaters ist auch die seinige, er wirkt mit ihr (5. 19 f.), und auf
gleiche Weise gibt es für ihn auch keine Schranke des Wissens
Cl, 49 f., 2, 25. 4, 19. 6, 64. 11, 4. 15.). In dieser Einheit mit Gott
ist der Logos das höchste OfTenbarungsorgan, indem er aber als
solches und als das Princip des Lebens und des Lichts der Men-
schen in der Welt sich thätig erweist, hat er seinen Gegensatz an
der Finstemiss, und je tiefer er in die Welt der Gegensätze ein-
geht, um so mehr tritt nun auch die andere Seite seines Wesens,
was er im Unterschied von Gott Endliches und Menschliches an
sich hat, an ihm hervor. Der Logos ist nicht nur das in der Fin-
stemiss scheinende Licht, er ist auch der Fleischgewordene mit
allem, was die Erscheinung im Fleische zur Folge hat Die Fleisch-
werdung des Logos ist der Uebergang von dem ewigen, an sich
seienden Logos auf den geschichtlichen in der Person Jesu er-
schienenen Messias, aber auf keinem Funkte zeigt sich so sehr
wie hier sowohl das Unvermittelte der beiden Seiten, die über-
haupt die Idee des Logos in sich begreift, als auch der Unterschied
der Johanneischen und der synoptischen Christologie. Während
die letztere den Messias als das Subject der evangelischen Ge-
schichte durch die Einwirkung des n^ivfia ayiop erst in's Dasein
treten lässt, und die Geburt Jesu als den Ausgangspunkt der evan-
gelischen Geschichte mit aller Anschaulichkeit vor Augen stellt,
begnügt sich das johanneische Evangelium mit dem einfachen Satze
koyog aägi iyivito, welcher, so wenig er auch eine nähere
Analyse zuzulassen scheint, gleichwohl das Misverhältniss nicht
verkennen lässt, in welchem in dem johanneischen Christus das
308 Vierter Absclinitt. Dofl Christcnthum ala hi^chstcs Oifenbamngsprincip.
Menschliche zum Göttlichen steht Nicht nur lasst schon der Aus-
druck oa(t^, seiner wahren Bedeutung nach, nur an einen vom Lo-
gos angenommenen Leib denken, sondern es kann auch das aa^l
iy^pfto im Zusammenhang des Prologs nur als blosse Nebenbe-
stimmung genommen werden. Der Logos ist von Anfang an so
sehr dasselbe mit sich identische Subject, dass in dem ganzen Ver-
lauf seiner Wirksamkeit nichts eintreten kann, was ihn erst zu
diesem bestimmten Subject machte, oder zu einem andern Subject
als er bisher war. Sein Dasein in der Welt ist in seiner vollen
Realität schon dadurch gesetzt, dass er das in derFinsterniss schei-
nende Licht ist. Wie er von Anfang an dasselbe Subjekt ist, so
findet auch bei denen, welche im Glauben mit ihm Eins werden,
vorher, wie nachher, dasselbe Verhältniss der Kindschaft Gottes
statt. Seine Fleischwerdung ist nur die höchste Manifestation sei-
ner Herrlichkeit für die, die ihn in sich aufnehmen. Das adgl lyi-
t'fto hat daher gar nicht die Bedeutung, die es als der eigentliche
Akt der Menschwerdung haben zu müssen scheint, es ist nur ein
Accidens der stets sich gleichbleibenden Persönlichkeit des Logos.
Ist aber einmal mit diesem Satze die Identität des Logos mit der
geschichtlichen Person Jesu schlechthin als Thatsache gesetzt,
so ist die ganze evangelische Geschichte wesentlich die Selbsl-
darstellung des Logos. Der mit der Person Jesu identische Logos
stellt sich selbst in den Werken, in der Lehre und in dem Tode
Jesu dar, und in allen diesen Beziehungen kommt alles darauf an,
dass er im Glauben an seine Person als der erkannt wird, der er
an sich ist Eben diese Selbstdarstellung Jesu, als des Logos, ist
auch seine fortgehende Verherrlichung, deren wichtigstes Mo-
ment der Tod Jesu ist Wie im johanneischen Evangelium schon
die Auferstehung in dem mit ihr identischen Kommen des Herrn
in dem Geiste eine vergeistigte Bedeutung hat, so schliesst sich in
ihm auch das Ende mit dem Anfang aufs Innigste zusammen. Jesns
geht zum Vater zurück, von welchem er ausgegangen ist, dahin,
wo er zuvor war C6, 62.). War er nun zuvor, ehe er in die Well
kam und Fleisch wurde, der noch nicht fleischgewordene rein gött-
liche Logos, so kann er auch nachher nichts anders sein, und es
geht somit daraus die nothwendige Folge hervor, dass er, weil ja
nur der Geist es ist, der lebendig macht, das Fleisch aber nichts
nützt C69 630? die irdische Hülle des Fleisches, die er annahm,
Das Johanncische Evangelium. 303
zuletzt auch wieder ablegt, um rein der zu sein, der er an sich ist,
in der unmittelbaren Einheit mit dem Vater, mit welchem, wie er
selbst schlechthin Geist im höchsten absoluten Sinne C4, 24) ist,
nur Geistiges Eins sein kann 0-
So überwiegend ist demnach schon hier die Tendenz, die
ganze Erscheinung und Persönlichkeit Jesu vom Standpunkt seines
übersinnlichen Seins aus aufzufassen und dasMenschliche dem Gött-
lichen so unterzuordnen, dass alle Realität seines persönlichen Seins
auf die Seite des Göttlichen fällt, oder beides, das Göttliche und das
Menschliche, wenigstens nur unvermittelt neben einander steht In
der Logosidee, wie sie im johanneischenEvangelium der feste Halt-
punkt des christlichen Bewusstseins geworden ist, ist der Punkt
erreicht, von welchem aus das christliche Dogma zu seinem be-
stimmten theologischen Inhalt sich fortentwickeln konnte. Die Lo-
gosidee selbst aber mit den wesentlichen Bestimmungen , welche
der Johanneische LehrbegrifT mit ihr verbindet, ist um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts noch keineswegs so festgestellt, dass sie als
der objektive Ausdruck des gemeinsamen dogmatischen Bewusst-
seins gelten kann, wie doch mit Recht zu erwarten wäre, wenn das
Johanneische Evangelium schon seit dem Ende des ersten Jahr-
hunderts allgemein bekannt war. Das dogmatische Bewusstsein
jener Zeit schwankt vielmehr solange noch zwischen verschiedenen
Vorstellungen, bis die Logosidee in ihrerjohanneischenForminder
zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts allmählig die übergrei-
fende Macht über sie gewinnt. Es kommen in dieser Beziehung
folgende Momente in Betracht:
1. Der Hauptbegriff, mit welchem das Göttliche der Person
Christi bezeichnet wird, ist nicht der Begriff des ^dyog^ sondern der
des nv(of4tt^ sei es nun, dass unter nveufia das überhaupt zum We-
sen Gottes gehörende geistige Princip zu verstehen ist, oder ein
Engel, als eines der Wesen , in welchen das geistige Princip zur
konkreten Form seiner Existenz sich individualisirt. Die erstere
Vorstellung begegnet uns in den Briefen des römischen Clemens,
in welchen, wie zum Theil auch in dem Briefe des Barnabas das
Göttliche und Menschliche in Christus wie Geist und Leib unter-
schieden wird *) , die letztere scheint die des Hirten des Her-
1) Man vgl. meine kritischen Untersuchungen über die kanon.Ev.S. 77 f»
2) Man vergl. den zweiten Brief des röm. Clemens an die Kor. c. d
und den Brief des Barnabas c. 7*
S04 ^^^^^^ Absclmitt. DasChrUtenthnm als hOohftM Oflbnbanmgfprinc^.
mas zu sein, von welchem der Sohn Grottes, der älter ist, als alle
Kreatur, der dem Vater bei der Schöpfung berathendznr Seite stand
und der die ganze Schöpfung trägt und hält, zwar Spiritus sanctos
genannt wird, aber nur in dem Sinn, in welchem die Engel über-
haupt Spiritus sancti sind 0* Bs war überhaupt eine in der ältesten
Kirche sehr verbreitete und populäre, auch dem Ebionitismns eigen-
thümliche Vorstellung, als das in Jesu erschienene präexistente
Subjekt einen Engel zu denken, wie ja auch noch bei Justin die
Angelologie in einem sehr engen Zusammenhang mit der Christo-
logie erscheint 0* Um so mehr konnte man sich auch die Mensch-
werdung nur als die Annahme eines Leibs und den Leib nur ab
das Gefäss sich denken, in welchem der Geist wohnt *).
2. Auch da, wo die Logosidee schon auf Christus angewandt
wird, erscheint sie noch als eine so unbestimmte und fliessende
Vorstellung, dass sie mit dem johanneischen Logosbegriff nicht
geradezu identificirt werden darf. Es hat noch keine bestimmt»«
dogmatische Bedeutung, wenn im ersten Briefe des römischen Cle-
mens Cc.273 von Gott gesagt wird, dass er h loyvf r^g fnyalmavprig
aux5 awigi^aato ra ndvta, nat Iv X6y(^ ^Ji^ara» avrd natag^t-
V/a», obgleich unter dem Xoyog r^g fifyalmauptjg^ ebenso wie unter
dem axfJTirQov rr,g fnyaXwavptjg Qc, 16) und dem dnavyaofict r^C
fkfyaXoKrvißtjg avzS (c. 36), nur Christus verstanden werden kann.
Nur aus dem Mangel einer bestimmteren Fixirung der Logosidee
lässt es sich erklären, wenn sogar im patripassianischen Sinne Gott
zu dem unmittelbar in Christus handelnden Subjekt gemacht wird ^).
Dasselbe findet sich auch in den pseudoigiiatianischen Briefen, wenn
aber in eben diesen Briefen Christus nicht blos der von dem Einen
Vater Hervorgegangene und zu dem Einen Zurückgehende, sondern
auch als der Sohn Gottes, durch welchen der Eine Gott sich ge-
1) Bimü. 9, 12. 5, 3. t
2) Vergl. Justin Apol. 1 , 6* Hermag Pastor Bim. 3» 4. Cpiph. Haef.
30» 3. 16.
3) Man vergl. über diese Form der ältesten Christologie nnd die tat
sie sich besiehenden Data besonders die Abhandlnng von J. HelwaOi die
Vorstellung von der Präezistenz Christi in der ältesten Kirche, Theol. Jahrb*
1848. B. 227 f.
4) Wie im ersten Brief des röm. Clemens c. 2. Vergl. des Ignatios
Brief an die Eph. o. l.
Die Logotidee. 305
offenbart hat, sein Xoyog atd$og, bm ano aiy^g ngofk^tup genannt
wird, 80 kommt diess dem johanneischen Logosbegriff sehr nahe O9
am so mehr muss es dagegen befremden, dass selbst noch bei Justin
die LogosYorstellung, so geläufig sie ihm auch ist, so wenig mit
dem .Johanneischen Begriff zusammenstimmt Christus, oder der
Sohn Gottes, ist bei Justin ein von Gott numerisch oder persönlich
yerschiedenes Wesen, von dem Vater gezeugt, oder nach emana-
tistischer Anschauung so aus ihm hervorgegangen, wie Feuer an
Feuer ohne Verminderung der Substanz sich entzündet, er ist der
Erstgeborene der ganzen Schöpfung, der schon vor der Schöpfung
mit dem Vater zusammen war und durch welchen der Vater alles
geschaffen hat, er ist selbst auch Gott, aber ungeachtet aller dieser
Prädikate dem Vater so untergeordnet, dass er, wie erja auch aus-
drucklich der Diener des Weltschöpfers genannt wird, nur in die
Hasse der die Wirksamkeit Gottes vermittelnden Wesen gehört,
ud der Ausdruck loyog ist noch so wenig der ihn specifisch be-
zeichnende Name, dass er nur eine der verschiedenen, sehr mannig-
faltigen Benennungen ist, welche überhaupt diesem göttlichen We-
sen zweiter Ordnung gegeben werden 0* Die Logosidee erscheint
somit zur Zeit Justins als eine auch in der christlichen Khrche gang-
bare Vorstellung, dass aber die eigentliche und ursprüngliche Quelle
derselben nicht das johanneische Evangelium ist, liegt bei Justin
ziemlich klar vor Augen.
3. Die Logosidee ist nicht blos die genauere dogmatische Fi-*
xirung des Begriffs, welchen man mit der hohem göttlichen Würde
Christi verband, sie enthält auch ein Moment, in welchem das christ-
liche Gottesbewusstsein sich von dem jüdischen bestimmter unter-
schied. Solange das Göttliche in Christus nur unter dem unbe-
stimmten Begriffe des Geistes, oder in der Form der Angelologie,
gedacht wurde, konnte noch keine Kollision mit der streng monar-
cUanischen Gottesidee des Judenthums entstehen , bei der Logos-
idee aber, obgleich sie selbst ursprünglich dem Boden der alexan-
drinischen Religionsphilosophie entsprossen war, war eine solche
aicht zu vermeiden. Schon die johanneische Logoslehre enthält die
1) Vergl. den Brief an die Eph. c. 7« 19« an die Magnes. c. 7. 8*
2) Man vgl. hierüber Hellwag a. a. O. S. 258 f« und besonders Hil-
^iKFSLDy Krit. Unters, über die Evang. Justins u« s. w. 1850« S. 397^^ Das
£7. und die Briefe Job. 1849* S. 130 f.
B«ttr» 4it dr«i «rtt«ii J«hrU. 20
306 vierter Absclmitt. Üas CAirittentkam mit höclistes OffenbArangipriiieip.
wesentliche Bestimmung, dass der Logos Gott ist, und auch Justin,
so gering seine Vorstellung vom LiOgos ist, prfidicirt ihn doch aus-
drücklich als Gott 0- Diese Bestimmung ist es nun, an welcher
die zum katholischen Dogma sich ausbildende Christologie zu der
jüdischen Form derselben in das Verhältnisseines Gegensatzes kam.
Wie in der Christologie der pseudoclcmentinischen Homillen die
judaistische Ansicht Yon der Person Christi in ihrer ausg^biidetsten
Form sich darstellt, so ist auch dies für sie charakteristisch, dass
sie den Funkt, in welchem die auf der Logosidee beruhende Chri-
stologie der Monarchie Gottes zu nahe zu treten scheint, in seiner
ganzen Schärfe auffasst, und von einem Sohn Gottes, der selbst Gott
ist, schlechthin nichts wissen will. Der Herr habe sich ebensowe-
nig selbst Gott genannt , als er andere Götter ausser dem Welt^
Schöpfer lehrte, mit Recht aber habe er den selig gepriesen, der
ihn den Sohn Gottes, des Schöpfers des Weltalls, nannte ^). GlaoU
man doch sich schon in die Zeit der arianischen Kontroversen ver-
setzt zu sehen, wenn in derselben Stelle der Homilien der Unter-
schied zwischen dem Vater und dem Sohn durch den Gegensatz der
beiden Begriffe des Ungezeugtseins und des Gezeugtseins so be-
stimmt wird, dass beide durch eine unausfüllbare Kluft von einan-
der getrennt sind. Wie demnach der Sohn schlechthin ein Anderer
ist als der Vater, so darf ihm auch nicht derselbe Name Gott ge-
geben werden, weil das Gezeugte mit dem Ungezeugten nicht den
gleichen Namen haben kann, selbst dann nicht, wenn der Gezeugte
gleichen Wesens mit dem Zeugenden ist Der Name Gott soll nur
auf das gehen, was ihm allein eigenthümlich und schlechthin ua-
mittheilbar ist. So wenig hatte demnach auf diesem, den streng jü-
dischen Gottesbegriff festhaltenden Standpunkt der johanneiscke
Satz, dass der Logos Gott ist, auf welchen diese Polemik allein be-
zogen werden kann, irgend eine Auktorität, und es erhellt somit
auch hieraus, dass die Logosidee einem religiösen Gebiet angehört,
in welchem die Schranken des jüdischen Gottesbewusstseins schoi
in weiterem Umfang durchbrochen waren. Und doch hatte jaaack
der Johanneische Lehrbegriff den als Gott prädicirten Logos oder
Sohn dem unendlich grösseren Vater so untergeordnet, dass der
Unterschied zwischen beiden noch immer gross genug war. Allein
1) Apol. 1. c. 63: off Mtl loyos ngoitoTonot wv tSO'bS ual ^9o9 vnmfZ***
2) Hom. 16, 15.
Die Logosidee. 307
sobald einmal auch nur in Einem Punkte der Vater und der Sohn
einander so gleichgestellt waren, wie diess der beiden gemeinsame
Name aussagt, so war schon dadurch das Ziel vorgezeichnet, nach
welchem die weitere Entwicklung des Dogma ihre Richtung zu
nehmen hatte, und die einmal begonnene Bewegung konnte nicht
ruhen, bis die Identität beider eine nach allen Seiten so viel mög-
lich abgeschlossene war.
Hiemit ist im Allgemeinen der weitere Gang angedeutet, wel-
chen das an der Logosidee sich fortbewegende Dogma von der
Gottheit Christi nahm. Die Logosidee ist nun die allgemeine Grund-
form, in welcher man sich das Göttliche in Christus dachte, und
durch welche man den Begriff desselben nach seinen bestimmteren
Momenten für das dogmatische Bewusstsein festzustellen suchte.
Lässt sich bei Justin noch keine Bekanntschaft mit dem johanneischen
Evangelium nachweisen, so gibt sich dagegen schon bei seinen
iftchsten Nachfolgern, bei Tatian, Athenagorais, Theophilus, die Ein-
wirkung der johanneischen Logosidee immer deutlicher und be-
stimmter zu erkennen. Da aber die Logosidee selbst eine doppelte
Seite hat, und der Identität des Logos mit dem Vater als nicht min-
der wichtiges Moment seine eigene Persönlichkeit gegenüber-
steht, so ist CS zunächst die letztere Seite, deren Bedeutung vor-
zugsweise fixirt wird. Um vor allem den als Logos gedachten Sohn
in der vollen Realität seines Daseins zu haben, musste man sich
auch eine bestimmtere Vorstellung seines Ursprungs machen. Als
Sohn konnte der Logos nur entstanden oder aus dem Wesen Gottes
erzeugt sein. Es musste somit einen bestimmten Zeitpunkt seiner
Entstehung geben, welcher kein anderer sein konnte, als derselbe,
in welchem überhaupt alles erst ins Dasein trat. Das alles ins
Dasein rufende Schöpfungswort ist ja an sich dasselbe Wort Gottes,
auf welchem auch der Begriff des Logos als des Sohns beruht. Ist
aber auch der Logos als Sohn erst in einem bestimmten Zeitpunkt
und durch einen bestimmten Akt Gottes entstanden, so schliesst
diess nicht aus, dass er als Logos auch zuvor schon existirte, nur
in anderer Weise als nachher, nachdem er als Logos auch zum
Sohn geworden ist. Die doppelte Bedeutung des Wortes Logos
führte so von selbst zu der Unterscheidung des Xoyog ipdid&etog
und des Xoyog nQoq^o^ixog^ welche Theophilus in diesem Sinne zu-
erst in den nun stehenden Sprachgebrauch einführte. Das allge-
OA »
dos Vierter Absc^itt. Das Christentkom als höclistes Offenbamngsprincip.
meine Yerhältniss, in welchem der immanente Gedanke zu dem
ausgesprochenen Wort, oder die an sich seiende Idee zu ihrer rea-*
len Verwirklichung steht, wurde so die Grundanschauung für das
Yerhaltniss des Vaters und des Sohns; da man sich aber auch das
aus dem innem Gedanken hervorgehende äussere Wort, oder die
sich realisirende Idee, nur nach der Analogie eines Naturprocesses
denken konnte, in welchem Leben aus Leben sich erzeugt, und Gott
als die Ursubstanz und Urkrafl alles Seins und Lebens den natür-
lichen Trieb in sich hat, etwas Anderes aus sich hervorzubringen,
oder aus sich emaniren zu lassen, so bildete sich auf diesem Wege
jene Emanations- und Subordinationstheorie, bei welcher es nur
noch darauf ankam, die Emanationen und Projektionen des gött-
lichen Wesens in der Stufenfolge des Vaters und des Sohns, in
welcher der heilige Geist von selbst als drittes Glied sich anschloss,
trinitarisch so abzugrenzen, dass sie nicht mit den übrigen geschaf-«
fenen Wesen eine gar zu ununterbrochene Reihe bildeten. Der
Hauptreprasentant dieser sinnlichsten und konkretesten Form der
Trinitatsidee ist Tertullian 0-
Je sinnlicher aber das ganze Gepräge dieser Idee war, um so
weniger konnte es an einer Gegenwirkung fehlen. Der Punkt, auf
welchem vor allem einer zu weit gehenden Versinnlichung der
Gottesidee begegnet werden musste, war der göttliche Akt der
Zeugung des Sohns, durch welchen die Kategorien eines zeitlichen
Werdens und dieselben sinnlichen Affektionen, welche man an dea
Gnostikem tadelte, in das Wesen Gottes gesetzt wurden. Es kann
daher nur als eine Reaktion gegen die zu sinnliche Gestaltung der
Logosidee betrachtet werden, wenn Kirchenlehrer, wie AthenagiH
ras und Irenäus, das Hervorgehen des Sohns aus dem Vater über-
haupt nicht als ein besonderes Moment fixirten. Da aber an diesem
Moment auch die persönliche Subsistenz des Sohnes hängt, so tritt
bei diesen Kirchenlehrern die Seite des Unterschieds gegehdieder
Einheit zu sehr zurück, und der Sohn hat sich in ihrer Anschaumig
von seiner Identität mit dem Vater noch zu wenig abgelöst Je entr
schiedener überhaupt, wie diess insbesondere die Eigenthümlichkeit
der Alexandriner war, die Abneigung gegen alle Anthropomor-
1) Man vergL sowohl bei dem Obigen als bei dem Folgenden die spe-
ciellere Entwicklung mit den Beweisstellen in meiner Geschichte der Lehre
von der Dreieinigkeit Th. 1. S. 163 f.
Die Monarchianer. 309
phismen und Emanationsvorstellungen war, um so schwieriger
musste es sein, den Unterschied des Sohns vom Vater so festzuhal-
ten, wie es der Begriff beider als persönlich verschiedener Wesen
erforderte. Auffallender ist diess bei keinem andern Kirchenlehrer
als bei dem alexandrinischen Clemens, bei welchem in den über-
schwanglich hohen Prädikaten, die er dem Sohn gibt, nur das ab-
solute Wesen des Vaters sich reflektirt, und der das Verhältniss
Gottes und der Welt vermittelnde Charakter des Logos in der Ein-
heit mit Gott beinahe ganz entschwindet In dem abstrakten, in
letzter Beziehung rein negativen Gottesbegriff der Alexandriner
und in dem sinnlichen Realismus eines Tertullian, welcher auch
das Wesen Gottes nur als eine körperliche Substanz sich denken
konnte, stellt sich der Gegensatz der herrschenden Ansichten in
seiner grössten Weite dar, und in Gemässheit dieses Gegensatzes
fielen die beiden Bestimmungen, welche in dem Begriffe des Sohnes
rar Einheit verknüpft werden sollten, die persönliche Subsistenz
und die Identität mit dem Vater, noch immer unvermittelt ausein-
ander. Entweder hatte man nur einen Sohn, welcher vom Vater
sich nicht persönlich unterscheiden Hess, oder nur einen solchen,
welcher mit dem zeitlichen Ai^fang seines Daseins und seiner tiefen
Unterordnung unter den Vater, wenn auch aus dem Wesen des
Vaters gezeugt oder emanirt, doch nur in die Kategorie des Ge-
schaffenen gehörte.
Dass der Sohn beides zugleich sein müsse, sowohl Eins mit
dem Vater, als auch wieder persönlich verschieden von ihm, war
schon zur Zeit des Irenaus, Tertullian, Clemens von Alexandrien,
obgleich diese Kirchenlehrer seihst unter sich nicht ganz zusam-
menstimmten, die mehr und mehr vorherrschende, schon eine ge-
wisse kirchliche Auktorität ansprechende Lehre. Es kann diess
jedoch nur in einem beschränkten Sinne gesagt werden, da dieser
Klasse von Kirchenlehrern eine Reihe Anderer gegenüberstand,
welche mit der Vorstellung eines zur fortdauernden persönlichen
Subsistenz aus Gott hervorgegangenen Untergotts sich keineswegs
befreunden konnten. Nennt man sie Monarchianer, so ist dadurch
ihr Standpunkt als der des abstrakten jüdischen Monotheismus be-
zeichnet, welcher alles Emanatistische, einen Innern Unterschied
und Lebensprocess in Gott Voraussetzende, alles, was die Kirchen-
lehrer im Sinne ihrer aus einer Mehrheit göttlicher Wesen sich
310 Vierter Abschnitt. Das Christenthum all höchstes Offenbanrngsprinoip«
konstruirenden Theologie mit dem Ausdruck Oekonomie zu be-
zeichnen pflegten , von sich fern zu halten suchte. Neben diesem
monotheistischen Interesse wirkten aber auch noch andere Momente
dazu mit, dieser Lehrweise eine Bedeutung zu geben, vermdge
welcher es das ganze dritte Jahrhundert hindurch noeh immer in
Frage stand, auf welche Seite zuletzt das entscheidende Ueberge-
wicht fallen werde.
Einer der ersten in der Reihe dieser Monarchianer istPRAxsAS.
Wir kennen ihn nur aus der von Tertullian gegen ihn geschrie-
benen Schrift und es ist auffiallend , dass er weder von Theodoret,
noch dem Verfasser der Philosophumena, welchem er doch als ein
in Rom aufgetretener Häretiker nicht unbekannt sem konnte, noch
von einem andern Kirchenlehrer erwähnt wird. Nach Tertullian
unterschied er das Göttliche und Menschliche in Christus nur wie
Geist und Fleisch. Dasselbe Subjekt ist als Geist der Vater, ab
Fleisch der Sohn. Der sogenannte Patripassianismus ist daher auck
hier, wie überall, wo das Göttliche in Christus nur in das mit dem
Wesen Gottes identische npiufia gesetzt und die aa^l als das na-
turliche Korrelat des jtviüfia betrachtet wird, die unvermeidliche
Konsequenz. Praxeas selbst zog auch den Patripassianismus nickt
in Abrede, nur wollte er nicht schlechthin von einem pati des Va-
ters, sondern nur von einem compati des Vaters mit dem Sohn ge-
sprochen wissen, wie sich ja auch nach seiner Lehre von selbst
versteht, da der Vater als Geist nur durch die Vermittlung des
Fleisches, nur als der mit dem Fleisch verbundene Geist, oder nur
als das mit dem Sohn identische Subjekt, leiden konnte. Verglei-
chen wir die Lehre des Praxeas, wie sie Tertullian darstellt, mü
demjenigen, was der Verfasser der Philosophumena als Lehre des
Callistus angibt, welcher als Schäler des Cleomenes und Noetos
unter dem römischen Bischof Zephyrinus in Rom auftrat, so ist die
Lehre beider ganz dieselbe. Wie Praxeas behauptete auch Cal-
listus, der Vater und der Sohn seien nur dem Namen nach ver-
schieden, an sich Eins, der unzertrennliche Geist, der in der Jung-
frau fleischgewordene Geist sei nicht etwas Anderes neben dem
Vater, sondern Eines und dasselbe. Desswegen heisse es Job. 14,
11 : glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir?
Das, was man sieht, als den, Menschen, sei der Sohn, der Geist,
welcher in dem Sohn seine Stelle eingenommen hjat» sei der Vattfr,
Praxeas. Callistns. NoStas. 311
denn Vater und Sohn seien nicht zwei Götter, sondern Einer, der
Vater in ihm habe das Fleisch angenommen und durch die Einigung
mit sich zu Gott gemacht und zur Einheit verbunden, der Eine Gott
heisse Vater und Sohn, diese Eine Person könne nicht zwei sein
und so habe der Vater mit dem Sohn gelitten 0* Das Hauptmoment
ist, dass nicht Mos der Vater und der Sohn identificirt, sondern auch
Gott und Geist als schlechthin identische Begriffe genommen wer-
den« Vater und Sohn schliessen sich also wie Geist und Feisch, so-
mit auch ohne die Vermittlung des Logos, in Jesus zur persönlichen
Einheit zusammen.
Bekannter als Praxeas ist schon Noetus aus Smyrna , dessen
geschichtliche Bedeutung hauptsachlich darin besteht, dass er der
Vorlaufer desSabellius ist Wie man auch sonst diese Monarchianer
Uassificiren mag, in jedem Fall bilden Noetus und Sabellius dadurch
ein eng Terbundenes Paar, dass der leitende Gedanke ihrer Lehre
nicht der Monotheismus ist, sondern eine philosophische Weltan-
schauung., wie man sie mit dem allgemeinen Namen des Pantheis-
mus zu bezeichnen pflegt. Die kirchlichen Schriftsteller, welche,
wie namentlich der Verfasser der Philosophumena, nicht blos alles
Häretische aus der griechischen Philosophie ableiten, sondern auch
jede Harese auf ein bestimmtes philosophisches System zurück-
fuhren zu müssen glauben, finden zwischen der Lehre des Noetus
und der des Heraklitus eine so nahe Verwandtschaft, dass sie den
erstem geradezu einen Schüler des letztern nennen. Wie Hera-
klitus die Natur als die Harmonie der Gegensötze betrachtete , als
dieAUeinheit, in welcher zwar der äussern Erscheinung nach immer
das Eine dem Andern entgegensteht, an sich aber alle Gegensätze
zur Einheit aufgehoben sind , wie er von dem Weltganzen gesagt
haben soll, dass es sowohl auflösbar als unauflösbar, sowohl ent-
standen als nicht entstanden, sowohl sterblich als unsterblich sei *y,
1) Philo8. 9i 12» S. 289* — »rwc rov nat^ga gvf/kTrtnov^ivai rcf» va«^.
« yoQ &ikßi kiyeiv top natiga nsnov&ivai. Ganz dasselbe sagt Tertallian
Ton Praxeas. Vergl. die Lehre von der Trin. 1. S. 251. Auf die SteUe
Job. 14« 11 berief sich auch Praxeas Tert. adv. Prax. c. 20'
3) Philos. 9i 9* S. 280'* 'HgaxltnoQ fitv Iv (ptja\v ihai tonav Bta^gB-^
toPt ddiaigsTOVt ^«vi^roV, ay^vijfovy xyi/rjrovy af^dvaTor, kttyov aitava, irariga
vUv etc. In der Reihe der bisher bekannten Fragmente findet sich keines, das
■0 lautet, nur die beiScHLSiEBiiACHEB in derAbh.überHeraklitNr. 38und5i
318 Vierter Abschnitt. Das Christenthum ftlf höchstes Offenbaningflpriiidp.
SO soll auch Noetus es nicht für widersprechend gehalten haben,
dass dasselbe Subject entgegengesetzte Bestimmungen in sich ver-
einigt, dass es als Vater unsichtbar, nicht entstanden, unsterblich,
als Sohn aber das Gegentheil davon ist, Gott als Vater und Sohn
sowohl das Eine als das Andere ist, wann und wie er vnll. Diess
behauptete Noetus, wie es scheint, im Sinne einer Weltansicht,
welche das an sich Eine Wesen Gottes sowohl in die wechselnde
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen herausgehen, als auch aus der-
selben wieder in sich zurückgehen Hess. Doch ist es erst Säbel-
lius, in dessen Lehre die allgemeine, schon bei Noetus, vielleicht
auch schon bei Praxeas zu Grunde liegende Ansicht klarer her-
vortritt
Um die Lehre des Sabeluus, deren Darstellung auch noch
Neander in einem wesentlichen Punkte verfehlt hat , richtig auf-
zufassen, kommt es hauptsächlich auf die Bedeutung an, welche
er im Unterschied von seinen Vorgängern der Logosidee gegeben
hat. Ist bei Praxeas und Noetus diess das Eigene, dass sie ohne
Vermittlung des Logos Gott zum Vater des Sohnes werden lassen,
so hat dagegen Sabellius nicht nur die schon zu einer wesentlichen
Bestimmung des Zeitbewusstseins gewordene Logosidee in seine
Entwicklung der Trinitätsidee aufgenommen, sondern sie auch zu
dem Princip derselben gemacht Das Charakteristische der Lehre
des Sabellius ist sowohl die Unterscheidung einer Monas und Trias,
als auch die Art und Weise, wie er die Monas zur Trias werden
lässt Das Vermittelnde zwischen beiden, das Princip der Bewe-
gung, durch welche die Monas zur Trias übergeht, ist der Logos.
Der Logos hat bei Sabellius eine ganz andere Stellung, als ihm
sonst gegeben wird. Während nach der gewöhnlichen Vorstellung
der Logos, um zum Sohn zu werden, aus dem Vater hervcH^geht,
geht bei Sabellius der Logos der ganzen Trias voran, und es hat
somit auch schon der Vater, als das erste Glied der Trias, den Lo-
gos zu seiner Voraussetzung. Eben desswegen ist nun aber auch,
da alles, was ist, erst in der Trias ins Dasein tritt, der Logos bei
Philos. und yerm. Sehr. 2. S. 80 und 122 haben einen analogen Sinn.. Als
das Wesentliche der Lehre Heraklits betrachten die Philos., dass er h taij
fioiga rid'STai xal tifia tat, ifitpav^ rotff atpavlatvy (ui 6v xt, xo ifAtpavis nal
t6 dtpavh ofioloyafAivwi viri^x^v* f^s dient diess wenigstens zur Yerdent*
lichnng der Lehre No$ts,
Sabellius. 813
Sabellius kein für sich bestehendes Sein, sondern nur der lieber«
gang zum Sein, das erst werdende Sein, das Princip der weltschö-»
prerischen Bewegung. Das Erste und Ursprüngliche, das Prin-
cip, das alles Gewordene zu seiner nothwendigen Voraussetzung
hat, das an sich Seiende, das alles als schlechthinige Einheit in
sich schliesst, ist die Monas, deren Unterscheidung vom Vater vor
allem festgehalten werden muss, wenn nicht der ganze Gesichts-
punkt, von welchem aus die Anschauung des Sabellius aufgefasst
werden muss, verrückt werden soll. Was in der Monas als Ein-
heit noch verschlossen ist, muss aus ihr hervorgehen und offenbar
werden. In diesem Sinne sprach Sabellius von einem schweigen-
den und redenden, oder einem unthätigen und thätigen Gott Der
redende Gott kann nur der Logos in seiner Beziehung zur Monas
sein, nur würde man auch darin wieder den Sinn des Sabellius ver-
fehlen, wenn man unter dem Logos, wie er sich ihn dachte, nur
das mit Einem Male ausgesprochene Schöpfungswort verstehen
wollte. Da er von dem an sich seienden Gott, der substanziell
einer und derselbe ist, aber nach dem jedesmal eintretenden Be-
dürfniss verschiedene Gestalten annimmt, sagte, dass er bald als
Tater, bald als Sohn, bald als heiliger Geist sich ausspreche (^^a-
Uffa^ai) ^3, so ist klar, dass er unter dem Logos nicht blos den
Akt der Weltschöpfung verstand, sondern den ganzen, in den drei
Formen seiner Trinitätsidee verlaufenden Weltentwicklungsprocess
als einen und denselben Logos, als ein fortgehendes Reden, eine
durch verschiedene Momente hindurchgehende dialektische Thä-
tigkeit Gottes betrachtete. Wie daher der Logos das Princip der
Weltentstehung und Weltentwicklung ist, so wird der der Welt
immanente Gott erst in der Welt zum wirklich existirenden, und
der Weltentwicklungsprocess ist auch der trinitarische Process,
in welchem der an sich Eine Gott, als Vater, Sohn und Geist, in
diesen drei bestimmten Formen, welche ebenso viele Momente des
Weltverlaufs sind, in der concreten Realität seines Seins sich dar-
stellt Diess ist der Begriff der ngdaatna des Sabellius, in welchen
I) Basilios hebt £p. 210. das für die Lehre des Sabellius besonders
charakteristische Moment hervor: rov avrov ^tov eva rt^ vnoMifAir^ ovra
^^09 ras ixaaror« ftapaninraoas tQilM /AtTafAOQtpHfAtvov y vvv /itv oU na^
t>/^a, V9V 3i (of viop, PVP di ws nvBvfia ayiov 3$aliyaa&ai, Basilios fOhit
^ew als eigene Worte des SabeUhu an.
314 Vierter Abschnitt. Das Christenthnm als höchstes Offenbanmgsprindp.
das immanente Verhältniss Gottes und der Welt, das die Grund-
Anschauung des Sabellius ist, schon darin sich zu erkennen gibt,
dass sie nicht als zugleich existirend, sondern nur als aufeinander
folgend gedacht werden können. Wie die Welt TOn Periode zu
Periode eine andere wird, und einen andern Charakter an sicii
trägt, so nimmt auch Gott in jeder derselben gleichsam ein anderes
•Antlitz an, er wechselt seine Gestalt und stellt sich als Vater, Solm
und Geist immer wieder mit einer anders bestimmten Persönlich-
keit dar. Jedes ngoatanop ist ein anderes d$aldyia^m$^ und die
drei ngoamna zusammen sind daher nur der in ihnen sioh expli-
«irende Begriff des Logos. Was die einzelnen n^onrnua in ihrem
Unterschied von einander betrifft, so ist es sehr bezeichn^d für
die Ansicht des Sabellius überhaupt, dass er, wie ausdrücklich ge-
sagt wird 0? dem Vater nicht die Weltschöpfung, sondern nur die
Gesetzgebung zuschrieb. Da der schweigende Gott nur durch den
Logos zum redenden wird, so kann die Weltschöpfung als der
Uebergang vom Sein zum Werden, als der Anfang der auf die
Welt sich beziehenden göttlichen Thätigkeit nur zum Begfriff des
Logos gehören. Erst mit dem Dasein der Welt kann die Reihe der
die Trias bildenden göttlichen n^toacunu sich entwickeln. Die erste
Periode oder Phase der Weltgeschichte, die des alten Testaments,
ist das TtQoaiunop des Vaters. In der zweiten Weltperiode erscheint
derselbe Gott in der Person des Sohns, und wie er in der ersten
als Vater und Gesetzgeber sich vernehmen liess, so ist es jetzt die
Menschwerdung des Logos, welche dieser Epoche ihren eigen-
thümlichen Charakter gibt Es könnte diess leicht die Meinung er-
wecken, der Logos stehe zu dem ngoamnop des Sohnes in einem
andern unmittelbareren Verhaltniss als zu den beiden andern iipoV
mna , allein er ist auch schon in dem ngoafiinov des Vaters das-
selbe wirkende Princip, die Gesetzgebung des Vaters ist ebenso
sein Werk, wie die Menschwerdung des Sohnes, er geht in dem
Einen, wie in dem Andern , in den Entwicklungsgang der Welt-
geschichte ein, und nur die Form, in welcher er erscheint, ist
eine andere. Dasselbe findet bei dem dritten n^dtroinoif statt Die-
selbe gottmenschliche Einheit, welche in dem menschgewordenen
1) Nach Theodoret Haer. fab. 2, 9* schrieb SabelUof dem Vater in
Alten Testament nur das vofioi^er^aat sä.
BabelUus. 81 5
Logos, als dem Einen Individuum, sich darstellt, mit welchem der
Logos zur persönlichen Einheit sich yerband, erstreckt sich in dem
dritten ngoamnop^ als der Form des heiligen Geistes, auf die Ge-
sammtheit der glaubigen oder geistigen Subjecte, deren jedes für
sich auf relative Weise dasselbe ist, was der Sohn, als der Eine
Gottmensch, auf absolute ist Wie Gott in der Reihe der ngoaoma,
der verschiedenen Phasen seiner Offenbarung, immer enger mit
der Welt und Menschheit sich zusammenschliesst, so ist das dritte
nponmno», in welchem er in der Form des heiligen Geistes mit den
Menschen sich vereinigt und jeder Einzelne für sich seiner Einheit
mit Gott sich bewusst ist, nicht blos die allgemeinste, sondern auch
die intensivste Durchdringung des Göttlichen und Menschlichen«
Das wirkende Princip ist auch in dem ngoae^nop des heiligen Gei-
stes der Logos als der redende Gott Wie er ki dem ngotfomop des
Sohnes in dem Einen Individuum Mensch ist, so individualisirt er
sich in dem ngoamno» des heiligen Geistes in der unendlichen
Mannigfaltigkeit der einzelnen Subjecte. Der ganze Offenbarungs-
und Entwicklungsprocess des der Welt immanenten göttlichen We-
sens aber schliesst sich zuletzt darin ab, dass der Logos, wie er
aus Gott hervorgegangen ist, so auch wieder in Gott zurückgeht
Schon die ganze Anlage der Theorie des Sabellius lässt nichts an-
deres annehmen, es wird aber auch ausdrücklich bezeugt, dass er
von einem endlichen Zurückgehen des Logos sprach, mit welchem
alles sein Ende hat Da auf diese Weise die Grundanschauung des
Sabellius das sich ausdehnende und sich wieder in sich zusammen-
ziehende Wesen Gottes ist, so glaubten die alten Kirchenlehrer,
wie namentlich Athanasius , die Quelle seiner Lehre in der stoi-
schen Philosophie finden zu müssen. Unstreitig bildet die panthei-
stische Weltanschauung einen sehr nahen Berührungspunkt zwi-
schen beiden, noch näher liegt jedoch, die Grundansicht des Sa-
bellius pythagoreisch in dem Sinne zu nennen, in welchem auch
das mit seiner Lehre sehr verwandte System der pseudoclemen-
tiaischen Homilien, in welchem die Dyas dieselbe Bedeutung hat,
welche Sabellius dem Logos in seiner Beziehung zur Monas gibt»
auf den im ersten und zweiten Jahrhundert neu auflebenden Py-*
thagoreismus zurückzuführen ist
Kann die Lehre dieser Klasse der Monarchianer, wenn sie bis
zu ihrer Spitze verfolgt wird, nur als pantheisHsch bezeichnet
316 Vierter Absohnitt. Das Christentbimi als höchstes Offbnbaningsprmdp.
werden, so ist eben diess das Hauptkriterium, durch welches sie
sich von einer andern Reihe solcher unterscheidet, die zwar gleich-
falls eine hypostatische Trinital im Sinne der katholischen Kirchen-
lehrer verwarfen, zugleich aber eine andere Richtung nahmen.
Vom pantheistischen Standpunkt aus kann das Substanzielle der
Person Christi nur in das Göttliche gesetzt werden, zu welchem
sich das Menschliche, in welchem es erscheint, als ein blosses Acci-
dens verhält Der entgegengesetzte Standpunkt war es, wenn man
das Menschliche als das Substanzielle der Person Christi betrach-
tete, und das Göttliche, das zum Begriff seiner Person gehört, nur
als das Secundäre und Untergeordnete hinzukommen Hess. Es sind
diess diejenigen, deren Ansicht schon die alten Kirchenlehrer mit
dem charakteristischen Ausdruck bezeichneten, sie lehren einen
Christus ndttu&iv^ d. h. einen Christus, welcher von unten her
kommt, sofern er an sich blosser Mensch ist und alles, was er
Gröttliches hat, nur soweit hat, als es sich mit seiner wesentlich
menschlichen Persönlichkeit vereinigen lässt.
Theodotus von Byzanz und Artemon stehen an der Spitze die-
ser Klasse der Monarchianer. Sie hielten Jesum für einen gewöhn-
lichen Menschen, nahmen aber an, dpss er auf übernatürliche
Weise erzeugt, und bei <ier Taufe noch ganz besonders der heilige
Geist auf ihn herabgekommen sei. Sie stimmten demnach vollkom-
men mit der synoptischen Lehre von Christus überein, und zwar
so, dass sie zugleich auch ihren Unterschied von der johanneischen
Logoslehre streng festhielten. Ihr Auftreten in der römischen Kir-
che wird nun aber besonders dadurch merkwürdig, dass sich an
ihm der Wendepunkt zu erkennen gibt, welcher gerade damals in
dem christologischen Bcwusstsein der Zeit erfolgte; Den Nach-
richten zufolge, welche Eusebius aus der Schrift eines Gegners
der Lehre Artemons mittheilt, behaupteten die Artemoniten, bis
auf die Zeit des römischen Bischofs Victor sei dasselbe, was sie
lehren, auch in der römischen Kirche die von den Aposteln her
überlieferte Lehre gewesen, erst unter dem Nachfolger Victors,
dem Bischof Zephyrinus, sei sie verfälscht worden. Sie bezeich-
neten daher die seitdem herrschende Lehre, dass Christus an sich
göttlicher Natur sei, als eine erst neuerlich aufgekommene. Man
I) K,Q. 5, 98.
Die Artemoniten. 817
darf nur auf den Gang zurückblicken, welchen das Dogma von der
Person Christi bis auf jene Zeit genommen hat und den Punkt, um
welchen es sich nun vorzugsweise handelt, schärfer ins Äuge fas^
sen, so wird man sich leicht überzeugen, dass jene Behauptung
keineswegs ein so grundloses Vorgeben ist, wie man gewöhnlich
meint Das an sich Göttliche der Person Christi war noch nicht
festgestellt, so lange man auf Christus den BegritT des Logos noch
nicht als stehendes Prädikat übergetragen hatte. Halten wir diess
fest, wie sollten demnach die Artemoniten nicht Recht haben, wenn
sie die Lehre vom Logos eine erst neuerlich aufgekommene nann-
ten? Einen neuen Beweis dafür, in welchem schwankenden Zu-
stand noch in den ersten Decennien des dritten Jahrhunderts die
Christologie sich befand, geben die schon mehrmals genannten Phi-
losophumena, deren Verfasser, wie er sagt, selbst sehr lebhaft
bei diesen Streitigkeiten betheiligt war ^> Man machte der von
1) Ich glaube in den Theol. Jahrb. 1853. S. 152 f. und S. 428 f. sehr
wahrscheinlich gemacht zu haben, dass der Verfasser der Philosöphumena
nicht, wie Jacobt in der deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft
und christliches Leben 1851 Nr. 25 f.» und Bunsen, Hippolytus und seine
Z«t B. i. 1852 behaupten, Hippolytus ist, sondern der römische Presbyter
Cialis, welcher unter den römischen Bischöfen Victor und Zephyrinus sich
durch mehrere Streitschriften bekannt machte. Diese Annahme stützt sich
Tor allem auf das Zeugniss des Photius, welcher Bibl. cod. 48. diesen Ca-
jus den Verfasser einer Schrift nennt, die den Titel Aaßv^ivtfo^ hatte, und
ton Einigen dem Origenes zugeschrieben worden sei. Wahrscheinlich ist
er auch der Verfasser des ofitfUfui ^nßvptvftos, welcher von Theodoret
Haer. fab. comp. 2, 5. erwfthnt wird, eine frühere, gleichfalls anonym er*
schienene Schrift dieser Art, die von Einigen auch für eine Schrift des
Origenes gehalten wurde. Es finden sich in den Philosöphumena selbst
Data, durch welche die Nachricht des Photius, dass C%jus ihr Verfasser ist,
bestfttigt wird, und die einzige Schwierigkeit, welche entgegen lu stehen
icheinl^ dass in den Philosöphumena die Apokalypse für Johanneisch erklftrt
Wird, während sie Cajus dem Gnostiker Cerinth zugeschrieben haben soll,
ist gehoben, sobald man die darauf sich beziehende Stelle bei Eusebius
K.G. 3t 28. richtiger, als gewöhnlich geschieht, erklftrt. Bunsek stützt seine
Hippolytushypothese hauptsächlich auf den Bericht des Photius Bibl. cod. 121«
über eine kleine Schrift (ein ßißkidagtov) Ton Hippolytus, einem Schüler
des Iren&ns, ein avvvayun gegen 32 Hftresen, allein die Merkmale, mit wel«
oben Photius die Schrift des Hippolytus charakterisirt, passen augenschein«
lieh so wenig auf unsere Philosöphumena, dass alle Willkür und Kühnheil
318 Vierter Abschnitt. Das Christen thum all höchstes Offenbarcmgsprincip.
ihm vertheidigten Lehre von einem persönlichen Logos noch im-
mer den Vorwurf, dass sie dem Einen Gott einen zweiten zur Seite
setze. Und wenn auch schon Victor den Theodotus wegen seiner
Lehre aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgestossen haben soll,
so war doch die Lehre vom Logos noch so wenig die allgemein
anerkannte, dass nicht nur der bedeutendste jener Monarchianer,
Callistus, nachher selbst römischer Bischof wurde, sondern auch
schon sein Vorgänger Zephyrinus auf derselben Seite stand. Gleich-
wohl war es die Zeit des Zephyrinus, welche in dieser Beziehung
Epoche machte. Denn nur durch den Eifer, mit welchem Gegner
der Monarchianer, wie namentlich der Verfasser der Philosophu-
mena, auf die entgegengesetzte Lehrweise schon unter Zephyrinus
drangen, kann es geschehen sein, dass sie seitdem mehr und mehr
das entschiedene Uebergewicht gewann ^>
Dass der Bischof Beryllus von Bostra in Arabien nicht zur
ersten, sondern zur zweiten Classe der Monarchianer zu rechnen
der Beweisführung nöthig ist, um die Identität der beiden Schriften be-
haupten lu können. Ist C%jus der Verfasser, so erhalten die auf die Stm-
tigkeiten in der römischen Kirche sich beziehenden Angaben der Philoso-
phumena durch einen Schriftsteller, welcher mitten unter ihnen lebte und
einen 90 thätigen Antheil an ihnen nahm, einen um so höheren geschicht-
lichen Werth.
1) Man Tgl. die Philos. 9, 11 f. S. 284 f. Jl^toi, sagt der Yerilssser,
•eien sie Ton ihren Gegnern genannt worden. Ov ya{i^ hielt ihnen Calli-
•tns entgegen S. 289, iy^» Sv» d'tus, nar/^a »al viovf vll* e^ßt, Uebtf
die Logoslehre des Verfassers vgl. man S. 334 f* Bemerkenswerth ist, dstf
unter den damaligen Monarchianem in Born, unter welchen Callistus sich
besonders hervorthat, auch ein Sabellius genannt wird, vgl. S. 285 und 289«
In der letxtern Stelle sagt der Verfasser, als Callistus nach dem Tode des
Zephyrinus Bischof geworden war, rvv Saßtlhov aititttatv qU juij (ff^ovarrü
lip^o»^, SeSoiMffjg tfii nai roui^wv arot dvvao&ai d7torpt\f;»o9ut rifV it(fii
tas innXrjaiai uart^yogiav ^ o)f fi^ dkXorgiojS (f(*ovivv, Kallistus habe sich
swar den Schein zu geben gesucht, wie wenn er das Wahre lehrte, sei aber
bald in das Dogma des Sabellius, bald in das des Theodotus hineingem-
Ihen, indem er an die Stelle des persönlichen Logos den in der Jungfrav
fleischgewordenen unsertrennlichen Geist, als die , beide, Vater und Sohn in
■ich begreifende Einheit setzte. Da sich nicht annehmen lässt, dass es
Bwei Sabellius gab, die dasselbe lehrten, so erhalten wir demnach hier daf
dan übrigen Angaben über Sabellius nicht widerstreitende Datum, dass sr
unter dem Bischof Zephyrinus (200-^218) zuerst in Born war.
Beryllas. 3l9
ist, lasst sich nach den genaueren Erörterungen über seine Lehre
nicht länger bezweifebi. Indem er sich gegen eine persönliche
Praexistenz (»ar* idlav taiag nfQtygaq)^w) und eine an sich gött-
liche Natur Christi erklärte, war es ihm ebensosehr darum zu thun,
die Persönlichkeit Christi als eine wesentlich menschliche festzu-
stellen, als auch zu bestimmen, wie auf der Grundlage derselben
das Götdiche, das ihm zuzuschreiben ist, gedacht werden müsse«
Wenn er auch kein vormenschliches Sein Christi annahm , so liess
er ihn doch im Bewusstsein Gottes vorausbestimmt sein, somit we-
Bigstens auf ideelle Weise präexistii'en, und das Göttliche, das zu
seiner menschlichen Persönlichkeit hinzukam, bezeichnete er mit
einem Ausdruck, welcher wenigstens auf keine Emanationsvorstel-
hmg hinweist, sondern nur von einer freien geistigen, auf mora-
lischer Einheit beruhenden Einwirkung Gottes verstanden werden
kann.
Es verdient beachtet zu werden, wie schon in der Lehre des
Beryllus der BegriiT der Persönlichkeit, das Sein nur idlup iatag
nep$/gaq>fj¥, das persönliche Sein, als ein in seinem Fursichsein um-
schriebenes, abgegrenztes und abgeschlossenes zur Sprache kommt,
womit demnach schon angedeutet ist, welche Bedeutung der Be^
griff der Persönlichkeit hat, um das Verhältniss des Göttlichen und
Menschlichen in der Person Christi zu bestimmen. Es macht diesa
den Uebergang von Beryllus zu Paulus vonSamosata, welche beide
sich auf dieselbe Weise zu einander verhalten, wie NoetusundSa-
bellius. Die Cbristologie des Paulus ist das vollkommene Gegen-
stück zu der des Sabellius, sie repräsentirt den Standpunkt der einen
Klasse der Monarchianer ebenso charakteristisch, wie die des Sabel-
lius den der andern, und wenn die Ansicht des Sabellius ihrem all-
gemeinen Charakter nach nur als pantheistisch bezeichnet werden
kann, so ist dagegen die des Paulus in dem Sinne theistisch, in
welchem überhaupt die pantheistische und die theistische Weltan-
stcht einen wesentlichen Gegensatz bilden. Wie auf dem Stand-
punkt des Sabellius das Menschliche in seiner Einheit mit dem Gött-
lichen nur die Erscheinung des Göttlichen ist, so hat dagegen die
Lehre des Paulus die Tendenz, das Göttliche und Menschliche so
viel möglich auseinander zu halten, und Gott und den Menschen
Jesus als zwei gleich persönliche, für sich bestehende Subjekte ein-
ander gegenüberzustellen. Wie Theodotus und Artemon ging auch
3S0 Vierter Abschnitt. Das Chris tenthum ftls höchstes Offenbaningspriiicip.
Paulus davon aus, dass Christus, wenn auch auf übernatürliche
Weise erzeugt, an sich nur Mensch ist , ein weiteres Moment der
Fortbildung dieser Theorie war nun aber, dass er zuerst von einem
gottgewordenen Christus t^inem vi&iono^^o&ai^ sprach. Ist Chri-
stus nicht von Natur Gott, so kann er, was er als göttliches Wesen
ist, nur erst geworden sein, aber wie ist er es geworden? Genügte
ihm die äusseriiche Weise, in welcher noch Theodotus durch die
Herabkunft des heiligen Geistes bei der Taufe das Göttliche Jeso
sich mittheilen liess, nicht mehr, so konnte nur das Sittliche essein,
worin sich ihm das Göttliche und Menschliche zur Einheit ver-
knüpfte. Nur auf dem Wege des sittlichen Strebens und der sitt-
lichen Vervollkommung ist Christus als Mensch, was er an sieh ist,
Gott und Sohn Gottes geworden. Auf der andern Seite konnte aber
doch dieses Sittliche, wenn das Menschliche durch dasselbe zam
Göttlichen erhoben werden sollte, nicht als ein rein menschliches
ohne göttliche Mitwirkung gedacht werden. Hier ist daher der
Ort, wo auch bei Paulus die Idee des Logos, die nun in keinem
Lehrbegriff mehr fehlen kann , ihre Stelle fand. Um aber jeden
Gedanken an einen persönlichen Logos abzuschneiden , wandte er
den Logosbegriff auf Christus nicht an, ohne zugleich zu bestim-
men, was überhaupt der Logos in Gott ist Der Logos ist in Gott
dasselbe, was er auch im Menschen ist, das innere geistige Princip
des Denkens und Selbstbewusstseins. In seinem Logos ist Gott der
persönliche selbstbewusste Gott, wie der Logos auch im Menschen
der innere Mensch, oder das Princip seiner Persönlichkeit ist. Der
Logos ist daher, was er ist, nur in seiner unzertrennlichen Einheit
mit Gott, und so wenig er von dieser Einheit sich trennen kann, so
wenig kann er auf persönliche Weise ausser Gott existiren. Auch
Paulus liess nun zwar den Logos in dem Menschen Jesus wirken
und in ihm wohnen, es war diess aber keine substanzielle Verei-
nigung Gottes und des Menschen, sondern nur eine die mensch'
Uchen Verstandes* und Willenkräfte erhöhende göttliche Einwir-
kung. Von einer Einheit Gottes und des Menschen kann also hier
nicht die Rede sein, sondern es sind nur zwei persönlich ver-
schiedene Subjekte und die ganze Betrachtungsweise ist eine dua-
listische, deren Hauptinteresse es ist, das Göttliche und Mensch-*
liehe in seinem wesentlichen Unterschied auseinanderzuhalten.
Die lebhafte Bewegung, welche gegen Paulus wegen seiner
Panlos von SamosAta. ^'2
Lehre entstand und nicht ruhte, bis über sie das Verdammungsur-
\heil ausgesprochen und er selbst von seinem Bischofssitze in An-
tiochien verdrangt war, das Gehässige der Vorwürfe, die man ihm auch
in Beziehung auf seinen Charakter machte, indem man seine vor-
lugsweise das Menschliche in der Person Christi hervorhebende
Theorie mit einem auf das Niedrige und Weltliche gerichteten Sinn
in Verbindung brachte, die ganze kirchliche Opposition, die sich
gegen ihn erhob, zeugt hinlänglich dafür, wie sehr man schon
daran gewöhnt war, das Dogma von der vormenschlichen Persön-
lichkeit Christi als das orthodoxe zu betrachten. Die letzte der in
dieser Sache gehaltenen Synoden, im J. 269 zu Antiochien, war in
mancher Beziehung schon ein Vorspiel der nicänischen, eine eigene
Erscheinung ist es jedoch, dass dasselbe Wort, das in der Folge
der Inbegriff der nicänischen Orthodoxie wurde, damals gleichfalls
den verwerfenden Ausspruch der antiochenischen Väter über sich
ergehen lassen musste. Sie erklärten ausdrücklich, dass der Sohn
Gottes nicht ofkoimog mit dem Vater sei. Nach Athanasius O9 wel-
dier die Väter jener antiochenischen Synode für nicht minder or-
thodox halten konnte, als die der nicänischen, und ebendesswegen
durch einen solchen Widerspruch in seinem kirchlich traditionellen
Bewusstsein sich nicht beunruhigen liess, geschah diess nur aus
dem Grunde, weil man dadurch die dialektischen Argumente des
Samosateners am einfachsten zurückweisen konnte. Gebe man
ihm nicht zu, habe Paulus argumentirt, dass Christus von Natur
blosser Mensch sei, so müsste er ja gleichen Wesens mit dem Va-
ter sein, stehen aber Vater und Sohn als o(AOüato$ neben einander,
80 müsse über ihnen noch eine iaia sein, als ihre gemeinsame Vor-
aussetzung, als die Einheit, welcher sie selbst untergeordnet sind.
Es folge also aus der Lehre jener Väter, dass der Sohn von Natur
Grott sei, die an sich verwerfliche Behauptung, dass der Vater nicht
der höchste absolute Gott sei 0* Dieser Konsequenz, die unmittel-
bar zum Sabellianismus führte, glaubte man somit nur durch die
Läugnung der Homousie entgehen zu können.
1) De syn. Arim. et Sei. c. 45*
3) 80 glanbe ich nun die ftia rrpotfytifiit'tj saia bei Athanasias a. a. O.
ridhtiger an verstehen als in meiner Schrift über die Trinittttslehre 1. S. SOS«
Premirt man den Begriff der Homousie so, dass Vater und Sohn vöUig co-
ordinirte Wesen sind, so muss über beiden noch eine äoia stehen, deren
Baur^ die drei ersten Jahrh. *'*'
888 Vierter Abscbnitt. Dm Cbriftenthiim als höchstes Offenbaniiigfpriiieip.
Wir stehen hier auf einem Punkt der Entwicklung' der Lehr»
von der Gottheit Christi , auf welchem sehr verschiedene Yorstel*
lungen noch in scharfem Gegensatz sich durchkreuzen. Am ent-
schiedensten erklärte man sich gegen die Vorstellung, welche dai
Gottliche der Person Christi gegen das Menschliche so zurücktre-
ten Hess, dass er an sich nur für ein menschliches Subjekt gehaltet
werden konnte. Aber auch die entgegengesetzte, von der Uee
Gottes ausgehende Ansicht, welcher zufolge Christus zwar ein
substanziell göttliches Wesen war, aber auch nur eine periodische,
eine bestimmte Phase des Einen göttlichen Wesens in sich darstel-
lende Erscheinung, konnte dem christlichen Bewusstsein nicht ge-
nügen. Die Würde Christi schien es zu erfordern, dass er auch
schon vor seinem menschlichen Dasein als persönliches göttUchei
Wesen existirte. Allein auch diese Vorstellung hatte so Manches
gegen sich, worüber man nicht so leicht hinwegkommen konnte.
Setzte man sich auch über die Kollision, in welche sie mit der Lehre
roa der Einheit Gottes kam , trotz des Widerspruchs der Monar-
chianer hinweg, so schien doch die Würde Christi gerade durch du,
was man zunächst festhalten zu müssen glaubte, nur um so mehr
in F^age gestellt Da man den Sohn Gottes, oder Logos, in seiner
persöfldichen Subsistenz nur als ein aus Gott in einem bestimmtet
Moment hervorgegangenes Wesen sich denken konnte, so wirie
dadurch nicht nur eine zeitliche Veränderung und eine sinnlick
Affektion nach der Weise der gnostischen Emanationen in das We-
sen Gottes gesetzt, sondern es musste auth das Bedenken cmtstehet,
ob ein auf solche Weise entstandenes, so tief unter dem Einet
Kmsnatiffnen beide auf gleiche Weise sind. Den besten Aufirahlvss ffH
die Stelle bei Athanasios de sjrn. c. 51} wo er gegen die argnmentirt, welolie
sagen: fit) %Q^vmi kiyeiv o/iobotov zov vtov T(} Trargl, btio kfywv Q/M88tof
TQia XiyHt aaiav rivd nftovnoKt^fiivrjv^ nai ras ik ravtfjs yswtufiivai o/t09'
a/tfff aTtfah ^al imkiyawivy iav a» 6 vloe ofioaaios r/ reu Trärglt avdynttj nqov^
ftonetß^m* tivrwv ««/ar, «£ fjs Mal iysvvrj^r^oav ^ mal f/itj elvat t6^ jWJr «s«
vi(fa, TOP Si vi6v% all* d^fon'^ae ddsl^ac. Die Vorstellung, von welflher
ans Paulus argumentirte, ist der Sache nach die des Sabellius, welcher wirk-
lich über den in gleicher Linie mit dem Sohn und Gkist stehenden Vater
noch die fMvoQ als die fjLla fr^otfyafiivti aala oder als den Einen hödbsten
GK>tt stellte. Ob aber schon Sabellius den Ausdruck ofioaotoc gebzanohte,
um mit demselben das coordinirte Verhältniss seiner drei n^amMu wn be*
■eichnen, ist ungewiss.
Origeues. 3^9
höchsten ßolt stehendes Wesen mit Recht als ein an sich göttiicl^ßs
betrachtet werden könne. Indem wir alle diese aus dem bisheri-
gen Gang der Entwicklung sich ergebende Momente einander ge-
genüberstellen, stehen wir ebendamit auf dem Punkte, von welchem
WS Origbnes die hier vorliegende Aufgabe der theologischen Spe-
kulation auffasste, um sie zu einer weiteren Stufe ihrer Entwicklung
fortzuführen.
In der Lehre des Origenes, welche als ein neues sehr bedeu-
tendes Moment in die Entwicklungsgeschichte des Dogma eingreift,
sind zwei in wesentlicher Beziehung zu einander stehende Seiten
zu unterscheiden. Auf der einen Seite stand dem Origenes vor
allem fest, dass der Sohn nur ein vom Vater persönlich vei;schie-
denes, für sich bestehendes Wesen sein könne. Ist er aber keine
blosse Kraft und Eigenschaft Gottes, existirt er somit nicht in Gott,
sondern ausser Gott, so kann er in diesem Unterschied von Gott
nur in dem Verhältniss der Abhängigkeit und Unterordnung zu ihm
stehen. Das Absolute der Gottesidee hatte für Origenes eine zu
]v)he Bedeutung, als dass er dem Vater, als dem absoluten Gott, in dem
Sjohn ein anderes gleich absolutes Wesen hätte gegenüberstellen
können. Gehört es demnach in Ansehung des Sohns zur vollen
Realität seines Begriffs, dass er eine eigene Hypostase ist, so ist es
eine nicht minder wesentliche Bestimmung, dass er dem Vater un-
tergeordnet ist, und Origenes trug kein Bedenken, den Sohn in
Vergleichung mit dem Vater als ein in jeder Beziehung weit ge-
rjogeres Wesen zu beschreiben, wie er z. B. nur vom Vater, nicht
fd>er vom Sohn gelten lassen wollte, dass er auf absolute Weise gut
sei, und die Wirksamkeit des Sohns auf das Vernünftige oder Lo-
gische beschränkte, um sie der auf alles Seiende überhaupt sich er-
streckenden Wirksamkeit des Vaters unterzuordnen. Je grösser
abe^r durch die genauere Bestimmung des Unterschieds die Kluft
zwischen dem Vater und dem Sohn war, um so mehr suchte sie
Origenes auf der andern Seite so viel möglich auszufüllen. So tief
apc^ der Sohn unter dem Vater steht und so wenig er, der Natur
der Sffche nach, dem absoluten Wesen des Vaters gleichkommen
kann, so theilt er doch in Einem Punkt das Absolute des Vaters.
Er ist, wenn auch gezeugt, doch nicht in der Zeit, in einem be-
stimmten Zeitmoment, vor der Schöpfung der Welt, sondern von
Ewigkeit gezeugt, sein Dasein ist in Ansehung der Zeit ein ebenso
21»
340 Vierter Abschnitt. Das Christentham als höchstes Offenbarnngsprincip.
anfangsloses und absolut ewiges, wie das des Vaters. Diess ist der
Hauptbegriff, um welchen sich die ganze Lehre des Origenes von
dem Yerbaltniss des Vaters und Sohns bewegt Durch die Vor-
stellung eines mit dem Vater gleich ewigen Sohnes sollte der Sohn
in das dem absoluten Wesen Gottes adäquate Verhaltniss zum Vater
gesetzt, alles Emanatistische aus der Idee Gottes entfernt, der Un-
terordnung des Sohns nach der andern Seite hin ein Gegengewicht
gegeben, überhaupt Endliches und Unendliches zur Einheit verban-
den werden. In dem absoluten Wesen Gottes erkannte Origenes
den Grund wie einer ewigen Weltschöpfung, so auch der ewigen
Zeugung des Sohns. Da sich keine Zeit denken lässt, in welcher
Gott das, was zu seinem absoluten Wesen gehört, nicht schon war,
sondern erst geworden ist, so kann er auch nur von Ewigkeit nicht
blos Weltschöpfer, sondern auch Vater eines Sohns gewesen sein.
Ist er Allherrscher, so muss auch immer das gewesen sein, nm
dessen willen er Allherrscher ist Er kann daher auch nicht erst
angefangen haben, Vater zu sein, da bei ihm nichts, was ihn hin-
dern konnte, wie bei Menschen, die Väter werden, gedacht werden
kann, denn wenn Gott immer vollkommen ist und immer die Macht
hat, Vater zu sein und es gut ist, dass er Vater eines solchen Sohnes
ist, was könnte ihn hindern, es auch wirklich zu sein? Ist auf diese
Weise die Ewigkeit des Sohns in der absoluten Vollkommenheit des
göttlichen Wesens selbst begründet , so fällt ebendamit auch alles
hinweg, was nach der gewöhnlichen Vorstellungsweise der Zeugung
des Sohns eine gar zu grosse Analogie mit einem blossen Nator-
process gab. Er konnte sich die Zeugung des Sohns nur als einen
ausserzeitlichen, durch keine Kategorie des menschlichen Denkens
bestimmbaren göttlichen Akt denken, da überhaupt seiner Gottes-
idee nichts mehr widerstreitet, als alles, was etwas zeitlich Veränder-
liches und körperlich Theiibares im Wesen Gottes voraussetzt
So abstrakt aber Origenes den allen positiven Bestimmungen ent-
rückten Begriff der Zeugung aufzufassen suchte, so drang sich schon
ihm unwillkürlich eine Frage auf, welche in der Folge die verschie-
denen Vorstellungen über das Verhaltniss des Vaters und Sohns
durch einen sehr bestimmten Gegensatz trennte, die Frage, ob der
Sohn aus dem Wesen des Vaters gezeugt, oder durch einen WS-
lensakt Gottes hervorgebracht sei. Wenn auch Origenes dieser
Frage noch keine bestimmtere Fassung gab, so liegt sie doch deat-
Origenes. 341
lieh seinen schwankenden, bald mehr nach der einen, bald mehr nach
der andern Seite sich hinneigenden Erklärungen zu Grunde. Er
schreibt dem Sohn die Wesensgemeinschaft mit dem Vater zu, ge-
braucht in dieser Beziehung den Ausdruck o/iOba&og, sagt sogar,
der Sohn sei aus dem Wesen des Vaters gezeugt und vergleicht
ihn mit einem Ausfiluss , einer Ausstrahlung des Lichts, aber er
spricht auch wieder in demselben Sinne nicht vom Wesen, sondern
vom Willen des Vaters, und wenn er auch diessnurvergleichungs-
weise thut und den Sohn nur so vom Vater gezeugt sein lassen
will, wie der Wille aus dem Geist hervorgeht, ohne ihn zu trennen
und von ihm getrennt zu sein, so stellt er doch zugleich in Bezie-
hung auf den Sohn den bestimmten Satz auf, dass der Wille des
Vaters hinreiche, das hervorzubringen, was der Vater will, durch
die blosse Vermittlung des Willens werde von ihm auch die Hypo-
stase des Sohns erzeugt 0* Nehmen wir mit dieser ausdrücklichen
Erklärung, dass das Princip der Subsistenz des Sohns der Wille des
Vaters ist, alles dasjenige zusammen, was Origenes über den Un-
terschied des Sohns vom Vater, sein Anderssein, seine Unterord-
Bimg, seine weit geringere Würde und Wirksamkeit lehrte, so kann
man denen nicht Unrecht geben, welche ihn als eine Hauptauktori-
tät für den arianischen Lehrbegriff betrachteten, ihn sogar den Va-
ter des Arianismus nannten. Und doch wurde alles, was er zum
Nachtheil des Sohns besonders über seine Unterordnung unter den
Vater gesagt hatte, immer wieder aufgewogen durch das hohe Prä-
dikat der Ewigkeit des Sohns, das kein anderer Kirchenlehrer vor
ihm mit diesem vollen Bewusstsein seiner spekulativen Bedeutung
ihm gegeben hat.
Origenes bildet, so betrachtet, einen sehr wichtigen Wende-
punkt in der Geschichte des Dogma. Die beiden Richtungen,
welche von Anfang an neben einander gehen und die gleiche Be-
rechtigung für sich haben , um den Sohn auf der einen Seite dem
Vater so viel möglich gleichzustellen und in der Einheit des We-
1) Man Tgl. die Beweisstellen zu dem Obigen in der Trin.Lehie 1. S.
196* f« tmd bei Redepenning, Origenes 2. S. 293 t Wenn Bedepenning 8.
SOS mich tadelt, dass ich von einem Schwanken des Origenes in Betreff
der Zevgang des Sohns rede, so seheint er mir die von ihm selbst ange-
flUirten Worte des Origenes nicht genug erwogen zu haben«
949S Vierter Abschnitt. Das Cbristenthnm als höchstes Offenbanmg^rindp.
scns mit ihm za identificircn, auf der andern aber ihn von ihm zh
unterscheiden und in ein bestimmtes Verhaltniss der UnteroH-
httng zu ihm zu setzen, vereinigen sich in Origenes, um einander
das Gleichgewicht zu halten, eigentlich aber nur dazu, um von diesem
Ausgangspunkt aus nun erst in der ganzen Weite ihres Unterschieds
auseinanderzugehen und sich gegenseitig auseinanderzusetzen.
Diesem nächsten Ziel ging die weitere Entwicklung des Dogma ih
der Zeit nach Origenes mit raschen Schritten vollends entgegen.
Die Schüler und Nachfolger des Origenes, unter Welchen b(^-
sonders der Bischof Dionysius von Alexandrien als Bepräsentaltt
einer sehr gangbaren Vorstellungs weise sich auszeichnete, traten
m^hr oder minder auf diejenige Seite des origenianisehen Lehrbe-
griffs, auf welcher das überwiegende Interesse in der Unterschei-
dung und Trennung des Sohns vom Vater lag. Wir kennen ilire
Löhre aus den fragmentarischen Angaben der alten Schriftsteller J
nicht näher, da sie jedoch die hergebrachten, auf dem Emani-
tionsbegriff beruhenden Vergleichungen wiederholten, den Sohn ab
ein Geschöpf bezeichneten, und auch sonst den spätem orthodoxen
Kirchenlehrern manchen Anstoss gaben, so ist sehr wahrscheinlidi,
dass sie gerade in dem Hauptpunkt, in dem Prädikat der Ewigkeit des
Sohns, die Lehre des Origenes nicht aufrecht erhielten. Ausdrücklich \
soll der älexandrinische Dionysius gegen die Ewigkeit des Sohns ach )
erklärt haben und dem arianischen Lehrbegriff so nahe gekorotten
sein, dass auch er schon der Formel: tj^f nort, or« «je ^p^ sich be-
diente. Im Gegensatz gegen diese so weit gehende Stibordinatioitf^
theörie, deren auffallendste Ausdrücke nachher Dionysius b^M
zu mildem für gut fand, drangen Andere, namentlich libyscke
Bii^chöfe , welchen Dionysius den SabelHahismus zu einseitig be-
kämpft zu haben schien, sosehr auf die Identität des Sohns ttit
dem Vater, dass die Grenzlinie zwischen ihrer Ansicht und der sa-
bellianischen sehr unsicher wurde, und ihre nur an negrative Be-
«tiihmungen sich haltende Vorstellungsweise überhaupt auf keinen
positiven Begriff zu bringen war. Diesem schwankenden Zustand,
in welchem immer wieder die eine Vorstellung gegen die andere
reagirte , ohne selbst auch nur auf einen festeren Ral^)unkt sich
stützen zu können, machte erst der arianische Streit ein finde.
Das Charakteristische und Epochemachende des ArianiSBiis
ist, dass in ihm zuerst die Differenz der noch infamer «o veivckie-
Der Arianismns. 343
denen und nach allen Seiten sich so vielfach durchkreuzenden Vor-
itellungen in einem festen greifbaren Punkt aufgefasst und auf einen
klar und bestimmt ausgesprochenen und festgehaltenen Gegensatz
inrückgeführt wurde. Konnte man den Sohn in seiner vormensch*
lichen Existenz sich nicht persönlich verschieden vom Vater den-*
ken, wie er doch gedacht werden sollte, ohne ihn in das Yerhall-
aiss der Abhängigkeit und Unterordnung zu dem Vater zu setzen
and ihn als ein weit geringeres Wesen zu betrachten, somusstenun
doch auch genauer bestimmt werden, an welchem unterscheidenden
Moment in letzter Beziehung dieses ganze Verhaltniss des Vaters
und des Sohns hangt Sollte der Sohn, wenn auch entstanden, doch
aus dem Wesen des Vaters gezeugt und wesentlich dasselbe sein,
was der Vater ist, wie konnte man ihn gleichwohl wieder so tief
unter den Vater stellen ? Alle Bestimmungen , welche man über
daf Verhaltniss des Vaters und Sohns aufstellte, blieben immer noch
vag und schwankend , solange man sich nicht vor allem die Frage
ni beantworten suchte , worin das Principielle und Absolute ihres
Unterschieds bestehe. Wenn schon die alten Kirchenlehrer, dem
Arianismus vorzugsweise eine dialektische Richtung zuschrieben,
indem sie es von ihrem Standpunkt aus freilich andenArianemnur
tidehi konnten, dass sie ihre Theorie hauptsächlich dialektisch zu
begründen suchen und sich für diesen Zweck mit so grossem In-
teresse auf die Dialektik legen, so ist damit eben jenes methodische,
icharf unterscheidende, die Bestimmtheit des Begriffs und die Kon-
sequenz des Denkens ins Auge fassende Verfahren gemeint, ohne
welches der Arianismus die geschichtliche Bedeutung, die er hat,
nie hätte erlangen können. Die Aufgabe, die sich der Arianismus
schon in seinem Urheber, dem alexandrinischen Presbyter Arius,
stellte, konnte also nur sein, das Verhaltniss des Vaters und Sohns
nm erst mit aller Schärfe darauf anzusehen, was es eigentlich sei,
und worin das Principielle ihres Unterschieds bestehe. Was konnte
man aber in dieser Beziehung zuletzt noch fixiren, wenn der Sohn
«ogar schon das Prädikat der Ewigkeit erhalten hatte, somit selbst
der Begriff der Zeugung kein Hinderniss sein sollte, ihn in der un-
endlichen Dauer seines Seins für ein ebenso absolutes Wesen zu
halten wie d^ Vater? Allein wenn man auch noch sosehr den
Söhn dem Vater gleichstellte und alle Momente des Unterschieds
firikm liess, so blieb doch immer Eines zurück» was der Sohn auf
!I44 Vierter Abschnitt. Das Christenthiuii all hdohstes Offenbanmgspiincip.
keine Weise mit dem Vater theilen komite , was ihn somit auf ab-
solute Weise von dem Vater trennte, der Begriff der Ungezeogt-
heit. Diess ist der Punkt , von welchem der Arianismus ausging
und von welchem aus er seine Sätze in strenger logischer Konse-
quenz entwickelte. Ist der Vater allein ungezeugt, so ist die Un-
gezeugtheit das absolute Wesen des Vaters selbst Der Sohn, di
er nicht ungezeugt, wie der Vater, sondern als Sohn nur gezeugt
ist, kann daher nicht gleichen Wesens mit dem Vater, sondern nur
ein wesentlich Anderer sein, er ist somit auch nicht aus dem Wesen
des Vaters gezeugt, überhaupt nicht gezeugt, sondern nur geschaf-
fen, und da es, wenn er nicht aus dem Wesen des Vaters gezeugt
ist, überhaupt nichts gibt, woraus er geschaffen sein könnte, so
kann man von ihm nur sagen, dass er aus Nichts geschaffen ist
Wäre er aus dem Wesen des Vaters , somit wesenüich dasselbe,
was der Vater ist, so wären ja, was sich selbst widerspricht, zwei
gleich ungezeugte oder gleich absolute Wesen. Ist aber der Sohn ans
Nichts geschaffen, also auch erst entstanden, so gibt es auch einen
Anfang seines Seins, und man kann von ihm, wenn man auch die-
sen Uebergang aus dem Nichtsein in das Sein so abstrakt als mög-
lich auffasst, doch nur sagen, dass er einmal nicht war. Wäre er
nicht entstanden, sondern ewig, so wäre er gleich ewig mit dea
Vater, ewig ist aber der Vater doch nur, weil er ungezeugt ist
Durch diese beide für den Arianismus gleich, charakteristisdie
Sätze, dass der Sohn ii ox owxtav ist, und dass n^ non, on in n^
ist der Sohn durch eine so grosse Kluft von dem Vater getrennt
dass er nur in die Klasse der Geschöpfe gehören kann. Was ihn
über sie stellt, ist nur, dass er, obgleich selbst Geschöpf, doch za-
gleich Schöpfer der Geschöpfe ist, und wenn auch entstanden, doch
nicht in der Zeit entstanden ist, sondern vor der Zeit und die Zeit
selbst erst durch ihn geworden ist Nannte ihn Arius mit Rück-
sicht darauf fiott, Gott im vollen Sinne, so konnte doch dadurch der
absolute Unterschied zwischen ihm und dem Vater auf keine Weise
aufgehoben werden. Es ist also überhaupt der Gegensatz des End-
lichen und Unendlichen der allgemeine Gesichtspunkt, unter wel-
chen Arius das Verhältniss des Vaters und des Sohns stellt Wie
das Endliche und das Unendliche schlechthin einander entgegen-
gesetzt sind, so kann zwischen dem Vater und dem Sohn nidits
'Vermittelndes sein, wesswegen Arius auch alle physischen Anahh
Der Arianismus. 34A
gien und Emanationsvorstellungen sehr entschieden zurückwies.
Haben Vater und Sohn dem Wesen nach nichts mit einander gemein,
so kann das Princip des Daseins des Sohns nicht in das Wesen,
sondern nur in den Willen des Vaters gesetzt werden. Der Sohn
ist durch den blossen Willen des Vaters, wie überhaupt alles, was
ausser Gott ist, durch einen Akt seines Willens geschaffen wor-
den ist.
Gregen alle diese Bestimmungen konnten die Gegner der Lehre
des Anus nichts einwenden, sie konnten sich zunächst nur daran
halten, dass wenn zwischen dem Vater und dem Sohn derselbe Un-
terschied und Gegensatz sein soll, wie zwischen dem Endlichen und
Unendlichen, dem Sohn auch das nicht bleiben könne, was Arius
ihm noch lassen wollte, um ihn über die Sphäre des Geschaffenen
m erheben. Sie konnten mit Recht fragen, ob es nicht ein Wider-
sprach sei, dass der Sohn, wenn er doch selbst nur Geschöpf ist,
zugleich Schöpfer der Geschöpfe sein soll, und wenn er selbst erst
entstanden und in seinem Ursprung durch die Kategorie der Zeit
bedingt ist, als Schöpfer der Zeit über aller Zeit steht Die Kon-
sequenz des arianischen Lehrbegriffs führte von selbst noch weiter,
der Gegensatz des Endlichen und Unendlichen musste noch strenger
durchgeführt werden, und man konnte zuletzt nur bei einem Sohne
stehen bleiben, welcher als ein schlechthin endliches Wesen keinen
Anspruch auf ein göttliches Prädikat mehr machen konnte. Was
war aber durch solchie Einwendungen gewonnen, wenn man nicht
dem die Gottheit des Sohns läugnenden Lehrbegriff der Arianer
einen andern positiv begründeten entgegenstellen konnte? Sollte
diess geschehen, so musste in der Argumentationsreihe der Arianer
ein Punkt aufgezeigt werden , auf welchem man den Folgerungen,
die sie aus ihrem Princip zogen, mit gutem Grunde begegnen
konnte. Die Arianer nahmen , indem sie vom Begriffe der Unge-
zeugtheit aus argumentirten,Ungezeugtheit und Ewigkeit als gleich-
bedeutende Begriffe. Diese Identität der beiden Begriffe konnten
ihre Gegner nicht zugeben, wenn sie nicht mit ihr alles fallendassen
woHten, was dem Sohn einen Innern Anknüpfungspunkt im Wesen
des Vaters gab. Musste ihm also , wofern er nicht durch die Kon-
sequenz der arianischen Argumente zum schlechthin Endlichen
herabgezogen werden soUte, vor allem die Ewigkeit des Seins zu-
geschrieben werden, und konnte er doch. als Sohn nur gezeugt
346 Vierter Abschnitt. Das ChriBtenthnm als höchstes Offenbarangsprino^.
nicht angezeugt sein, so war diess nur möglich, wenn es zwischen
dem Endlichen auf der einen und dem Unendlichen auf der andero
Seite ein Mittleres gab, das beides zugleich war, sowohl endliche
als unendlicher Natur. Diess ist der Begriff der ewigen Zeugung
des Sohns, wie sie die Gegner des Arius behaupteten. Als gezeugt
hat der Sohn sein Dasein von einem Andern , und kann daher , wie
alles, was die Ursache seines Seins nicht in sich selbst hat, nur in
die Kategorie des Endlichen gehören, sofern er aber von Ewigkeit
gezeugt ist, soll die Abhängigkeit, Bedingtheit, Endlichkeit seines
Wesens in der Ewigkeit seines Seins wieder aufgehoben werden.
Während daher der Arianismus das Yerhältniss des Vaters und
Sohns durch den abstrakten, sich gegenseitig ausschliessenden Ge-
gensatz des Endlichen und Unendlichen bestimmt, ist dagegen ntdi
der Lehre der Gegner der charakteristische Begriff der Persönlich-
keit des Sohns gerade diess, dass in ihm Endliches und Unendliches
zur Einheit verknüpft ist Die Frage ist aber nur, ob diese Einheit,
die als die Einheit des Endlichen und Unendlichen ein rein abstrak-
ter Begriff ist, auch eine vorstellbare , der konkreten Wirklichkeit
entsprechende ist. Wenn auch das durch den Begriff der ewigen
Zeugung bestimmte Yerhältniss des Vaters und Sohns ein soeigen-
thümliches sein sollte, dass die gewöhnlichen Kategorien des
menschlichen Denkens nicht auf dasselbe passten, so musste es
doch dem vorstellenden Bewusstsein irgendwie anschaulich nnd
begreiflich gemacht werden können. Eben diess war jedoch der
schwächste Punkt dieser Theorie. Alles , was die auf dieser Seite
stehenden Kirchenlehrer zur Rechtfertigung derselben zu sagen
wussten, war nur die bekannte, schon so oft gebrauchte Analogie
des natürlichen Verhältnisses, in welchem Licht und Lichtstrahl n
einander stehen. So unzertrennlich der Lichtstrahl v(Hn Lidit ist,
so wenig sollte auch der Vater je ohne den von ihm gezeugten Sokn
gedacht werden können. Verhält sich aber der Sohn zum Vater
nur wie der vom Licht ausgehende Lichtstrahl, wie steht es mit der
persönlichen Snbsistenz des Sohns, welche eine nicht minder we-
sentliche Bestimmung seines Begriffs ist , ist der Sohn auch nur ein
Acddens an der Substanz des Vaters, ein wesenloser Reflex?
Sagte man, eben diess sei der Unterschied zwischen diesen natär-
lichen Verhältnissen und dem ihnen analogen Verhältniss des Va-
ters und Sohns, dass der Sohn in seiner Einheit mit dem Vater
Der Arianismus. 347
zugleich sein eigenes persönliches Dasein habe, so verlor man
die Grundlage der Naturanschauung, von welcher man ausgieng,
und die ganze Vorstellung hatte Iteinen Haltpunltt mehr. Entwe-
der konnte man sich also den ewigen Zeugungsprocess Gottes nur
nach der Atialogie eines Naturprocesses denken, welcher das über-
sinnliche Wesen Gottes in das Sinnliche herabzuziehen schien, und
iinmer wieder dieselben Einwendungen gegen diese Vorstellung
hervorrief, oder man hatte einen völlig transcendenten inhaltslee-
ren Begriff.
Fassen wir die beiden Lehrbegriffe, welche hier einander ge-
genüberstehen, unter dem Gesichtspunkt dieses Gegensatzes ihrer
wesentlichen Bestimmungen auf, so fällt von selbst in die Augen,
wie dieselben Vorstellungen, deren Gegensatz mit verschiedenen
Modificationen durch die ganze bisherige Entwicklungsgeschichte
des Dogma sich hindurchzieht, in ihnen nur in einer neuem schar-
fem Form einander gegenüber treten. Je mehr aber der Gegensatls
sich verschärft hatte, um so gewisser musste es auch zu einer end-
lichen Entscheidung kommen. Die antiarianische Lehrweise hätte
diess für sich, dass man nach dem bisherigen Gang der Entwick-
hing sich immer am meisten zu derjenigen Vorstellung hinneigte,
wt^lche die beiden für gleich wesentlich erachteten Bestimmungen,
die Einheit des Sohns mit dem Vater und die persönliche Verschieb
denheit von ihm, auf gleiche Weise festzuhalten suchte, so wenig
sie auch beide zur innem Einheit mit einander vermitteln konnte.
Je energischer aber der Arianismus auftrat, und je schärfer er mit
weiner analysirenden Dialektik auf klare und bestimmte Begriffb
tfrang, nm so schwieriger musste es sein, eine so unbestimmte und
so wenig !n sich selbst begründete Vorstellung, wie die der Geg-
ner wM*, gegen ihn zu behaupten. Allein auf die Entscheidung des
Streits hatten nun die Verhältnisse, durch welche überhaupt die
€lkrisfilch6 Kirche eine ganz andere Stellung in der Welt erhalten
kntte, den grösslen Einfluss. Wie die damalige politische Lage der
C%HBten, als die Verfolgungen aufgehört hatten und das Chri^ten-
thMi Viun scbdn im Begriffe vrar, zur römischen Staatsreligion cu
werden^ wesenilich dazu beigeirargen hatte, dem arianischen Streit
eine weit grössere Ausdehnung und Bedeutung zu geben, als diess
bei eftler der biiAerigen Streitigkeiten der ^all war, so hieng auch
die Entscheidung imter einem Kaiser, in welchem Christenihiim
848 Vierter Absohnltt. Das Christenthnm als höohstes Offenbanmgsprmcip.
und Römerthum schon Eins geworden waren, mit dem römischen
Staatsinteresse aufs innigste zusammen. Hit derselben Planmassig-
keit, mit welcher Constantin überhaupt als Alleinherrscher es sich
zur Aufgabe machte, die vorhandenen Hissrerhältnisse auszuglei-
chen, die Gegensätze zu versöhnen und eine neue Ordnung der
Dinge zu gründen, in welcher auch das Christenthnm die ihm that-
sächlich gebührende Stelle einnehmen sollte, nahm er auch die
arianische Sache in seine Hand, um auch in dieser Beziehung Ruhe
und Ordnung und den allgemeinen Weltfrieden herzustellen. Die
von ihm berufene nicanische Synode, welche als die erste ökume-
nische die ganze römische Welt, so weit sie christlich geworden
war, repräsentirte, macht hauptsächlich dadurch Epoche , dass in
ihr die Einheit des Christenthums mit dem römischen Staat und das
doppelte Interesse, das diese Einheit sowohl für die christliche
Kirche als den römischen Staat hatte, in einer grossartigen Er-
scheinung sich darstellte. Von welcher Bedeutung musste daher
der auf einer solchen Synode gefasste Beschluss seini Das Resultat
der nicänischen Synode war, dass die arianische Lehre verworfen
und der Glaube an den Sohn in der Formel ausgesprochen wurde,
er sei gezeugt aus dem Wesen des Vaters, Gott aus Gott, lacht
aus Licht, wahrer Gott aus dem. wahren Gott, gezeugt, nicht ge-
schaffen, gleichen Wesens {ofioba&og) mit dem Vater. Der Begriff
derHomousie war nun seitdem der stehende charakteristische Aus-
druck für das von der Kirche festgesetzte Verhältniss des Sohns
zum Vater. In ihm hatte der Entwicklungsgang des Dogma von
der Gottheit Christi auf der Seite , auf welcher er von Anfang an
die Tendenz hatte, den Sohn mit dem Vater so viel möglich zu
identificiren, die Spitze erreicht, über welche er nicht hinausgehen
konnte, wenn überhaupt noch ein Unterschied zwischen dem Yat^
und dem Sohn sein sollte. Es sollte mit dem Begriff der Homousie
der entschiedenste Gegensatz gegen die arianische Trennung des
Sohnes vom Vater ausgedrückt sein, fragen wir aber nach dem
bestimmteren Sinn dieses Ausdrucks, so gibt uns ein so authentischer
Interpret der Synode, wie Athanasius, welcher schon auf der Syn-
ode selbst einer der Hauptwortführer der antiarianischen Partei
war, eine Erklärung, aus welcher nur zu sehen ist, wie wenig
man mit ihm einen klaren und bestimmten Begriff zu verbinden
wusste. An etwas Körperliches, sagt Athanasius, dürfe man auf
Das nicftnische Dogma. 349
keine Weise denken, man müsse von allem Sinnlichen absehen,
und nur mit dem reinen Gedanken das eigenthümliche Verhaltniss
des Sohnes zum Vater, des Logos zu Gott, und die vollkommene
Aehnlichkeit des Abglanzes mit dem Licht auffassen. Da hier nur
von Unkörperiichem die Rede sei, so sei die Einheit der Natur und
die Identität des Lichts nicht zu theilen. Durchaus nothwendig sei
es, sich hier an das Bild des Lichts und des Lichtabglanzes zu hal-«*
ten. Wie der Abglanz in Beziehung auf die Sonne nichts Fremdes
und Unähnliches sei, wie Licht und Abglanz eines und dasselbe
seien, so dass man in dem Einen immer zugleich das Andere sehe,
so könne auch in Hinsicht des Verhältnisses des Vaters und des
Sohnes diese Einheit und physische Eigenthümlichkeit nur mit dem
Ausdruck oftoBo&og bezeichnet werden. Diesen Sinn haben dem-
nach die Väter der nicänischen Synode mit ihrer Formel ausdrü-
cken wollen 0* Gerade das also, woran man bei der Formel zu-
nächst denken zu müssen scheint, das natürliche Verhaltniss, in
welchem zwei Substanzen durch Abstammung oder Emanation zu
einander stehen, sollte unter ihr nicht verstanden werden, uiid
doch sollte auf der andern Seite eben diese physische Analogie die
nothwendige Anschauung sein, durch welche man sich allein eine
Vorstellung dieses eigenthümlichen Verhältnisses machen könne.
So viel hatte in jedem Falle die so nachdrückliche Protestation des
Arius und seiner Anhänger gegen alles Emanatistische in der
Idee Gottes bewirkt, dass man sich hauptsächlich nach dieser Seite
hin vorsehen zu müssen glaubte, wesswegen auch auf der Synode
selbst, auf welcher die vorgeschlagene Formel einen lebhaften Streit
erregte, sie nur unter der ausdrücklichen Verwahrung durchgesetzt
werden konnte, es solle durch sie keine körperliche Affection, keine
Trennung, keine Absonderung aus dem Vater vom Sohn ausgesagt
werden, indem ja die immaterielle, geistige, unkörperliche Natur
alle körperlichen Affectionen auschliesse, es solle durch sie nur diess
ausgedrückt werden, der Sohn habe keine Aehnlichkeit mit den
Geschöpfen, sondern sei einzig nur dem Vater, der ihn erzeugt habe,
auf jede Weise ähnlich. Wie sollte er aber aus ihm erzeugt sein,
wenn man über die Art und Weise der Erzeugung nichts zu sagen
wusste? Man hatte somit, so positiv die Formel lautete 9 nur einen
1) Athaliaslus, De decr. syn. Nie» c« 20-^25«
350 Vierter Abschnitt. Dm Cbristenthum als höchstes Offenbanmgsprindp.
unbestimmten, inhaltsleeren, negativen BegriflP, und so viele Mühe
es kostete, die Annahme der Formel zu Stande zu bringen, so wäre
auch diess nicht gelungen, wenn nicht die kaiserliche Auctorität
dazwischen getreten wäre. Von einem solchen Motiv der Annahme
wollen freilich Kirchenlehrer, wie Athanasius, nichts wissen, nach
dem Berichte des Eusebius aber lässt sich die entscheidende per-
sönliche Mitwirkung des Kaisers zu dem Endresultat der Synode
nicht in Zweifel ziehen. Da der Kaiser selbst zuerst in einem an-
dern Sinne sich erklärt hatte O9 so liegt die Vermuthung um so
näher, dass er durch alexandrinischen EinHuss für die Formel
QfAOilaiog gestimmt worden ist In einer Zeit, in welcher das hier-
archische Interesse schon so mächtig geworden war, kann auch
in dieser Sacl^e das letzte leitende Motiv nicht anderswo gesucht
werden. Man denke nur an den ersten Anfang des Streits zurück.
Er lag darin, dass in Alexandrien, wo die Presbyter am längsten
im Kampfe mit dem Episcopat ihre freiere Stellung behauptet hatr
ten, ein Presbyter mit seinem Bischof über die Lehre von der(z0tt-
heit Christi sich entzweite. Wie hätte die Entscheidung anders
fallen können, als nur so, dass der Bischof zuleitzjt den Sieg über
den ihm widersprechenden Presbyter davon trug? Die weitere
Geschichte des Dogma zeigt deutlich genug, in welchem jeogeo
Zusammenhang der Lehrbegriff, welcher nun als der katholische
giU, mit dem hierarchischen Interesse der Bischöfe stand.
Ein Dogma, welches so sehr, wie die Lehre von der Gott-
heit Christi in der vomicänischen Periode, der Hauptpunkt der
ganzen theologischen Bewegung ist, ist mit Jlecht als der cha-
racteristische Ausdruck des dogmatischen Zeitbewuss.tseins über-
haupt zu betrachten. Wie hätte gerade diese Lehre eiae so über-
wiegende Bedeutung erhalten, und zuletzt in einer solchen Form,
wie der Begriff der Homousie ist, sich abschliessen können, wenn
mcht das ganze Bewusstsein der Zeit seine Richtung auf dßs Ue-
))ersinnliche, Metaphysische, Transcendente genommen hätte. Musste
doch selbst in der Person Christi das Menschliche gegen das Göttr
liehe so sehr zurücktreten, dass alles, was sich auf die menseti-
liche Seite desselben bezog, im Grunde noch kein Gegeostand der
1) Man Tgl. das Schreiben Constantins an Alexander und Anns Uei
Eusebius Vita Const 2, 69«
Das Dogma überiiaupt. 351
dogmatischen Reflexion war. Sosehr aber das ganze Denken der
Zeit in die Idee Gottes sich vertiefte und auf das rein Theolo-
gische gerichtet war, sosehr verlor es sich doch nur in abstracte,
inhaltsleere Bestimmungen, und bei allem Bestreben, die Idee Got-
tes durch die Bestimmung der trinitarischen Verhältnisse auf ei*
Ben bestimmten dogmatischen Begriff zu bringen, hatte gleichwohl
die Lehre von Gott keinen solchen Inhalt, dass sie einen sehr be*
ftimmendenEinfluss auf die übrigen Lehren des christlichen Glaubens
haben konnte. Es ist überhaupt characteristisch für die erste Peri-
ode, dass die verschiedenen Elemente, welche den Inhalt des christ-
lieh religiösen Bewusstseins ausmachen, noch so äusserlich und
anvermittelt neben einander stehen. Als Origenes in seinem Werke
m^i ttQxoi» den ersten Versuch einer systematischen Darstellung
des christlichen Glaubens machte, fasste er den wesentlichen Inhalt
desselben in die drei Hauptkategorien, Gott, Welt und Freiheit, zu-
sammen, und stellte jedes dieser drei Principien den beiden andern
fio selbststöndig zur Seite, dass jeder dieser drei Theile des Ganzen
»gleich das Ganze selbst nur unter einem andern Gesichtspunkt
war. Man halte diess jedoch nicht blos für eine Eigentümlich-
keit des Origenes, es ist vielmehr ganz dem Standpunkt gemäss,
aif welchem damals überhaupt das Dogma sich noch befand. Gott»
die Welt, als das Endliche, und der Mensch, als das vernünftige
Subjekt, stehen noch so selbstständig einander gegenüber, dass das
ganze Verhaltniss des Menschen zu Gott, oder Gottes und der Welt,
wie diess ja auch in dem System des Origenes ist, in der Idee Got-
tes auf der einen, und der Idee der Freiheit auf der andern Seite,
im Grunde aus einem rein dualistischen Gesichtspunkt aufgefasst
wird, und alles, was in dem späteren Idrchlichen System in der
Lehre vom Gottmenschen, und von allem demjenigen, wodurch das
Ilefl für den Menschen erst vermittelt werden muss, den speci-
fsdk christlichen Inhalt ausmacht, noch so gut wie keine Stelle
ludet Wie den Kirichenlehrem dieser Periode der eigentliche Be-
griff der Gnade und der Gnadenwirkungen im spätem kircUichen
8inne noch fremd ist, und dagegen bei ihnen nur von der Liebe,
Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes die Rede ist, oder von ei-
ner göttlichen Vorsehung und Weltregierung überhaupt, so wird
ia Ansehung des Menschen das grösste Gewicht auf die Willens-
freiheit gelegt Bei keinem d^ bedeutenderen Kirchenlehrer febU
358 Vierter Absohnitt. Dim Christenthum als hdchstes Offenbanrngsprinoip.
die ausdrückliche Anerkennung der Wahrheit, dass, wenn der Mensch
nicht frei, und als ein freies, sich selbst bestimmendes Subjekt der
eigene zurechnungsfähige Urheber aller seiner Handlungen wire,
der Unterschied des Guten und Bösen, der Tugend und des Lasters,
und ebendamit auch alles aufgehoben wäre, was dem Christenthum
den Charakter einer vom Heidenthum verschiedenen sittlichen Re-
ligion gibt In die Freiheit des Menschen ist daher alles gestellt,
was ihm seinen sittlich religiösen Werth vor Gott gibt, und es kann
somit auch der die Erlangung des christlichen Heils bedingende
Glaube, der Natur der Sache nach, nur ein practisches Verhalten,
die thätige Befolgung der göttlichen Gebote sein. Um diesen Be-
griflp der Freiheit, welcher von selbst alles ausschliesst, was ihn io
dem Gegensatz der Sünde und der Gnade nach der einen oder an*
dern Seite hin beschränken könnte, und insbesondere auch in der
Natur des Menschen nichts voraussetzen lässt, was den Begriff der
Sünde mit dem der Natur identificirte, obgleich schon Tertolliu
EU dieser Identificirung sich hinneigte, in seinem vollen Sinne fest-
Euhalten, wurde er nicht nur gegen die heidnische Ansicht von
einem blinden Falum und Zufall und die gnostische Lehre von einer
astrologischen Schicksalsbestimmung sicher gestellt, sondern mm
Buchte auch schon die Schwierigkeiten zu beseitigen, welche au [
dem Vorherwissen Gottes, oder dem Glauben an die Weissagim- [
gen, oder aus deterministisch lautenden Schriftstellen für die Idee
der menschlichen Freiheit zu entstehen schienen. Ja, so wenig konnte
man sich das Yerhältniss des Menschen zu Gott anders als dorck
die sittliche Freiheit vermittelt denken, dass derjenige KirchenlelH
rer, welcher zuerst eine eigene Theorie über das Yerhältniss des
Göttlichen und Menschlichen in der Person Christi aufstellte , Ori«
genes, das Band der gottmenschlichen Einheit nur in die Frdhcit j,
setzen zu können glaubte. Nach der bekannten platonischen Tri« .
chotomie, welcher auch Origenes folgte, ist die Seele als das Mitt-
lere zwischen Geist und Leib, das Princip des nach beiden Seitei
hin mit gleicher Freiheit sich entscheidenden Willens. Was mm
bei allen andern Seelen, welche als von Gott geschaffene vernünf-
tige Wesen durch ihren Abfall von Gott aus der hohem Welt herab- >
gekommen und als abgekühlte Geister dadurch erst Seelen gewor-
den sind, nur relativ in höherem oder geringerem Grade stattfia-
llet, ist bei der Seele Jesu auf absolute Weise, Denn nur sie isl
Das Dog^a ftberiiaüpt. 3Ad
durch die nngetheilte Richtung ihres Willens und die nie erlöschende
Glut ihrer Liebe von Anfang an so unzertrennlich mit dem göttlichen
Logos verbunden, dass sie ganz in das Wesen desselben überge-
gangen ist, dass beide nicht mehr zwei, sondern wesentlich Eins
sind, und was zuerst nur freie Selbstbestimmung des Willens war,
zur Natur geworden ist, wesswegen schon Origenes dieses Durch-
dmngensein des Menschlichen vom Göttlichen in der Person Christi
durch das nachher so oft gebrauchte Bild eines vom Feuer durch-
glAhten Eisens veranschaulichte. Dasselbe zum Begriff vernünfti-
ger Wesen gehörende Princip der sittlichen Willensfreiheit, das für
die Anthropologie und Christologie so grosse Bedeutung hatte, er-
streckte sich auch auf die Angelologie und Dämonologie. Nur in
der Freiheit des Willens und in der Möglichkeit , sie sowohl zum
Bösen als zum Guten zu gebrauchen, hat es seinen Grund, dass es
in der höhern Region zwischen Gott und dem Menschen nicht blos
Engel, sondern auch Dämonen gibt, und der Antagonismus dieser
beiden Reiche liess auch das Gebiet der christlichen Offenbarung
in dem Tode Christi, als einem Kampf gegen den Teufel, und in den
Kämpfen der christlichen Märtyrer, die nach einem solchen Vorgang
die Angriffe der Dämonen immer wieder siegreich zurückschlagen,
unter dem Gesichtspunkt einer dualistischen Weltanschauung er-
scheinen. Wie die Angelologie und Dämonologie auf der einen
und die Eschatologie auf der andern Seite nicht blos der in das
Uebersinnliche hinüberschweifenden Phantasie, sondern auch dem
Binfluss heidnischer und jüdischer Vorstellungen einen sehr weiten
Spielraum eröffnete, und in solchen Elementen auch in der Folge
das Christenthum den mit dem Heidenthum und Judenthum gemein-
samen Boden seines Ursprungs nicht vergessen liess , so bildete
sich dagegen schon damals eine Lehre, in welcher nicht blos, wie in
der Trinitätslehre, die Eigenthümlichkeit des christlichen Dogma,
sondern auch der Charakter des zur Kirche sich gestaltenden
Christenthums sehr specifisch sich ausdrückte, eben die Lehre von
der Kirche selbst Das Dogma von der allein seligmachenden
ßrche wurde schon damals begründet und von Cyprian in dem
Satze ausgesprochen, dass wer die Kirche nicht zur Mutter habe,
auch Gott nicht zum Vater haben könne 0* Nachdem einmal nicht
1) Cyprian de tinitate eodesiae c. 5*: Habere jam non potest Denm
Baur> die drei ersten Jahrli. ^^
354 Vierter Abschnitt. Das Christenthum als höchstes Offenbanrngsprincip.
nur die Idee der katholischen Kirche sich soweit realisirt halte,
dass, wer nicht zu ihrer Tradition sich bekannte, auch nicht za
ihrer Gemeinschaft gehören konnte, sondern auch in der Lehre yon
der Gottheit Christi dem katholischen Dogma sein bestimmter h-
halt schon gegeben war, war jener Lehrsatz nur die Konsequenz
dieser Prämissen. Schon im Streite mit den Montanisten und No-
vatianern, durch welche die Lehre von der Kirche zuerst in Be-
wegung kam, musste man sich jedoch des Widerstreits bewusst
werden, in welchen die der Kirche beigelegten Prädikate, als An-
tinomien, mit einander kamen, wenn die Eine apostolische Ku*che
nicht blos die katholische, sondern auch die heilige sein sollte. Ifi
der Anschauung, welche die Montanisten und Novatianer von dea
Wesen der Kirche hatten, stand das Prädikat der Heiligkeit so hoch,
dass die Kirche, als die Kirche des Geistes, nur aus spiritales, in
Unterschied von den psychici, bestehen sollte, wesswegen sie alle,
die durch notorische Vergehen es unmöglich gemacht hatten , ibre
Gemeinschaft mit der Kirche mit dem Prädikat ihrer Heiligkeit zu
vereinigen, von ihr ausgeschlossen wissen wollten. Sie mussten
daher auf dieselbe Weise den Begriff der Katholicität dem derHei-
ligkeit unterordnen, wie die katholischen Christen, um der Katho-
licität der Kirche nichts zu vergeben, als psychici den Begriff ihrer
Heiligkeit beschränken mussten und das Kriterium der Gemein-
schaft mit der Kirche nur in die Uebereinstimmung in der Lehre
und Tradition setzen konnten. Was die Gemeinschaft mit der
Kirche als einer heiligen unwürdig macht, sind die bestimmten Ar-
ten von Sünden, welche die Montanisten als Todsuaden betrach-
teten. Was aber durch Sünden verloren geht, kann durch Sünden-
vergebung wieder gewonnen werden. Daher hängt mit der Lehre
von der Kirche die Frage nach der Möglichkeit und dem Recht der
Sündenvergebung zusammen. Die Montanisten gaben die Möglich-
keit der Sündenvergebung zu, auch läugneten sie nicht schlecbdun
das Recht der Kirche, die durch eine Todsünde Gefallenen unter
patrem, qui ecclesiam non habet mati*em. Si potuit evadere qmsqaam qu
extra arcam Noe ^it, et qui extra ecclesiam foris fuerit, evadet. Dieselbe
Lehre enthält auch schon der Hirte, wenn er die Kirche unter dem BiWc
eines Thnrmbaues darstellt, für welchen nur die von ihm besobriebeirtfl
Steine verwendet werden können. Vis. 3. Er hat von der Kirche die hohe M*«» \\
dass sie omnium prima creata ist, et propter illam mondus factus est« Vis. },4« l|i
\
Das Dogma üWliaupt. SftS
Ziisichenuigr der Sündenvergcbiing in die Gemeinscliaft der Kirche
wieder aufzimelimeii, indem sie aber behaupteten ^), die Absolution
könne in keinem Fall durch den Klerus, die Bischöfe der katho-
lischen Kirche, sondern nur durch die Propheten, als die den Apo«-
steht gleich stehenden Organe des Geistes ertheilt werden, be-
trachteten sie ebendamit die Sundenvergebung nicht als einen Akt
dar Kirche, sondern als einen unmittelbaren Akt Gottes. Sie ver-
weigerten daher dem reuigen Sünder die kirchliche Absolution,
Kessen ihm aber die Aussicht auf die Gnade Gottes offen, forderten
ilm mr Reue und Busse auf, und machten ihn zum Gegenstand ihrer
Fürbitte, stellten aber den Erfolg der Barmherzigkeit Gottes anheim.
Es war diess schon, wie mit Recht bemerkt worden ist^, eine Un-
terscheidung des Verhältnisses des Einzelnen zur Kirche von sei-
nem Verhaltniss zu Gott, welche die Voraussetzung in sich schloss,
dass das Heil auch ausserhalb der kirchlichen Gemeinschaft erlangt
werden könne, und die Ausschliesslichkeit der Kirche , sogar der
Begriff der sichtbaren Kirche selbst war dadurch, wenn auch nicht
mit folgerichtigem Bewusstsein, doch im Princip aufgegeben. Nur
Gott kann also Sünden vergeben, die Propheten haben zwar die
Machtvollkommenheit der Sündenvergebung, aber sie machen von
ihr keinen Gebrauch, und zwar aus dem Grunde, damit nicht nach
den vergebenen Sünden noch mehr Sünden begangen werden 0*
Es schwebte ihnen demnach die Besorgniss vor Augen, welche die
Praxis der katholischen Kirche in der Folge klar genug bestätigt
hat, dass die Sündenvergebung selbst ein Mittel der Beförderung
der Sünde werden könne. Um diese Gefahr von vorn herein ab-
zuschneiden, wollten sie überhaupt keine Sündenvergebung erthei-
len, weil das auch nur einmal Geschehene ebenso gut auch immer wie-
der geschehen kann. Da die Sündenvergebung in jedem Falle durch
Reue und Busse bedingt ist, so handelte es sich auch in Ansehung
der Busse um dieselbe, überhaupt zur Lehre von der Kirche gehö-
rende Frage, und die Möglichkeit einer zweiten Busse nach der er-
sten, durch welche die Sündenvergebung in der Taufe selbst be-
1) Vergl. oben S. 265. f.
3) Vgl. ScHWEOLEB Mont S. 232.
3) Potest ecclesia donare delictum, s^d non faciam, ne et alia delin-
qnaat, sagt ein montanistiBcIier Prophet, dessen Ausspruch TertuUian de
pudic. c. 31 anführt,
22*
856 Vierter Absolmitt. Das Chzistenthiim als höchstes Offenhaningsprinoip.
dingt ist, war gleichfalls ein Hauptmoment des Streits zwischen der
katholischen Kirche auf der einen und den Montanisten und NovatiMieni
auf der andern Seite. Eine einmalige Busse wenigstens, nach der ersten
in der Taufe, wurde nicht nur von dem Hirten des Hermas O9 son-
dern selbst auch von Tertullian üi seiner frühem Periode als
iusserstes Maass der göttlichen Nachsicht noch zugegeben, als Mon-
tanist aber erklärte er die Busse nach der Taufe schlechthin für
vergeblich und fruchtlos. Es ist diess der schon fräher erörterte
Wendepunkt des Streits der katholischen Kirche mit den Montanisten.
Cyprian hielt ihnen den Widerspruch entgegen, dass sie zur Busse
ermuntern und doch das Heilmittel der Busse verweigern ^. Die
Novatianer stimmten hierin ganz mit den Montanisten überein, and
noch auf der Synode zuNicaa vertheidigte der novatianische Bischof
Akesius die montanistischen Grundsätze über Busse und Absolution^}.
1) Mand. 4» !• VgL jedoch oben S. 269*
2) De poenit. c. 7*
5) Ep. 55.
4) Sokrates H.E. i, 10.
Fttnfter Abschnitt.
Das Cliristeiitluini als weltherrschende Macht,
in seinem VerMltniss zur heidnischen Welt
und znm römischen Staat
Das Christenthum entwickelt und realisirt , wenn wir es nach
den verschiedenen Seiten seiner geschichtlichen Erscheinung be-
trachten, die absolute 'Idee, die sein wesentlicher Inhalt ist, in immer
grosserem Umfang. Es konnte sich nicht als Heilsprincip geltend
machen, ohne durch die Allgeraeinheit des Heils, dessen Princip es
ist, die partikularistische Schranke, die ihm das Judenthum setzen
wollte, aufzuheben, es konnte als Weltprincip, als Princip einer ge-
schichtlich sich entwickelnden religiösen Gremeinschaft, nicht festen
Fuss in der Welt fassen, ohne in der Idee einer katholischen Kirche
nach zwei Seiten hin aUes abzuschneiden, was seine geschichtliche
Entwicklung auf gleiche Weise hatte unmöglich machen müssen,
Wenn es entweder in einem gnostischen Christus seinen specifischen
hhalt in die Idee eines allgemeinen Weltprocesses verflüchtigt und
sich selbst in die Allgemeinheit einer spekulativen Weltanschauung
aufgelöst hatte , oder in einem montanistischen Christus nur dazu
in die Welt gekommen wäre, um alsbald in einer alle Geschichte
abbrechenden Endkatastrophe sich selbst den Boden seiner ge-
schichtlichen Existenz hinwegzunehmen, es konnte ebenso des In-
halts seines Dogma, als der der katholischen Kirche immanenten ab-
soluten Wahrheit, sich nicht bewusst werden, ohne in seinem Be-
griff der Homousie, in der Idee eines mit Gott wesentlich iden-
tischen Christus, sich selbst als die höchste absolute Offenbarung
Gottes darzustellen. Aber auch damit hatte das Christenthum die
Sphäre noch nicht durchlaufen, in welcher es die absolute Idee
«•Ines Wesens verwirklichen musste. Ist es in jallen denjenigen
358 Fünfter Abscbnitt. Das Christenthmn als weltherraehende Ifaoht
Beziehungen, von welchen bisher die Rede war, ein innerer, inner-
halb des christlichen Kreises selbst sich herausstellender Gegen-
satz, welcher erst aufgehoben werden musste, so ist nun auch noch
seine äussere, der nichtchristlichen Welt zugekehrte Seite ins Auge
zu fassen. Schon die Idee der katholischen Kirche, sofern sie zu ihrem
geschichtlichen Dasein in der Welt sich verwirklichen soll, schliesst
die Voraussetzung einer auch äusserlich über alles übergreifenden,
jeden feindlichen Gegensatz überwindenden Macht in sich. IstdasChri-
stenthum die allgemeine, die absolute Religion, so mass sie auch
die ziur allgemeinen Herrschaft gelangende Weltreligion sein. Das
Christenthum und das römische Reich koifnten in der Welt nicht
zusammen sein, ohne früher oder spfiter zur Einheit zusammenzu-
gehen. Man betrachtet es als den augenscheinlichsten Beweis der
Göttlichkeit des Christenthums, dass dieses Ziel schon in so kurzer
Zeit durch dein glänzendsten Sieg errungen worden ist, aber noch
weit wichtiger ist, den Weg, auf welchem dieses Ziel erreicht
wurde, von dem ersten Ausgangspunkt aas, an welchen man sich
stellen muss^ durch alle seine Wendungen so zu verfolgea, dass
man sich auch des innem Zusammenhangs dieser so grossen wett-
geschichtlichen Veränderung bewusst wird. Zur herrschenden Re^
ligion des römischen Reichs konnte das ChristeiMhum nicht werdet,
ohne dass diese seine Weltherrschaft nur die äussere Erscheinunf
seiner innem, imBewnsstsein der Zeit gewonnenen Macht war. Da-
her sind überhaupt an dem hier weiter vorliegenden Gegenstand der
geschichtlichen Darstellung zwei Seiten zu unterscheiden, es fnf^
sich vor allem, wie jener Umschwung des ganzen Zeitbewusstseins
in der dem Christenthum gegenüberstehenden heidnische» Welt
erfolgte, und sodann, wie dem innem Verlauf dieses geistigen Pro-
cesses die äussere Stellung des Christenthums zu dem römischen
Staat mehr und mehr entsprach.
1. Das Verhältniss des Christenthums zur heid-
nischen Welt und zum römischen Staat nach seiacr
Innern Seite.
Geht man auf den ersten Anfangspunkt dieses weltgeschicht-
lichen Entwicklungsprocesses zurück , so steht in dem Christen-
thum auf der einen und in dem römischen Reich auf der andern
Seite das Kleinste dem Grössten gegenüber. Aber dieses Kleinste
Das Weltbewusstsein dor Christen. 359
tragt nicht blos an sich den Keim der Weltherrschaft in sich , es
spricht sich auch in ihm schon von Anfang an und auf jedem Punkte
seiner Entwicklung das Bewusstsein seiner die Welt überwinden-
den Macht aus. Das schon in den Worten Jesu an die Jünger:
„dass sie das Salz der Erde seien^S ausgesprochene Weltbewusst-
sein ist, als allgemeiner Charakter des Christenthums, der leitende
Gedanke, welcher von Anfang an, schon zu einer Zeit, in welcher
die äussere Lage der Christen nur den grössten Kontrast mit ihrem
Weltbewusstsein bilden konnte, sie beseelte, und wenn auch auf
verschiedene Weise, doch immer wieder sehr charakteristisch in
ihnen sich kund gab. Sie sind es sich mehr oder minder klar be-
wusst, dass sie die Seele der Welt sind, der alles zusammenhaltende
sabstanzielle Mittelpunkt, die Angel, um welche sich die Weltge-
schichte bewegt, diejenigen, die allein eine Zukunft für sich haben.
Wenn Melito, der Bischof von Sardes, in seiner unter Marc-Aurel
wn das J. 170 geschriebenen Apologie den Kaiser und die Römer
daran erinnerte, dass die Erscheinung des Christenthums in der
Welt gleichzeitig sei mit der Epoche machenden Regierung des
Kaisers Augustus , in welcher das römische Reich den höchsten
Punkt seiner Blüthe erreicht habe, dass beide seitdem nur zu ihrem
gegenseitigen Wohl in der Welt zusammengewesen seien ^) , so
konnte er von seinem Standpunkt aus das dem römischen Reich
seit Augustus zu Theil gewordene Glück nur dem Christenthum
1) Eusebius K.G. 4, 26. Melito sagt in der Hauptstelle dieses Frag-
tatmia: 17 yop 9ta&' i^/nav rpiXoaotpia (das Christenthum wie es auch sonst
ron den Apologeten so genannt wird, Tgl. Tattau Or. c. Gr. c» 35) ngort-
^v fjitv iv ßaQßaQoiS TjH/Ltaosv, iirav&rjaaQa St toU aoiS i'O^veai nard ttJv
jivyttm tS o& it^yora fteyakfjv «Vx^'*'^ iytryfft^ fiali^a xy af/ fiaaiXsift
uioiow dya^ov, exrort yd^ eis f'^y^ »*«i kafAirgov ro 'Pojfiai(ov tivS^&rj
Mpdrot, 8 ov SidSoxos evxraios yiyovds r§ tial tarj ttsrd to TratSof, (pvlda-
Qiuv TTjS flaa&laiaQ tjji» avvrgotpov nal ovtaQ^aMtvrf» Avyaii^ qnXoaotpiav^
tjv »al ot TT^oyovoi aa jr(»off rati akkans •&gT}aMtaie in\ur^aav. Kai tozo
f^iy^^ov tBMfiijgiov 78 ngos dyad'o rov Ma^'i^fidc kuyov avvoutfidaai TiJ na-
Xw6 dgiafAivTi ßaaiXtlq, ix t5 fir^Biv (pavXov diro z^s Avya^a di^xv^ dnav-
€^oat^ dlXd XHvavriov airavta Xa/ingd xat irSo^a xazd tds ndvnuv tvxde.
Wie treffend und sinnvoll wird hier das Christenthum in seinem Verhältniss
nun römischen Staat seit August die ovvTQocpos tiji ßaoilat'as ipiXoaoqiia
genannt! Christenthum und Kaiserthum sind somit gleichsam ein geschwi-
fterlich verbundenes Paar.
360 Fünfter Abschnitt. Das Christentham als weltherrschende Ifaoht,
zuschreiben, als einer neuen in ihm der Welt eröffneten Quelle des
Heils. Schon damals schien also den Christen alles die Wohlfalul
des römischen Reichs wesentlich Bedingende nur in dem Christen-
thum zu liegen, und es konnte somit auch aus diesem Zusammen-
sein beider nur die Folgerung gezogen werden, dass das Heil der
Welt in dem Grade uiq so sicherer begründet sei, in welchem das
beide zur Einheit verbindende Band um so fester geknüpft würde.
Dasselbe den Christen inwohnende Weltbewusstsein drückte sich
in der Weltanschauung des noch nicht montanistischen TertuUian in
dem Gedanken aus, nur die Christen seien es, die durch ihr Gebet den
Untergang der Welt noch aufhalten und ebendamit das römische Reich
aufrecht erhalten, nur um ihrer willen zögere Gott mit der allge-
meinen Auflösung 0* Lebhafter ist von eben diesem Bewosstsein
unter den altern Kirchenlehrern keiner durchdrungen, und keiner
hat es schöner und energischer ausgesprochen, als der unbekannte
Verfasser der Epistola ad Diognetum, welcher, nachdem er das
eigenthümliche, räthselhafte, mit ihrer ganzen Umgebung so viel-
fach kontrastirende Wesen der Christen in scharfen Gegensätzen
geschildert hat, seine Charakteristik in dem Satze zusammenfasst:
die Christen seien mit Einem Worte das in der Welt, was die Seele
im Leibe sei. „Verbreitet sei die Seele durch alle Glieder des Lei-
bes, ebenso auch die Christen durch die Städte der Welt. DieSede
wohne im Leibe, sei aber nicht aus dem Leibe, die Christen wohnoi
in der Welt, seien aber nicht aus der Welt Unsichtbar halte die
Seele in dem sichtbaren Leibe Wache, die Christen sehe man in der
Welt sich befinden, unsichtbar aber bleibe ihre Frömmigkeit. Das
Fleisch hasse die Seele und streite mit ihr, ohne von ihr Unrecht m
1) Apolog. adv. g. c. 32: Est et alia major necessitas nobis orandi pro
Imperatoribns , etiam pro omni statu impeiii, rebusque romanis, qni Yun
maximam universo orbi imminentem, ipsamque clausulam secnli, acerbitatM
horrendas comminantem, romani imperii commeatn scimns retardari. Itaqne
nolumus experiri, et dum precamnr differri, romanae diutnmitati faTemns.
Vgl. c. 39. Oramus — pro reram quiete, pro mora finis. (Den montanisti-
schen Gegensatz zu dieser Bitte s. oben S. 215. f.) Vergl. auch Justin
Apol. 2, 7- *'0&sv xal imfiivu 6 Geoe xtjv avy%voiv %al naralvoty tS Jr«r-
Toc Hoofia fiTj noirjaah 'iva mal oi (pavXoi iiyyekot »al SaifiOPSQ xal ap&^-
TTOi fijjxiTi vtoh Std ro anigfia tcüv XQi^utvöJv, o yivojOKti tv rij g>voH ori
aiTiov igiv, intl ti/ii^ zSto tjv^ vn äv bSe vfi7v tavra «r* noMiv naiiri^
ytiod'ai vTTQ TViV favXotv dai/Aovwr Bvvaxov ^r.
Der Uass der Heiden. 901
leiden, weil sie seinen Lüsten zu folgen hindere, so hasse auch die
Christen die Welt mit Unrecht, weil sie ihren Lüsten sich wider-
setzen, die Seele liebe das sie hassende Fleisch und die Glieder, und
die Christen lieben ihre Hasser, die Seele sei in dem Leibe einge-
schlossen, halte aber den Leib zusammen, und die Christen werden
in der Welt wie in einem Gefangniss gehalten, halten aber selbst
die Welt zusammen. Unsterblich wohne die Seele in dem sterb-
lichen Leib, und die Christen wohnen im Vergänglichen , erwarten
aber die Unverganglichkeit im Himmel. Das sei die Stellung, welche
Gott den Christen in der Welt gegeben habe und die niemand ihnen
verweigern dürfe^^ Wer so sich als die Seele der Welt weiss, dem
müssen unstreitig zu seiner Zeit die Zügel der Weltherrschaft von
selbst in die Hände fallen.
Ehe es aber dazu kam, wie vieles lag noch dazwischen, wel-
cher Widerwille, welcher Abscheu, welcher feindliche Hass gegen
das Christenthum und seine Anhanger war noch in den Gemüthem
der heidnischen Welt zu überwinden! Wie den Christen das ge-
sammte Heidenthum als das Reich der Dämonen galt, die durch Be-
trug und Arglist mit allen Künsten der Täuschung die Menschen
yerfuhrten, um von ihnen als Götter verehrt zu werden, die eben-
desswegen die heftigsten, trotz aller Niederlagen nie ruhenden
Feinde der Christen sind, weil ihnen nichts mehr verhasst ist, als
alles, was die Augen der Menschen dem Lichte der Wahrheit öffnet,
und die Blendwerke zerstört, die sie ihnen vorspiegebd, so sehen
dagegen die Heiden in den Christen ein kaum des Namens der
Menschheit würdiges, menschenfeindliches Geschlecht, und im
Christenthum selbst alles eher, als etwas, was auch nur entfernt
auf den Namen einer Religion Anspruch machen könnte. Alles
Irreligiöse und Unsittliche, das nur immer dem Christenthum schuld-
gegeben werden konnte, begriffen die drei, wie wir aus den Schrif-
ten der Apologeten sehen O^^Hg^incin gangbaren Beschuldigungen
der ii^tiOTTjg^ der Svigna dilnva und der Oid^nodHoi fni'ing in
sich. Dass die Christen den Heiden als Atheisten QbIs a&ioi, , wie
sie so oft genannt wurden) erschienen, ist sehr natürlich, da sie
1) Tert. Apol. c. 37: bostes malnistis yocare generis humaDi (Ghristianos).
t) Vgl. Justin Apol. 1, 26. Dial. c. Tr. c. 10. TatianOr. o. Gr.c. 25-
Aihenagoras Leg. c. 31. Tert. Apol. c. 7. Min. Felix Oct c, 9. Origene«
c. Cek. 6> 97. 40.
308 Fünfter Abschnitt. Das Christenthmn ak weltherrschende Macht
nicht nur die heidnischen Götter nicht anerkannten, sondern auch
so wenig ein Zeichen eines eigenen religiösen Kultus bei sich wahr-
nehmen liessen, dass sie aber auch Handlungen so granelhafter Art
unter sich begehen sollten, wie sie nur alte Mythen aus einer aller
Ciyilisation und Humanität noch so fern liegenden Zeit meldeten,
zeugt von einem mehr als gewöhnlichen Hass. Aus welcher Quelle
auch solche Beschuldigungen geflossen sein mögen Cdass sie haupt-
sächlich von Juden ausgingen, macht ihr tödtlicher Christenfaass sebr
wahrscheinlich), sobald sie einmal als Volksgerucht in Undauf ge-
kommen waren, wurden sie nicht nur in fabelhaften Erzählungen
weiter ausgesponnen, sondern auch bei dem allgemeinen Vonurtheü
um so williger geglaubt, je mehr sie durch so Vieles, was die
Christen von Juden und Heiden unterschied, und als eine charak-
teristische Eigenthümlichkeit um so mehr an ihnen aufi'allen musste,
je mehr überhaupt das Christenthum bei seiner weiteren Verbrei-
tung die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog, wie namentlich
die Sitte ihrer nächtlichen Versammlungen, die dabei gewöhnlichen
Mahle, ihre innige, den Verdacht einer geheimen Verbindung e^
weckende Verbrüderung, ihr menschenscheues, dem öffentlichen
Leben sich entziehendes Benehmen und durch so manches Andere
dieser Art bestätigt zu werden schienen. Diess war sodann jeae
durch ihre flagitia berüchtigte exitiabilis superstitio, wieTacitusdas
Christenthum um so bezeichnender nennt, je mehr uns sein Urtheil
über dasselbe als der Ausdruck der acht römischen Ansicht seiner
Zeit gelten muss. Um sie richfig zu verstehen und es überhaupt
zu begreifen, wie nicht blos die grosse Masse, sondern selbst die
Gebildetsten ein solches Urtheil fällen konnten, darf man nicht un-
beachtet lassen, was beiTacitus sich nicht verkennen lässt, dass man T
in dem aus Judäa (der origo hujus mali) entstandenen Christenthim .
selbst nur ein Erzeugniss des Judenthums sah, das nur in gestei* ,
gertemMaasse alles an sich hatte, was schon imJudenthum die volle
nationale Antipathie des Römers erweckte 0* Wie Tacitus den,
den Vorstellungen, Sitten und Gebräuchen aller andern Völker so
k
1) Die beiden Schilderangen, welche Tacitus Hist. 5, 2. f. von den Ju-
den, und Ann. 15» 44 von den Christen gibt, ergäjizen sich gegenseitig, er
hat bei den Einen immer auch schon die Andern vor Augen. Den ganzen
Eindruck, welchen das Judenthum auf ihn machte, hat er sehr emphatiseh
in den Worten ausgesprochen: Judaeorum mos absurdus sordidos^ue.
\
Beine stillwirkcnde Maoht.
sehr widerstreitenden Charakter der Juden, alles, was sie zu dem
in seiner Art so einzigen Volk machte , nur aus dem feindlichen
Hasse erklaren konnte, welcher sie von Anfang an gegen alle An*
ienn erfüllte und das eigentliche Princip ihrer Nationalitat war, so
war es nun vollends bei den Christen das odium generis humani,
was sie charakterisirte und sie aus dem ganzen Umfang der ctvili-
sirten und kultivirten Welt schlechthin ausschliessen zu müssen
schien. In der That, wenn wir Manner von der Bildung und Denk-
weise eines Tacitus als die achten Repräsentanten desRömerthums
jener Zeit betrachten, so kann es nichts Unverträglicheres, nichts
Schrofferes und Abstossenderes, keinen grösseren Gegensatz geben,
als das Verhaltniss zwischen dem Christenthum und dem römischen
Reich damals noch war, und es lässt sich kaum denken, wie der
Gfambe einer Sekte, welche in allen Schichten der Gesellschaft, von
der untersten bis zur höchsten, die öffentliche Meinung so sehr ge-
gen sich hatten, über diese so grosse Kluftje hinwegkommen konnte.
AHein es hinderte diess das Christenthum keineswegs, die Grenzen
seines anfangs noch so engen Gebiets immer weiter auszudehnen.
Der Vorwurf, der ihm noch in der zweiten Hälfte des zweiten Jahr-
hunderts von seinen Gegnern gemacht wurde 0? ^^^ss es seine An-
hinger weder in der grossen Masse des Volkes, noch in der Klasse
der Gebildeten finde, sondern nur unter solchen, die dem gemeinen
bürgerlichen Stande angehören, unter Handwerkern und Leuten,
die am liebsten für sich seien und sich vor der Oeffentlichkeit
scheuen, gibt uns das beste Bild seiner im Stillen die Gemüther
an sich ziehenden und sich allmählig immer weiter erstrecken-
den Wirksamkeit. Es waren solche, welche in der öden Leere,
die der entschwundene Glaube an die alten Götter in ihrem
reb'giösen Bewusstsein zurückgelassen hatte , das Bedürfniss em-
pfanden, ihm einen neuen geistigen Inhalt zu geben, solche, welche
die stille, in sich gekehrte Religiosität der Christen, ihr entsagen-
der Armuthssinn in der genussüchtigen Welt , ihr festes inniges
Zusammenhalten in der Zeit einer beinahe allgemeinen Auflösung
der wichtigsten Bande des Lebens ebensosehr anzog als der Trost
des Gewissens, welchen das Evangelium verhiess und die im Glau-
ben an die Parusie so lebhaft erregte Erwartung der grossen Ka-
I) Man vgl. Celsus bei Origenes c Geis. 3} 55.
i)64 Fünfter Abschnitt. Das ChrUtentham aIs welthemchende Bfacht.
tastrophe, für welche man sich bereit halten sollte. Auf diese
Weise hatte das Christenthum durch die innere Macht, die es aaf
die Gemüther der Menschen ausübte, einen weit grrösseren Theil
der heidnischen Bevölkerung für sich gewonnen, alsmanioss^lich
wahrnehmen konnte, und als die immer sichtbarer in die Augen
fallenden Fortschritte des Christenthums auch um so gewaltsamere
Gegenmaasregeln hervorriefen, hatte diess nur die Folge, welche
Tertullian am Schlüsse seiner apologetischen Rede den Heiden in
den Worten entgegenhält: Necquicquamproficitexquisitiorquaeqae
crudelitas vestra, illecebra est magis sectae, plures efficimur, qao-
ties metimur a vobis, semen est sanguis Cbristianorum. Greriade zur
Zeit solcher Verfolgungen war es, dass jetzt auch philosophisch
Gebildete mehr und mehr zum Christenthum übertraten. Die Be-
wunderung, die sie der Standhaftigkeit der christlichen Märtyrer
zollen mussten, nöthigte sie auch zu der Anerkennung, dass eine
Lehre, die ihre Bekenner mit solcher Todesverachtung erfülle, auch
auf einem tieferen Grunde der Wahrheit beruhen müsse, und nichts
weniger sein könne, als eine Befördererin der sinnlichen Lust 0)^
wie sie schon als Philosophen die Hauptaufgabe der Philosophie in
die eigene Uebung ihrer praktischen Grundsätze setzten, so erschien
ihnen das Christenthum mit seiner streng sittlichen praktischen
Tendenz selbst auch als Philosophie, und sie setzten nun auch ab
Christen, nur unter einem andern Namen, dieselbe der Philosophie
gewidmete Lebensrichtung fort, die sie schon als Philosophen be-
folgt hatten. Sicher ist, was Justin, der Philosoph und Märtyrer, in
dieser Weise von seinen Motiven des Uebergangs zum Christen-
thum selbst erzählt 0, auch die Bekehrungsgeschichte so vieler
anderer Männer derselben Richtung. Er ist für uns der Hauptre-
präsentant derer, die unter dem Namen der Apologeten eine eigene
Klasse bilden, und schon dadurch, dass nun auch solche, mit grie-
chischer Bildung und Philosophie vertrautere Männer aus dem feind-
lichen Lager herübergekommen waren, eine neue Epoche des Ver-
hältnisses des Christenthums zur heidnischen Welt einleiteten.
Die Aufgabe der Apologeten war im Allgemeinen die Recht-
fertigung des Christenthums gegen die ihm gegenüberstehende
1) Justin Apol. 2) 12.
3) Dial. cum Jud^ Tryph. c. 9.
Die Apologpeten. 365
Welt, und insbesondere gegen die, die auf das Verhältniss des
Christenthuffis zum römischen Staat und zum öffentlichen Leben
und die Lage der Christen den entscheidendsten Einfluss hatten.
Sie suchten diesen Zweck dadurch zu erreichen, dass sie die gro-
ben Beschuldigungen, welche gegen die Christen im Umlauf waren,
in ihrer Ungereimtheit und Nichtigkeit darstellten, die Vorurtheile
beseitigten, welche dem Cbristenthum in der öffentlichen Mebiung
entgegenstanden, und überhaupt durch eine genauere Darlegung
der Lehren und Grundsätze, der Sitten und Gebräuche, des ganzen
gfeselligen und sittlichen Verhaltens der Christen eine richtigere
Vorstellung von dem Wesen desChristenthums und ebendamit auch
die Ueberzeugung zu begründen suchten, dass von den Christen
nichts staatsgefährliches zu befürchten sei. Es kam vor allem dar-*
auf an, das Christenthum als das kennen zu lernen, was es seinem
wahren Wesen nach war, wusste man nur einmal, was es ist, so
schien man ihm auch seine Duldung in der bürgerlichen Gesell-
schaft nicht verweigern zu können. Die Apologeten blieben jedoch
nicht blos dabei stehen. Konnten die Heiden nach den Beschuldi-
^ngen, die sie dem Christenthum machten, das Verhältniss des-*
selben zu der ganzen heidnischen Welt sich nicht schroff und ab-
stossend genug denken, so war dagegen auch die Vorstellung,
welche die Apologeten von diesem Verhältniss sich machten, eine
nicht minder überspannte, nur nach der entgegengesetzten Seite«
So wenig sollte das Christenthum etwas so Neues und Unerhörtes
sein, das nur im Widerstreit mit allem, was bisher als Sitte, Huma*
nitat und Bildung galt , zum allgemeinen Abscheu der Menschheit
mit Einem Male in die Welt hereingekommen sei, dass man viel-
mehr, wie sie meinten, nur die Augen aufthun durfte, um überall
mitten in der heidnischen Welt selbst schon vor der Erscheinung
des Christenthums die deutlichsten Beweise seines Daseins in der
Welt zu erblicken. Ganz auf dieselbe Weise, wie man die Juden^
am sie von der Wahrheit und Göttlichkeit des Christenthums zu
überzeugen, auf das A.T. hinwies, in welchem, wenn man nur seinen
tiefem geistigen Smn recht verstehe , alles , was zum eigenthüm-
lichen Wesen des Christenthums gehört, schon enthalten sei, alle
Thatsachen der evangelischen Geschichte, bisinsEinzelste, prophe-
tisch und typisch sich finden, sollte auch die gegen die Heiden gerich-
tete Apologetik ihre höchste Spitze darin haben, den Heiden darzu-
M6 Fünfter AbscHnitt. Das Christenthum als weltherrschende Macht.
Ihun, dass sie, ohne es zu wissen, mitten in der heidnischen Welt Chri-
sten seien, und das Christenthum als die immanente Wahrheil ihres
eigenen Bewusstseins in sich haben. Es lautet freilich nichts seit«
samer, als die Apostrophe Justins an die Heiden O9 wenn er, um
ihnen die Wahrheit des Christenthums recht anschaulich zumachen,
sie auf die überall sichtbare Gestalt des Kreuzes aufmerksam macht
und ihnen vorstellt, wie sie auch jetzt noch in ihrem Unglauben be-
harren können, da sie doch in allen Werkzeugen, die sie zu ihren
Geschäften, zur Schifffahrt, zum Ackerbau gebrauchen, in der auf-
rechten Gestalt, durch welche der Mensch von den Thieren mi
unterscheidet, ja sogar in den Fahnen und Siegeszeichen, mit wd-
chen, als den Symbolen ihrer Macht und Herrschaft, sie öffentlicii
erscheinen, und in den Bildnissen ihrer gestorbenen Kaiser, dieini-
verselle Bedeutung des Kreuzes vor sich sehen , wie tief lässt uns
aber auch schon diess in die eigenthümliche Anschauungsweise
solcher hineinsehen, welchen das Christenthum so wenig als «twtf
mit der sie umgebenden Welt Kontrastirendes erschien, dass thnea
vielmehr jetzt erst in ihm das klare Bewnsstsein iber das, was sie
bisher schon waren und vor sich hatten, aufgegangen zu sein schien I
Und wenn auch eine solche Anschauung zunächst nur ein vages
Phantasiespiel war, so wussten sie ja ihren christlichen Vmvera»r
lismus auch tiefer und reeller zu begründen. Es ist nicht Cur za-
fällig ZH halten, dass zu derselben Zeit, in welcher man so grosses
Interesse hatte, das Christenthum dem Bewnsstsein der lu^idnisoheii
Welt nahe zu bringen und den trennenden Unterschied so gering
$is möglich erscheiaen zu lassen, die Logosidee ipir heirschendmi
Zeitvorstellung wurde« Sie eignete sich in der Eorm, die sie na-
mentlich bei Justin hat, ganz besonders dazu, Christliches und Nicht*'
christliches mit einander zu vermäteln. Derselbe Lagos, mnUtust
Mensch geworden ist, hat nicht nur in den jüdischen Propheten das
Kimftige vorhergesagt, sondern auch in der heidnischen Web alles
gewirkt, was in ihr Wnfares und Vernünftiges sich findet Jnstii
behauptet daher sogar ganz allgemein, dass das Vernünftige als
solches auch christlich seL Alle, die vernünftig {firni loyo) gelebt
haben, sind Christen, wenn man auch sie für gottlos hielt Was
Philosophen und Gesetzgeber TrefOiches geleistet haben, ist voi
i) ApU. 1, 54
\
Justin, Tertnllian. 367
ihnen nicht ohne einen gewissen Antheil am Logos geschehen, sie
haben nur nicht den ganzen Logos erkannt, und sind daher auch so
oft in Widerspruch mit einander gerathen 0* Justin wendet auf
die Bestimmung dieses Verhältnisses die stoische Lehre von dem
ioyos anfpfiatiKog an, um das, was der Logos in seinerEinheit und
Totalität als die allgemeine Yemunft ist, von dem zu unterscheiden,
wag er in den einzelnen Individuen nur auf partikuläre Weise isL
Der Unterschied zwischen dem Christlichen und Nichtchristlichen
besteht daher nach dieser Ansicht , die auch der Weltanschauung
des Clemens von Alexandrien zu Grunde liegt, nur darin, dass das,
was das Christenthum, nachdem in ihm der ganze Logos erschienen
ist, auf absolute Weise ist, zwar auch schon ausserhalb desselben
sich findet, aber nur relativ und partikular, nur unvollkommen und
fragmentarisch, woher es konunt, dass alles, was der Logos sper*
matisch gewirkt hat, in das allgemeine Bewusstsein der Menschheit
Bicht so eingedrungen ist, dass es zum Glauben auch der Ungebil-
deten hätte werden können, und keine Begeisterung und Aufopfe-
magsfähigkeit für die Sache der Wahrheit wecken konnte, wie sie
die Christen durch ihre Todesverachtung beweisen. Diess ist bei
aller Analogie der Unterschied zwischen Sokrates und Christus,
aber gleichwohl ist, da das Christliche im Begriffe des Logos we-
sentlich das Vernünftige ist, zwischen dem Christlichen und Nicht-
christlichen ein so nahes inneres Verhältniss, dass dem Christen-
thum überall, auch in der heidnischen Welt, verwandte Elemente
und Anknüpfungspunkte begegnen, an die es sich anschliessen
kann. Wie Justin das Vernünftige auch für christlich erklärt, so
gab TertuUian in den einfachsten Aeusseningen des religiösen Be-
wusstseins, in welchen der Heide unwillkürlich fallen lasse, was der
Polytheismus seiner Gottesidee angehängt hatte , ein testimonium
animae naturaliter crhistianae ^. Man darf also nur, wozu ja die
dialektische Betrachtung nöthigt, auf das Ursprüngliche und Unmit-
telbare zurückgehen, das der polytheistische Glaube zu seiner notfa-
weudigen Voraussetzung hat, so stehen Heiden und Christen auf
demselben Boden der allgemeinen Vernunft und des natürlichen
Gottesbewusstseins, und es ist im Christenthum durch den mensch-«
1) Apol. 1, 46. S, 10. i3.
2) Apolog. c. 17« De anima c. 1.
^ßS Fünfter Abschnitt. Dm Christenthnm als weltherrsohende Macht.
gewordenen Logos nur klar und anschaulich auch für das popnlire
Bewusstsein ausgesprochen, was jeder als das an sich Wahre und
Vernünftige anerkennen mnss.
Welchen unmittelbaren Eindruck solche Apologien hervor-
brachten, ob sie auch nur in die Hände derer gelangten, für welche
sie zunächst bestimmt waren, wissen wir nicht, im Allgemeinen
lässt sich gewiss nicht läugnen, dass sie wesentlich dazu beitrugen,
die Aufmerksamkeit des grösseren Publikums in weiterem Kreise
auf das Christenthum hinzulenken, und dasselbe in einem ganz an-
dern Lichte, als bisher, erscheinen zu lassen. An die Stelle der
dunkeln Volksgerüchte, welche bisher so oft die trübe Quelle wa-
ren, aus welcher man die Kenntniss des Christenthums schöpfte,
traten nun literarische Zeugnisse, die man nicht unbeachtet lassen
konnte, die jedem, welcher dafür Interesse hatte, Gelegenheit ga-
ben, sich ein eigenes selbstständiges Urtheil zu bilden, die selbst
dazu aufforderten, in einem Tone , welcher nur um so mehr dazu
reizen musste. Je genauer man mit dem Christenthum bekannt
wurde, um so weniger konnte man die Bedeutung, welche das
Christenthum mehr und mehr als eine neue Erscheinung der Zeit
gewonnen hatte, verkennen. Man musste sich in die Nothwendig-
keit versetzt sehen, sich ernstlich und gründlich darüber Rechen-
schaft zu geben, wie es sich mit dem Christenthum überhaupt ver-
hielt, was an ihm war, welchen Anspruch auf Wahrheit es za
machen hatte, man konnte es jetzt unmöglich mehr ignoriren oder
nur mit Hohn und Verachtung zurückweisen , man musste , wenn
man ihm keinen Glauben schenken konnte, auch einen Versuch
seiner Widerlegung machen, und je mehr man sich durch eine
solche Untersuchung des ganzen Unterschieds der christlichen mid
der heidnischen Weltanschauung bewusst wurde, umso mehr musste
man auch auf die letzten Gründe zurückgehen, auf welchen die eine
wie die andere beruhte. Dass es in der zweiten Hälfte des zweiten
Jahrhunderts unter den Gegnern des Christenthums nicht an solchen
fehlte, welchen sich diese Frage in ihrer ganzen Wichtigkeit auf-
drängte, beweist die merkwürdige Schrift, welche der uns sonst
nicht näher bekannte griechische Philosoph Celsus gegen das
Christenthum verfasste 0* ^^^ Titel, welchen er ihr gab, indem
1) Wer dieser Celsus war, gegen welchen Orige&es sohrieb, IXsst sieb
Celsns. 000
er sie einen ulfi&ns lofog nannte, sollte ohne Zweifel das Wahr-
heitsinteresse, das ihn zu dieser Bestreitung des Christenthums be-
nicht mehr ermitteln, da scbon Origenes selbst nichts Näheres über ihn
wQSSte. Die verschiedenen Data, welche dabei in Betracht kommen, sUid
folgende: Es gab nach der Angabe des Origenes 1, 8 zwei Celsns, welche
E^^kureer waren, der eine lebte unter Nero, der andere unter Hadrian und
später. Nur um den letztem kann es sich hier handeln. Dass dieser Gel-
lua (welchen Origenes geneigt ist für den von ihm widerlegten Celsus zu
halten) ein Epikureer war, erhelle, sagt Origenes a. a. O. aus andern seiner
Schriften. Von andern, von einem Epikureer Celsus verfassten Schriften ist
auch 4, 56 die Rede, und zwar von zwei gegen die Christen geschriebenen
Büchern. Origenes kannte femer mehrere gegen die Mi^e geschriebene
Schriften eines Celsus 1, 68} obgleich er aber sonst seinen Celsus für einen
Terstellten Epikureer hält, oder für den sonst bekannten Epikureer Celsus,
lOBsert er sich doch 1, 68 darüber ungewiss, ob er der Verfasser der
Schriften gegen die Magie sei. Einen Epikureer Celsus, welcher gleich-
fiiUa gegen die Magier geschrieben hatte, lernen wir aus Lucianos Pseudo-
mantis kennen. Auf die Aufforderung seines Freundes Celsus schrieb Lu«
dan die Geschichte des Alexander Yon Abonoteichos , eines berüchtigten,
für einen Propheten sich ausgebenden Gopten um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts, und widmete ihm diese Lebensbeschreibung, in welcher von
EpÜLur auf eine sehr ehrende Weise gesprochen wird. Ohne Zweifel ist der
Celaas Lucianos der dem Origenes aus andern Schriften bekannte Epikureer
Celans, ob nun aber dieser Celsus auch der von ihm widerlegte Qegner des
Christenthums ist, ist sehr zweifelhaft, und es ist sogar diese Annahme
kaum möglich, da dieser letztere Celsns in seinen philosophischen Ansich-
ten und Grundsätzen ein so entschiedener Platoniker ist, dass sich kaum
denken l&sst, er sei eigentlich ein Epikureer oder auch nur ein Eklektiker
gewesen. Auf ein bestimmteres Resultat Iftsst sich, so oft auch die Frage
über die Person des Celsus schon untersucht worden ist (man yergl. beson-
ders BiXDBMAHH über Celsns und seine Schrift gegen die Christen in 111-
gen*8 Zeitschr. für bist. Theol. 1812 S. 58 f«)> nicht wohl kommen. Doch
mdchten die beiden Celsus, um deren Identität oder Verschiedenheit es sich
handelt, der von Origenes widerlegte und der als Epikureer bekannte, sich
Boeb bestimmter scheiden, wenn man die Stelle 4| 36} wo Origenes seinen
Ceifloa zwar als Epikureer bezeichnet, aber mit dem Beisatz: ti'yt iros <g«
nml 6 nara X^HtavtHif a?.lft dvu ßißkw, av^raSaSf richtiger erklärt, als ge*
w5bnlich geschieht. NeanderK.G. i.A. i. S. 274 hat mit Recht bemerkt, es
kllnnen hier unter den andern Büchem keine andern gemeint sein, als jenes
Eine Werk, zu dessen Widerlegung Origenes schrieb, diess sei ja eben das
Ptoblematisohe gewesen, ob der Epikureer Verfasser dieses Werkes sein
könne, ob derselbe ausserdem noch zwei andere Bücher gegen die Christen
yerfissst habe, diess sei etwas gar nicht hieher Gehöriges gewesen. Nur hat
Neander nicht erklärt, wie Origenes, wenn er nur jenes Eine Werk des
Biiur, die drei ersten Jahrh. ^^^
370 Fünfter Abschnitt. Das Christenthom als welthemohende Macht
stimmmte, bezeichnen, und die reichhaltigen Bruchstücke der ver-
loren gegangenen Schrift, welche Origenes in den acht Büchern
seiner Gegenschrift uns erhalten hat, zeugen hinlänglich von dem
Ernste, mit welchem er seinen Zweck verfolgte, und von der Mühe
und Sorgfalt, welche er auf sein Werk verwandte. Er kannte nicht
nur die Religionsurkunden der Christen, wie sich deutlich nach-
weisen lässt, mehrere der noch jetzt indemneutestamentlichenKa-
non stehenden Schriften, sondern auch die Grundsätze, Gebrauche
und Einrichtungen derselben, die Parteien, in welche sie sich theil-
ten, alles , was die Christen jener Zeit charakterisirte und einem
heidnischen Gegner an ihnen besonders aufifallen musste. An
Schärfe des Geistes, an dialektischer Gewandtheit, an vielseitiger
philosophischer und allgemeiner Bildung steht er keinem Gegner
des Christenthums nach, luid es überrascht nicht selten, dieselben
allgemeinen und durchgreifenden Momente schon von ihm sehr
treffend hervorgehoben zu sehen , auf welche alle folgenden Geg-
ner des Christenthums, wenn auch in anderer Form und von sehr
verschiedenen Standpunkten aus, immer wieder zurückgekommen
sind. Um so grösseres Interesse hat es daher auch , nicht nur die
Hauptpunkte seiner Bestreitung etwas näher kennen zulernen, son-
dern sich hauptsächlich auch die Frage zu beantworten, welches
Urtheil über das Wesen und den Charakter des Christenthums über-
haupt sich ihm zuletzt aus allem zusammen, was er nach so vielen
Seiten hui erwogen und zur Sprache gebracht hatte, ergab, und wie
Celans meinte, gleichwohl von Sio ßlßha reden konnte, allein dies« eilillt
seinen yollkommenen Aofschluss ans demjenigen, was Origenes am SchlmM
seines Werks 8, 76 gegen seinen Freund Ambrosins bemerkt : er soUe wis-
sen, dass Celans angekündigt habe, er werde noch eine andere Schrift naofa
dieser schreiben, in welcher er zeigen wolle, wie die zu leben haben, welelie
ihm folgen wollen nnd können, wenn er nun die versprochene aweite Sclucift
nicht geschrieben habe, so möge es an den acht znr Widerlegung sei&tf
Schrift geschriebenen Büchern genug sein, wenn er sie aber angefang^i
und vollendet habe, so möge Ambrosius nach ihr sich umsehen nnd sie ihm
schicken, damit er auch auf sie antworten könne. Ohne allen Zweifel meinte
Origenes unter den Svo ßiflkia neben dem Werk des Celsus, gegen das er
schrieb, jenes andere, von welchem er 8, 76 spricht, indem er 4, 56 ▼of-
aussetzt, Celsus habe seinen Vorsatz wirklich ausgefährt. Es gab demnach
in jedem Fall nur Einen Celsus, welcher gegen die Christen schrieb} nicht
zwei.
Celsiu. 371
rieh in seinem Urtheil die allgemeine Ansicht der Zeit über das Ver*
hiltniss des Christenthums zu der ihm gegenüberstehenden Welt
zu erkennen gibt.
Das Werk des Celsus scheint eine sehr methodische, zum Theil
künstlerische Anlage gehabt zu haben, doch lässt sich darüber nicht
bestimmter urtheilen, da Origenes, obgleich er der Schrift semes
Gegners in ihrem steten Zusammenhang folgt, doch auch Vieles
übergangen hat, und demnach ungewiss bleibt, wie weit die vielen
Wiederholungen und Abschweifungen, die sich bei Celsus nach
Origenes finden, von ihm motivirt waren oder nicht Einen näheren
Blick in die Oekonomie des Werkes lässt uns die Vertheilung der
Materien an verschiedene Personen werfen. Ehe Celsus in eigener
Person auftritt, lässt er einen Juden, welchem er seine Einwürfe in
den Mund legt, seine jüdische Rolle spielen. Es geschah diess
nicht blos, um die Scene der Darstellung dramatisch zu beleben,
sondern auch hauptsächlich in der Absicht, um durch Ausscheidung
dessen, was auch schon der Jude von seinem Standptnkt aus vorbringen
konnte, den Haupteinwendungen, welche die höhere Instanz des
heidnischen Gegners waren, und bei welchen die letzte Entschei-
dung nur in der Philosophie liegen konnte, mehr Schärfe und Be*
deutung zu geben. Dem Juden fiel bei dieser Theilung der Rollen
vorzugsweise alles dasjenige zu, was die Glaubwürdigkeit und in-
nere Wahrscheinlichkeit der evangelischen Geschichte betraf. Er
greift die Erzählung von der Geburt Jesu aus der Jungfrau an und
behauptet dagegen, er sei von einer armen, von der Arbeit ihrer
Hände lebenden Mutter geboren, die von ihrem Manne des Ehe-
bmchs überwiesen worden seL Verstössen und umherirrend hake
sie in schimpflicher Verborgenheit Jesum geboren, welcher aus
Armuth in Aegypten Dienste genommen, daselbst geheime Künste
grtemt und nach seiner Rückkehr durch sie es soweit gebracht
habe, dass er sich selbst einen Gott nannte 0. Diese Beschuldi-
gung liess Celsus mit Recht den Juden auf sich nehmen, da er sie
aus einer ohne Zweifel schon damals unter den Juden gangbaren
Tradition genommen zu haben scheint O9 sonst sind die meisten
1) 1, 28.
3) 1, 32 fÜbrt Origenes aus Celsus aii: der Vater Jesu sei ein Soldat
mit Namen Panthera gewesen. Auch im Talmud heisst Jesus: M^'^^fi n tittj^
23*
379 Ffinfter Abschnitt. Dm Chrbtenthom als weltherrsohende Maolit
seiner Einwendungen mehr negativer Art, indem er das Unwürdige mid
Unwahrscheinliche des Inhalts der evangelischen Geschichte nach-
zuweisen sucht. In diesem Sinne fragt er in Betreff der Geburt Jesu,
ob denn seine Mutter schon gewesen sei und Gott wegen ihrer
Schönheit sich in sie verliebt habe, und wie es sich mit dem Reidi
Gottes reime, dass er sie habe Verstössen werden lassen 0? Femer:
warum Jesus als Kind nach Aegypten gebracht worden sei, ob Gott
auch wegen des Todes sich fürchte? Freilich sei ein Engel von
Himmel mit dem Befehl zur Flucht gekommen, aber ob denn der
grosse Gott, der um Jesu willen schon zwei Engel gesandt hatte,
seinen eigenen Sohn nicht sicher zu Hause habe bewahren können?
Aus seinem Tode könne man sehen, dass er kein solches Blut ge-
habt habe, wie nach Homer in den seligen Göttern fliesst Die al-
ten Mythen von Göttersöhnen, einem Perseus, Amphion, Aeakus,
Minos, verdienen keinen Glauben, aber es machen sie doch ihre
grossen und bewunderungswürdigen Thaten glaublich , was denn
aber Jesus in Worten oder Thaten Grosses vollbracht habe ? Ob-
gleich die Juden ihn im Tempel aufforderten, sich durch ein augen-
scheinliches Zeichen als Sohn Gottes zu zeigen, habe er nichts ge-
than 0- Wie sie denn den für einen Gott halten können , welche
nicht nur von allem, was er verhiess, nichts leistete, sondern auch,
als ihn die Juden überführten, verurtheilten und des Todes würdig
erachteten, sich verbarg, auf der schimpflichsten Flucht ergriffen
und von denen, die seine Jünger hiessen, verrathen wurde? Ein
Gott hätte doch nicht fliehen, noch gebunden hinweggeführt werden
sollen, am wenigsten aber hdtte der, den man für den Erlöser hielt,
für den Sohn des grössten Gottes, für einen Engel, von denen, die
mit ihm zusammen waren, in vertrauter Gemeinschaft alles mit ihm
theilten, und ihn zu ihrem Lehrer hatten, verlassen und ausgeliefert
werden sollen *). Besondem Nachdruck legte der Jude darav^
er heisst so, wie Nitzbch Theol. Stud. und Krit. 1840« 1« S* 115 zeigt, als
Sohn der Bohlerin. Das Wort sei aus dem Hellenischen in das Chal-
d&ische gekommen, itav&tjg^ panthera, wie das lateinische Inpa, ein Büd
habsüchtiger WoUost, geisiger Buhlerei, einer solchen, die auf alles J^j^
macht, dno rS näv ^rj(^av. Es ist somit nur ein anderer Ausdruck f&r den
Betriff der fAoix^la,
1) 1, 39.
3) 1, 66. 67.
3) 3, 9.
Cekns. 373
daM Jesus von seinen eigenen Jüngern verrathen worden sei Diess
sei noch keinem guten Feldherrn, auch wenn er der Anführer vie-
ler Myriaden war, begegnet, selbst jeder Rauberhauptmann verstehe
es besser, seine Leute durch Wohlwollen an sich zu fesseln 0*
Die Voraussagungen Jesu von seinem Schicksal werden gleichfalls
vielfach angefochten. Welcher Gott oder Dämon oder verstandige
Mensch werde, wenn er vorauswisse, dass ihm solches widerfahre,
nicht ausweichen, sondern sich selbst hineinstürzen? Wenn er
dem eiinen seiner Jünger vorausgesagt habe, er werde ihn verra-
then, dem andern, er werde ihn verläugnen, warum sie vor ihm als
Gott nicht so viel Scheu gehabt, der eine, dass er ihn nicht ver-
rieth, der andere, dass er ihn nicht verlaugnete? Wenn er aber
als Gott diess voraussagte, so habe ja das Vorausgesagte mit Noth-
wendigkeit geschehen müssen. Gott habe also seine Jünger und
Propheten, die mit ihm assen und tranken, während doch sonst ein
Mensch seinem Tischgenossen nichts Böses zufügt, zu Verbrechern
und Frevlem gemacht 0- Ebenso wenig kann der Gegner begrei-
fen, wie jemand auf solche Weise, wie von Jesu geschehen sein
soll, sich als Gott und Gottessohn habe dokumentiren können. Wie
die Sonne dadurch, dass sie alles erhellt, sich selbst zeige, so hätte
es auch der Sohn Gottes machen sollen. Was er in dieser Beziehung
Crotteswürdiges gethan, ob er die Menschen verachtet und das, was
ihm widerfuhr, verlacht habe ? Warum er nicht, wenn nicht zuvor, doch
zuletzt sich als Gott gezeigt, von dieser Schande sich befreit und
sich und seinen Vater an denen, die sich an ihm vergriffen, gerächt
habe? Wie man es also, fragt der Jude, denJuden verargen könne,
dass sie ihn nicht für einen Gott halten und in der Ueberzeugung,
dass er zum Nutzen der Menschen diess erduldet habe, selbst auch
solches auf sich nehmen, da er ja, solange er lebte, nicht einmal
seine eigenen Jünger von einer solchen Ansicht seines Todes habe
überzeugen können? Ob es nicht widersprechend sei, hält er den
Christen entgegen, dass sie mit ihm sterben, während doch die, die
mit ihm im Leben zusammen waren, die seine Stimme hörten, sei-
nen Unterricht genossen, als sie ihn leiden und sterben sahen, we-
der mit ihm noch für ihn starben, und nicht zur Todesverachtung
i) 3i 13*
9) 9, 30.
374 Fünfter Abschnitt. Das Christenthum als welthemohende Macht
bewogen werden konnten 0? Aus der Reihe der in die gleiche
Kategorie gehörenden Einwendungen mögen hier nur noch die die
Auferstehung Jesu betreffenden angeführt werden. Wie man sich,
fragt der Jude, von ihr überseugen könne? Gebe man auch zu,
dass sie vorausgesagt worden sei, so haben ja schon so viele An-
dere ihr Interesse dabei gehabt, durch ein solches Vorgeben Leicht-
glaubige zu überreden, wie Zamolxis, der Sklave des Pythagoras
bei den Scy then, Pythagoras selbst in Italien, Rampsinitus in Aegyp-
ten, Orpheus bei den Odrysen, Protesilaus in Thessalien, Herkules
in Tänarus, Theseus. Es sei aber zu erwägen, ob je einer, dar
wirklich gestorben war, mit demselben Leibe auferstanden sei.
Wie die Christen glauben können, was Andere sagen, seien nur
Mythen, ihr Drama aber habe mit dem Ausrufe am Kreuze bein
Hinscheiden , mit dem Erdbeben und der Finstemiss die schönste
und überzeugendste Katastrophe damit gehabt, dass der, der lebend
sich nicht helfen konnte, todt auferstand, und die Zeichen sein^
Todesstrafe zeigte, und die durchbohrten Hände? Wer es gesehen
habe? Ein schwärmerisches Weib, wie sie selbst sagen, oder wer
sonst zu derselben Zaubererbande gehörte und die Anlage hatte, hie-
ven XXL träumen, oder seinem Wunsche gemäss in seiner Phantaste
sich diess einbildete, wie es schon vielen Andern so gegangen sei,
oder, was noch glaublicher sei, durch ein solches Wunder Andere
in Erstaunen setzen und andern Betrügern in die Hände arbdtea
wollte. Jesus hätte, wenn er seine göttliche Macht wahrhaft offen-
baren wollte, seinen Feinden, seinem Richter, überhaupt allen er-
scheinen sollen, er hätte, wenn er dadurch seine Gottheit hätte be-
weisen können, vom Kreuze hinweg sogleich verschwinden soUen.
Aus allen diesen und andern Argumenten derselben Art zieht der
Jude die Schlussfolgerung, so sei nun Jesus ein Mensch gewesen
und zwar ein solcher, wie ihn die Wahrheit zeige und die Vernunft
erkennen lasse 0-
Celsus bezeichnet selbst die Rolle, die er den Juden spielen
lässt, als ein blosses Vorspiel seines dialektischen Kampfs, gegen
das Christenthum. Der Streit zwischen den Juden und Christen ist
in seinen Augen so thöricht, dass er ihn mit dem sprüchwörtlichen
Streit über den Schatten eines Esels vergleicht Das, worüber Ja-
1) 2, 50—45.
9) 2, 55. 63. 68. 79.
Celnu. S75
den und Cbristen mit einander streiten, habe keine Bedeutung, da
beide glauben, dass von dem göttlichen Geist die Ankunft eines Er-
lösers der Menschheit geweissagt worden sei und sie nur darüber
nicht mit sich einig seien, ob der Geweissagte schon gekommen sei Es
kommt daher jetzt darauf an , die Voraussetzungen , von welchen
die Juden und Christen ausgehen, und ebendamit die supranatura-
listische Weltansicht überhaupt, auf deren Boden beide stehen , zu
bestreiten. Ehe er mit den darauf sich beziehenden gewichtigern
Argumenten hervortritt, spricht er in verschiedenen Wendungen
seine allgemeine Ansicht vom Christenthum dahin aus, dass er in
ihm überhaupt nichts finde, was auf Achtung und Anerkennung
Anspruch machen könne. Das Christenthum beruhe überhaiq)t
auf keiner reellen vernünftigen Grundlage; wie schon die Juden
in Folge eines religiösen Zwiespalts sich von den Aegyptiem ge-
trennt haben, so sei auch bei den Christen Willkür undNeuerungs«-
sucht, Aufiruhr und Sektengeist das Element, in welchem sie sich
bewegen. Nur darauf und auf die Furcht, die sie Andern einflössen,
besonders auch durch die Schreckbilder vor künftigen Strafen,
gründen sie ihren Glauben 0- Weit vernünftiger, als die Christen
in ihrem Glauben an Jesus, seien die Griechen in ihrem Glauben an
einen Herakles, Asklepios, Dionysos, welche als Menschen wegen
ihrer verdienstlichen Tbaten für Götter gehalten werden, in ihren
Sagen von einem Aristeas aus Proconnesus, dem Hyperboreer Aba-
ris, dem Hermotimus aus Klazomena, einem Kleomedes aus Asty-
paläa, von welchen Aehnliches, wie von Jesus, erzahlt werde, ohne
dass man sie für Götter halte, der Kultus, welchen die Christen
ihrem Jesus erweisen, sei um nichts besser , als der Antinouskul-
tus Hadrians, sie haben keine Ursache, über die Verehrer des Zeus
zu lachen, weil man sein Grab in Kreta zeige, da sie nicht wissen,
was dieKretenser dabei thun, und da sie ja selbst einen Begrabenen
verehren ^. Welcher Art das Christenthum sei, könne man femer
daraus sehen, dass kein Gebildeter, Weiser, Verständiger zu den
Christen gehe. Unwissende aber und Thörichte dürfen Vertrauens-»
voll kommen, solche Leute halten sie ihres Gottes für würdig, und
sie erklaren offen, dass sie keine andere unter sich haben wollen
1) 3, 5. f. 14*
2) 3, 7%. 36, f. 36. 43.
376 Fünfter Abscbnitt. Das Christenthiiin als irelthemohende Ifaelit.
nnd können. Da die Christen jener Zeit gfrösstentheik den niedern
Ständen angehörten, 80 nahm Celsus besonders auch davon die
Zage zu seiner Charakteristik des Christenthums. Die ChristeB
schienen ihm in die Klasse derer zu gehören, die auf öffenttichen
Plätzen mit ihren schlechten Känsten sich umtreiben und in keine
anständige Gesellschaft kommen, in den Häusern sehe man Wollen-
arbeiter, Schuster, Gerber, ungebildete und ungesittete Leute,
welche vor den altem und verständigem Hausherm kein Wort n
reden wagen, wenn sie aber Kinder und Weiber fär sich bekom-
men können, so reden sie die wunderlichsten Dinge und stellen
ihnen vor, sie sollen sich nicht an den Vater und die Lehrer halten,
sondem nur ihnen folgen, jene seien in Eitlem befangen und können
nichts Rechtes thun, sie allein wissen, wie man leben müsse, wem
ihnen die Kinder folgen, so werden sie glücklich werden und das
Haus glücklich machen 0- Celsus glaubt hiemit nicht zu hart über
die Christen zu urtheilen, und macht ihnen einen noch starken»
Vorwurf daraus, dass, während man sonst in den Mysterien die
Reinen, keiner Schuld sich Bewussten, die, die gut und gerecht ge-
lebt haben, zur Reinigung von den Vergehungen aufrafe, die Chri-
sten dagegen jedem Sünder, Thoren, Unglücklichen die Aufnahme
in das Reich Gottes verheissen. An dem Vorzug, welchen das
Christenthum den Sündem gebe, und an seiner Lehre von der Ver-
gebung der Sünden nimmt Celsus ganz besonders Anstoss. Er
hält Sündenvergebung überhaupt nicht für möglich, es wisse ja je-
der, dass die, die den natürlichen Hang zur Sünde durch die Ge-
wohnheit verstärkt haben, durch Strafen nicht anders werden, und
noch weniger durch Mitleiden. Die Natur vollkommen zu ändern
sei das Schwierigste. Ebensowenig lasse sich Sündenvergebanf
mit der Idee Gottes vereinigen. Nach der Vorstellung der Christen
gleiche Gott denen, die sich durch Mitleiden erweichen lassen, ans
1) 3» 50. 53. 55. MöHLER, Braclistücke aus der Geschichte der Avf-
hebnng der gklaverei, Gesammelte Schriften nnd Anfsfttze Bd. f. |840. S.85
versteht unter den fQ^a(iyoU anviovifioi^ uvatpeic^ Sklaven und führt diese
Stelle als Beweis dafür an, dass die Christen in der Bekehrung der Sklaven
sehr thfttig und glücklich gewesen seien. Davon enthält aber die Stelle
keine Andeutung, und die Voraussetzung ist unrichtig, dass Handwerker, wie
die genannten, bei den Alten nur Sklaven gewesen seien. Wozu auch die
Specialisirung, wenn er sie nur als Sklaven bcEeichnen wollte?
Celsus. 377
üdeiden mit den Jammernden mache er es den Bösen leicht, die Gu*
lea aber, die nichts dergleichen thun, verwerfe er. Die Christen
neinen freilich, Gott könne alles, es sei aber klar, dass ihre Lehre
len Beifall keines Vernünftigen gewinnen könne ^).
Schon in allen diesen Beziehungen kann also das Christenthum
ler Vernunft sich nicht empfehlen, noch stärker aber tritt der Wi-
ierstreit mit der Vernunft hervor, wenn man nach den letzten
Sründen fragt, aufweichen das Christenthum beruht. DasChristen-
Innn setzt eine besondere Erscheinung und Offenbarung Gottes
rorans, es ist der Begriff der Offenbarung, auf welchen man in
elKter Beziehung kommt. Celsus bestreitet ihn nicht nur mit Grün-
len, die auch in der Folge immer wieder gegen die Möglichkeit
Aner Offenbarung überhaupt vorgebracht worden sind^ sondern
ifthrt auch die Hauptfrage, um welche es sich handelt, auf den Un-
Miichied der theistischen und pantheistischen Weltansicht so zu-
Uck, dass die beiden Standpunkte in ihrer ganzen Weite auseinan*
lertreten.
Die zwischen Christen und Juden streitige Frage, ob Gott, oder
ler Sohn Gottes, schon herabgekommen sei, oder erst herabkommen
rerde, ist ein schmählicher Streit, es fragt sich, welche vernünftige
Vorstellung man sich überhaupt von einer solchen Herabkunft Got-
M machen soll 0* Warum, fragt Celsus, kam Gott herab? Um
ia sehen, wie es bei den Menschen stehe? Wusste er denn nicht
lUes? Er wusste es? Und hat es nicht verbessert und konnte es
dcht mit seiner göttlichen Macht verbessern? Er konnte es nicht
erbessern, ohne dass für diesen Zweck jemand geschickt wurde?
ruieicht wollte er, weil er den Menschen noch unbekannt war, und
»einte, es fehle ihm desswegen etwas, erkannt werden und sehen,
rer glaube und wer nicht 1 Celsus gibt darauf selbst die Antwort,
lOtt habe für sich nicht nöthig, erkannt zu werden, sondern theile
ins nur zu unserem Besten seine Erkenntniss mit, fragt aber, warum
m Gott erst nach so langer Zeit eingefallen sei, das Leben der
lenschen gerecht zu machen, ob er zuvor nicht daran gedacht
igbe '3? Um aber die Sache noch tiefer aufzufassen, geht Celsus
1) 3, 65. 65. 70. 71.
3) 4i 3. 3.
3) 4, 8.
878 Fünfter Abschnitt. Das Christentimm als weltherrsohende Maeht.
auf den Begriff Gottes zurück. Er wolle, sagt er, nichts Neues
sagen, sondern nur längst Anerkanntes. Gott sei gut, schön, selig,
der Inbegriff des Schönsten und Besten sei er. Wenn er zu den
Menschen herabsteige, so müsse eine Veränderung stattfinden, diese
Veränderung sei aber ein Uebergang vom Guten zum Bösen, vom
Schönen zum Hässlichen, vom Seligen zum Unseligen, wer eine
solche Veränderung sich wünschen könne? Zudem könne zwar
das Sterbliche seiner Natur nach sich ändern und umgestalten, das
Unsterbliche aber bleibe immer sich selbst gleich. Eine solche Ver-
änderung, wie sie das Christenthum voraussetzt, sei demnach for
Gott an sich unmöglich. Die Christen meinen freilich, Gott kömie
sich wirklich in einen sterblichen Leib verwandehi, da aber diess
unmöglicli sei, so liesse sich nur denken, dass er, ohne sich wirk-
lich zu verändern, für die, die ihn sehen, sich den Schein einer
solchen Veränderung gibt, wäre aber diess, so würde er lägen und
betrügen. Lüge und Betrug sei immer etwas böses und nur als
Heilmittel anzuwenden, entweder bei Freundeji, um sie, wenn sie
krank und von Sinnen gekommen sind, zuheilen, oder gegen Feinde,
um einer Gefahr zu entgehen, beides aber finde bei Gott nieht
statt 0* Setzt man aber einmal eine Offenbarung , ungeachtet oe
an sich unmöglich ist, als wirklich geschehen voraus, so muss man
sich auch einen bestimmten Zweck derselben denken können. Der
Offenbarungsgläubige kann die Welt nur teleologisch betrachten,
die teleologische Weltbetrachtung aber führt zu Partikalarismos,
und mit dem Partikularismus hängt eine anthropomorphisohe und
anthropopathische Vorstellung von Gott aufs Engste zusanunrnL
Diess ist der Gedankenzusammenhang, in welchem die Polemik des
Celsus in diesem Theile seines Werkes, wo die höchste philoso-
phische Principienfrage zur Sprache kommt, weiter fortgeht
Nach der Behauptung der Juden, sagt Celsus, müsse, da das Leben
mit aller Bosheit erfüllt sei, ein Gesandter Gottes kommen, um die
Bösen zu strafen und alles zu reinigen, auf analoge Weise wie bei
der ersten Sündfluth, die Christen modificiren diess so, dass sie sa-
gen, wegen der Sünden der Juden sei der Sohn Gottes schon ge-
schickt worden und die Juden haben, weil sie ihn mit dem Tode
bestraften und ihm Galle (xo^) zu trinken gaben, den Zorn (xokog)
1) 4, 14. i8.
Celflos. 379
Gottes auf sich gezogen. Rasch ergreift diess der Hohn des Gel-
sus, um Juden und Christen zusammen mit einer Schaar von Fle-
dermäusen zu vergleichen, oder mit Ameisen, die aus ihrem Neste
hervorkriechen, oder mit Fröschen, die um einen Sumpf herum-
sitzen, oder mit Würmern, die in einem Kothwinkel sich versam-
meln, und darüber unter sich streiten, welche von ihnen die grösse-
ren Sünder seien, und sagen, wir sind es, welchen Gott alles vor-
herverkündigt, um unserer willen lasst er die ganze Welt, Himmel
and Erde, um mit uns zu verkehren, uns allein schickt er seine
Herolde, und er kann nicht aufhören, immer neue zu schicken, weil
ihm alles daran liegt, dass wir auf immer bei ihm sind. Die Wür-
mer sagen: Gott ist und wir sind die Nächsten nach ihm, m allem
Gott gleich, und uns hat er alles unterworfen, Erde, Wasser, Luft,
Sterne, um unserer willen ist alles und zu unserem Dienste be-
stimmt, weil aber unter uns einige sind, die sich verfehlt haben, so
wird Gott kommen, oder seinen Sohn senden, damit er die Gottlosen
verbrenne und die Uebrigen mit ihm das ewige Leben haben 0*
Sehr sinnreich ist hiemit schon die Wendung angedeutet, die Cel-
sus nimmt, um nun seinen Angriff besonders auf das A.T. zu richten,
and an seiner Offenbarungsgeschichte das Anthropopathische des
chrisUichen Gottesbegriffs recht anschaulich zu machen. Nur mit
solchen Thieren, wie die genannten sind, können Juden und Christen
verglichen werden, da die Juden aus Aegypten entlaufene Sklaven
seien und sich nie durch etwas ausgezeichnet haben. Um ihr Ge-
schlecht von den älteste Gauklern und Betrügern abzuleiten, be-
rufen sie sich auf dunkle, zweideutige, geheimnissvolle Reden, die
sie Unwissenden und Unverständigen erklären. Als sie in ihrem
Winkel in Palästina sassen, haben sie, ohne bei ihrem völligen
Mangel an aller Bildung von Hesiod und andern gottbegeisterten
Männern etwas zu wissen, die unglaublichste und roheste Schöp-
fungsgeschichte ersonnen. Hiemit lenkt Celsus in die alttestament-
liche Geschichte ein, um sie wegen der Abgeschmacktheiten, die er
in ihr findet, zu verhöhnen. Viele Juden und Christen erklären sie
zwar allegorisch, sie beweisen aber damit nur, dasd sie selbst an
diesen Dingen sich schämen ^. Alles diess hat jedoch nur den
1) 4, 93.
4, 31. t 48. f.
380 Fünfter Abselmitt. Das Christenthom als welthemohende Maeht
Zweck, dieser sinnlichen, das Wesen Gottes so tief in das Mensck-
liche und Irdische hineinziehenden Vorstellnngsweise mit um so
gfrösserem Nachdruck die platonische Ansicht gegenüberzustellen,
nach welcher Gott überhaupt nichts Sterbliches gemacht hat , son-
dern nur Unsterbliches, nur die Seele das Werk Gottes ist, derLrib
aber eine andere Natur hat Wie die Natur des AUs immer eine
und dieselbe sei, so gebe es auch in der Welt immer dasselbe Haas
von Uebeln 0. Das Böse sei nicht von Gott, es hänge an der Ma-
terie und an den sterblichen Naturen, in deren periodischem Wech-
sel Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer sich gleich blei-
ben. Es sei daher überhaupt nicht der Mensch der Zweck der
Welt, sondern nur zur Erhaltung des Alls entstehe und vergehe
alles Einzelne und was dem Einen oder dem Andern ein Uebel n
sein scheine, sei nicht an sich ein Uebel, wenn es dem Ganzen
nütze. Um den teleologischen Satz , dass Gott alles für den Mea-
schen geschaffen habe, als die Grundlage der christlichen Offen-
barungsansicht, in seinem ganzen Umfang zu widerlegen, lässt mA
Celsus in eine ausführliche Vergleichung der Menschen mit den
Thieren ein, in welcher er jeden Vorzug, welchen er den Menschen
zugesteht, sosehr zumVortheil derThiere auszugleichen sucht, datt
die Menschen eher unter, als über den Thieren stehen, und zob
Schlüsse spricht er seine allgemeine Ansicht in den Worten ans:
so ist nun die Welt nicht für den Menschen geschaffen, für ihn so
wenig als für den Löwen oder Adler oder Delphin, sondern nur
dazu, dass sie ein in allen Theilen Yollkommenes Werk Gottes in
sich selbst ist, alles Einzelne bezieht sich nur insofern auf einandiff,
als es sich zugleich auf das Ganze bezieht, Gott sorgt für das Ganze,
seüie Vorsehung verlasst es nicht, es wird nicht schlechter, nock
zieht sich Gott auf einige Zeit in sich zurück, er zürnt um der Men-
schen willen so wenig als um der Affen und Mücken willen, jedes
Einzelne hat in seinem Theil seine bestimmte Stelle erhalten O*
Es ist diess in der Hauptsache dieselbe Ansicht, welche seitdem bis
in die neueste Zeit die Hauptgegnerin des supranaturalistischen
Offenbarungsglaubens geblieben und je mehr sie aus der nock
rohen Gestalt, welche sie bei Celsus hat, zu einer philosophisch be-
1) 4i 54. 62.
2} 4, 99.
Gelsas. 38t
gründeten Theorie sich ausgebildet hat, demselben nur um so ge-«
fiUirlicher geworden ist Ist die Welt ein vollkommenes Ganzes für
sich, so grehörenGott und Welt wesentlich zusammen, beide können
nur in einem immanenten Verhaltniss zu einander gedacht werden,
alles Partikuläre, Teleologische, Supranaturalistische verschwindet
von selbst in der allgemeinen Einheit des Ganzen und dem Offen-
bamngsbegriff ist seine Berechtigung in der Wurzel dadurch ab-
geschnitten, dass, wenn es keinen von der Welt verschiedenen,
Aber ihr stehenden, durch seinen persönlichen Willen auf sie ein-
wirkenden Gott gibt, es auch keine Offenbarung im Sinne der Juden
und Christen geben kann« Gott und Welt sind nur in einander, alles
bewegt sich in derselben, einmal für immer feststehenden Ordnung,
in einem ewigen, stets in sich zurückgehenden Kreislauf.
Celsus steht hier auf dem Höhepunkt seiner Polemik gegen
das Christenthum als der Vertreter einer auf einem principiellen
Gegensatz beruhenden Ansicht. Er kann aber die Höhe dieses
Standpunkts nicht behaupten. Da die pantheistische Weltansicht
auch in seiner Vorstellung mit dem Polytheismus der alten Religion
aufs Innigste verknüpft war, so musste sich ihm die Frage auf-
dringen, ob sich auch vom Standpunkt des Polytheismus aus das-
selbe Urtheil über das Christenthum ergebe, welches er nach sei-
ner pantheistischen Ansicht über dasselbe fallen musste. Wenn auch
freilich im Christenthum nicht der Eine höchste Gott selbst herab-
gestiegen ist, so kann ja in dem Stifter desselben eines der höheren
flbermenschlichen Wesen erschienen sein, deren Dasein die Chri-
sten, Juden und Heiden auf gleiche Weise, nur unter verschiedenen
Namen voraussetzten, indem sie die Einen Engel, die Andern Dä-
monen nannten, und alle bisher gegen die Göttlichkeit des Christen-
thums vorgebrachten Argumente würden demnach noch nicht be-
weisen, dass das Christenthum nicht hohem göttlichen Ursprungs
ist Auf diesem Punkte sehen wir Celsus bei Origenes 5, 2 stehen,
wenn er zu den Juden und Christen sagte, weder Gott noch Gottes
Sohn sei herabgekommen, noch werde er herabkommen, wenn sie
aber Engel meinen, sollen sie sagen, was sie unter ihnen verstehen,
Götter oder Wesen anderer Art, Dämonen. Diess wdre demnach
die weitere Frage, um welche es sich jetzt handelt, das Eigene
aber ist, dass Celsus in eine direkte Beantwortung der eigentlichen
Frage nicht eingeht, dagegen aber, wie wenn er die Möglichkeit,
SSV Ffinfter Abschnitt. Das Christenthnm als welthemohende Maeht.
dass das Christenfliain eine göttliche Offenbarung in diesem Sinne
sei, zugeben mässte, um so mehr die Juden und Christen weg^i
des Inhalts ihrer Religion bald auf diesem, bald auf jenem Puidkte
angreift, und besonders auch durch die Vergleichung der grie-
chischen Philosophie und Religion sich in Vortheil gegen sie za
setzen sucht. Kaum sind die Engel erwähnt, so wundert er äsk^
dass die Juden, obgleich sie den Himmel und die Engel in ihm ver-
ehren, den erhabensten und machtigsten Wesen, der Sonne, den
Monde und den Sternen keine Ehre erweisen 0* Unmittelbar dar-
auf kommt er auf die Lehre von der Auferstehung. Auch das sei
eine thörichte Meinung, dass, nachdem Gott wie ein Koch ein Feuer
angezündet, alle darin gebraten werden, sie allein aber unversehrt
bleiben und selbst die längst Gestorbenen mit ihrem Fleisch aus der
Erde hervorgehen sollen. Das mögen Würmer hoffen, welche
Menschenseele aber nach einem verwesten Leibe verlange? SelM
unter den Christen gebe es einige, welche diess für abscheuhd
und unmöglich erklären, wie denn ein ganzlich zu Grunde gegast
gener Leib zu seiner ursprünglichen Natur wiederhergestellt wer-
den könne? Indem sie darauf nichts zu antworten wissen, nehmen
sie ihre Zuflucht zu dem ungereimtesten Satz, dass Gott alles mög-
lich sei Möglich sei abec doch Gott nicht das Unanständige, nock
wolle er das Widernatürliche, Gott sei die Vernunft alles Seimides
und könne nichts gegen die Vernunft, nichts gegen sich thun *> I
Den Juden gibt er im weiteren Verlauf zu, dass sie ihre eigeien
vaterlandischen Gesetze mit demselben Rechte haben, wie andere
Völker, die Christen aber seien von den Juden abgefallen, und die
Juden sollen sich nur nicht mit ihren Gesetzen für weiser und bes-
ser halten als Andere ^. Wie wenn er nun erst auf sein eigent- i
Hohes Thema käme, will er den Christen zugestehen, das9 ihrLek- |
rer wirklich ein Engel sei, hält sich aber daran, dass er nicht in-
1) 5, 6.
2) 5, 14* Bemeriienswerth ist, wie hier lohon die bekaimte Unttf*
Scheidung des contra und snpra natoram sich findet. Gk>tt will nichts m^
tpvatVi sagt Gelsus. Darauf erwiedert Origenes c. 23} es sei zu unterschei-
den, wenn rd Kard Xoyov d'eS nal ßsXijoiv cerr^ ytpofjtsva niolit nothwendig
na(fd (pvaiv sei, so mtisse man sagen, dass n(^6i r^v xotvori^av vosfAiv^*
tpvaiv igl Ttva vni^ t^v tpvaiVf a noit^oai av nuxB d'eos,
3) 5, 35. 33. 41.
Celsus. 383
erst und allein gekommen, dass schon Andere vor ihm gekommen
seien, wie auch die behaupten , die einen vom Weltschöpfer ver-
schiedenen höheren Gott und Vater annehmen 0* Was damit ge-
sagt sein soll und welches polemische Moment darin liegt, ist we-
Bigstens nach der Darstellung des Origenes nicht ganz klar, um so
weniger ist diess dagegen der Fall in dem weiteren Inhalt seines
Werkes, in welchem er auf eine Vergleichung des Christenthums
nit der griechischen, namentlich platonischen Philosophie übergeht
uid zu zeigen sucht, dass wenn auch das Christenthum etwas ent-
halte, was einen Verständigen für sich gewinnen könne, ihm diess
doch nicht ausschliesslich zukomme, es sei nur etwas Gemeinsames
imd schon von den Griechen weit besser gesagt worden, ohne jene
Drohungen und Verheissungen von Gott oder einem Sohn Gottes 0«
Celsiis berief sich auf platonische Aussprüche und rühmte an Plato
kesonders, dass er seine Lehren nicht für übernatürliche Offenba-
nmgen ausgebe, und keinem, welcher die Wahrheit derselben selbst
Bntersuchen wolle, den Mund verschliesse, er verlange nicht, dass
man vor allem glaube, sage nicht, y>80 oder so ist Gott und einen
solchen Sohn hat er und ist selbst herabgekommen und hat mit mir
gesprochen«. Er führe bei allem, auch wenn der Gegenstand der
Untersuchung der Natur der Sache nach keine weitere Erklärung
gestatte, vernünftige Gründe an, er gebe nicht vor, etwas Neues zu
erfinden oder als vom Himmel gekommen zu verkündigen, er sage,
woher er es habe. Wenn unter den Christen die Einen auf diese,
die Andern auf jene Auktorität sich berufen, alle zusammen aber
darauf dringen: glaube, wenn du selig werden willst, oder gehe
hinweg, was denn die thun sollen , welche wahrhaft selig werden
wollen, sollen sie die Würfel darüber entscheiden lassen, wohin sie
aich zu wenden und an wen sie sich zu halten haben ? ^i^ hier-
in der entschiedene Vorzug nur auf der Seite Plato's sein kann, so
sucht Celsus auch im Einzelnen nachzuweisen , dass die Christen
80 Vieles aus Plato genommen, nur zugleich missverstanden und
entstellt haben. Ueberhaupt kommen die gotüosestenlrrthümer der
1) 5, 5^
2) 6, 1. f.
5} 6t 8* 10. Vgl. 1, 9* wo Celsus gleichfalls den Cliristexi das dliyati
^$€svs§p ssTun Vorwurf macht.
884 Ffinfter Absohnitt. Das ChrUtenthum als welthemoliende lUolit.
Christen aus ihrer Unfähigkeit, die göttlichen Rithsel zu verstehen«
Celstts rechnet dahin besonders die christliche Lehre von einem Sa-
tan als dem Widersacher (xottes. Von einem göttlichen Krieg ha-
ben schon die Alten, Pherecydes, Heraklit und Andere finigmatisch
gesprochen. Die Christen haben diess verdreht und daraus ihre
Lehre vom Satan gemacht Der Sohn Gottes werde vom Teufel
überwunden und warne die Christen vor dem noch kommenden Sa-
tan, der grosse und wunderbare Dinge verrichten und die Ehre
Gottes sich anmaassen werde, wodurch sie sich im Glauben an ibi
nicht irre machen lassen sollen, daraus sehe man aber nur, dass
dieser Satan, oder Antichrist, auch ein Goet und Betrüger, wie Jesus,
sei, der sich sehr natürlich vor ihm als seinem Nebenbuhler furchte *>
Von einem Sohn Gottes, fährt Celsus fort, reden die Christen, weil
die Alten die Welt als aus Gott entstanden, em Kind Gottes genanil
haben *). Indem Celsus hiemit auf die Lehre von der Welt nai
Weltschöpfung und die mosaische Schöpfungsgeschichte zu redoi
kommt, und die letztere seiner Kritik unterwirft, setzt er den gro-
ben Anthropopathismen, die er an ihr rügt, seine platonische Lehre
von Gott entgegen, dass Gott, als die Ursache alles Daseins, ohne
Farbe, Gestalt und Bewegung über jedes Wort und jeden Begriff
erhaben sei. Celsus macht sich hier selbst die Instanz, mit Rüd-
sicht auf diesen Gottesbegriff und die an ihn sich anschliessende
Frage nach der Möglichkeit der Gotteserkenntniss können die
Christen ihm entgegenhalten, gerade weil Gott so gross und so
schwer erkennbar sei, habe er seinen eigenen Geist in einen uns
ähnlichen Leib eingesenkt und hieher gesandt, damit wir ihn hörea
und von ihm lernen können. Es ist ihm jedoch diess nur eine wilK*
kommene Gelegenheit, eine so sinnliche Vorstellungsweise mit neuen
Spott zu verhöhnen. Wozu Gott , wenn er seinen Geist aus sick
herabsenden wollte, nöthig gehabt habe, ihn dem Leibe eines Weibs
einzuhauchen? Er hatte ja, da er schon Menschen zu bilden ver-
stand, auch ihm einen Leib anbilden können, ohne ihn in einen sol-
chen Schmuz hineinzuwerfen. Wenn er plötzlich von oben herab
so erschienen wäre, so wäre kein Unglaube möglich gewesen.
Wenn aber einmal der göttliche Geist in einem Leibe gewesen sei,
1) 6i 42 f.
2) 6, 47 f.
\
Celsus. 385
SO hatte er auch alle Andern durch Grösse, Schönheit und den im-
ponirenden Eindruck seines ganzen Wesens übertreffen sollen, er
habe ja aber so wenig etwas Ausgezeichnetes gehabt, dass er so-
gar klein und hässlich gewesen sei. Und wenn Gott, wie bei dem
Komödiendichter Zeus, aus langem Schlafe erwachend, das Men-
schengeschlecht von seinen Uebeln befreien wollte, warum er denn
das, was die Christen Geist nennen, in Einen Winkel geschickt
habe, er hdtte ja viele solche Leiber beseelen und in die ganze Welt
senden sollen. Der Komödiendichter habe, um auf dem Theater
Lachen sn erregen, den aus dem Schlaf erwachten Zeus den Her-
mes zu den Athenern und Lacedäuioniern senden lassen, noch weit
Idcherlicher aber sei es, dass Gott seinen Sohn zu den Juden ge-
schickt habe 0- Celsus fasst sodann besonders die alttestament-
lichen Weissagungen ins Auge, bei welchen er neben andern Aus-
stellungen, mit Benutzung der gnostischen Antithese des A. und N.
T., seinen stärksten Angriff mit dem Argument macht: Wenn die
jüdischen Gottespropheten Jesum als Sohn Gottes vorausgesagt ha-
ben, wie kann Gott durch den Gesetzgeber Moses befehlen, Reich-
thümer zu erwerben, zu herrschen, die Erde anzufüllen, die Feinde
zu tödten, alles auszurotten, wie ja Gott selbst unter den Augen der
Juden gethan hat, während sein Sohn, der Nazaräer, die gerade ent-
gegengesetzten Gesetze gibt, dem Reichen, Herrschsüchtigen, nach
Weisheit und Ehre Strebenden den Zugang zum Vater verschliesst,
die Menschen weniger als die Raben um Speise und Vorrath, we-
niger als die Lilien um Kleidung sich bekümmern heisst und ver-
langt, dass man von dem, der einmal geschlagen hat, sich zum
zweitenmal schlagen lasse; wer also lüge, Moses oder Jesus, oder
ob der Vater, als er diesen sandte, seine durch Moses gegebenen
Gebote vergessen, oder die eigenen Gesetze bereut und einen Bo-
ten mit entgegengesetzten Befehlen gesandt habe ^? Die Frage,
die hierauf Celsus an die Christen macht, wohin sie gehen werden
und welche Hoffnung sie haben, führt ihn, indem er die Lehre von
1) 6, 69 f.
J) 7, 18. Vgl. 6, 29, wo Celsus den Christen den Widersprach vorhält,
dass sie Ton den Juden gedrängt zu demselben Gott sich bekennen, wenn
aber ihr Lehrer Jesus etwas ganz Anderes zum Gesetz macht, als der Moses
^er Juden, einen andern Gott zu haben behaupten.
Bftur, die drei ersten Jahrb. ^
386 Fünfter Abscbnitt. Das Christenthtun als weltherrschende Macht.
der Auferstehung so deutet, wie wenn die Christen auf diesem Wege
zu Gott und zu seiner Erkenntniss gelangen wollten, wieder auf die
Frage nach der Erkennbarkeit Gottes. Die Christen, sagt Celsus,
kommen immer wieder mit der Frage, wie sie denn Gott erkennen
und sehen können, wenn es keine sinnliche Erkenntniss Gottes
gebe, was man ohne sinnliche Wahrnehmung erkennen könne?
Allein so frage nicht der Mensch,. nicht die Seele, sondern nur dts
Fleisch. Wenn das feige, am Körper hängende Geschlecht ^') otms
hören wolle, könne man ihm nur sagen, so allein werden sie Gott
sehen, wenn sie die Sinnen verschliessen und mit dem Geist auf-
blicken, vom Auge des Fleisches sich hinwegwenden und .das der
Seele öffnen, und wenn sie einen Führer für diesen Weg suchen,
sollen sie Betrüger und Goeten fliehen, und die, welche Idole em-
pfehlen, sonst machen sie sich in jeder Beziehung lacherlich, da sie
auf der einen Seite die erweislichen Götter als Idole verlästern, auf
der andern ihren Gott, der in der That noch elender sei als die Idole,
nicht einmal ein Idol, sondern ein Todter sei, verehren und einen
ihm ähnlichen Vater suchen. Celsus hält ihnen den platonischen
Ausspruch von dem Schöpfer und Vater des Alls entgegen, dass es
schwer sei, ihn zu finden, und wenn man ihn gefunden, unmögUch,
ihn für alle auszusprechen. Das sei der wahre Weg, auf welchem
göttliche Männer die Wahrheit suchen, auf welchem freilich sie nüt
ihrem gänzlich an das Fleisch gefesselten , nichts Reines sehenden
Sinn nicht folgen können. Wenn sie glauben, dass ein Geist von
Gott zur Verkündigung der Wahrheit herabgekommen, so könne
diess nur der Geist sein, welcher das verkündige, wovon Männer
des Alterthums, wie Plato, erfüllt gewesen seien, können sie davon
nichts verstehen, so sollen sie schweifen und ihre Unwissenheit
verbergen, und nicht die blind nennen, die sehen, lahm die, die
gehen, da doch sie selbst an der Seele ganz lahm und verkrüppelt
seien, und nur mit dem todten Leibe leben 0- Wenn sie einmal ans
Neuerungssucht jemand haben müssen, an welchen sie sich halten,
so hätten sie doch einen wählen sollen, der eines edlen Todes ge-
1) Jsilov xal tptXoavjfiatov ytvos, 7j 36m ^^ ^^^^ daher auch QoU nvr
so vorstellen kann, wie wenn er von Natur ein aaifAa wKre, und ein «y^f«-
TtostSie awfia , 7 7 27.
2) 7y 28. 36. 42. 45.
storben und eines göttlichen Mythus würdig sei. Hätte ihnen ein
Herakles oder Asklepios nicht gefallen, so hätten sie ja den Orpheus
gehabt, der auch eines gewaltsamen Todes gestorben, oder den
Anaxarch, Epiktet, von welchen Ausspräche gemeldet werden,
durch die sie sich dazu eigneten. Dafür machen sie den zu einem
Gott, der das berüchtigtste Leben mit dem schmählichsten Tode
beendigt habe. Eher noch würde Jonas im Wallfischbauch oder
Daniel in der Löwengrube dazu passen 0*
Nach allen diesen Angriffen eines Gegners , welcher in den
Argumenten und Sophismen seiner Dialektik ebenso scharf und
gewandt war, als in den Sarkasmen seines Spottes, blieb noch ein
Punkt übrig, über welchen sich Celsus mit den Christen erst noch
auseinandersetzen musste, die Lehre von den Dämonen, sofern sie
ein gemeinsamer Berührungspunkt für die Christen und Heiden zu
gein schien. Es ist schon bemerkt worden, in welchem Zusammen-
hang seiner polemischen Ausführung Celsus auf sie gekommen, aber
auch sogleich wieder von ihr abgesprungen war. Man begreift da-
her immer noch nicht, woher dieser tödtliche Hass gegen das Chri-
gtenthum bei einem Gegner kommt, für welchen es doch eine so
leichte Sache hätte sein sollen, dem Christenthum einen göttlichen
Ursprung, wenn auch nicht im Sinne der Christen, doch im Sinne
der heidnischen Dämonenlehre zuzugestehen. Diess muss sich also
noch klarer herausstellen, und es kann somit auch nicht für zufällig
gehalten werden, dass Celsus am Schlüsse seines Werkes noch
besonders auf die Dämonenlehre zu reden kommt Den Uebergang
darauf macht, dass Celsus auch den Widerwillen der Christen
gfegen Tempel, Altäre und Bilder nicht ungerügt lassen konnte.
Die Christen, sagt Celsus, verwerfen Götterbilder schlechthin.
Thun sie es desswegen, weil ein Bild aus Stein, Holz, Erz, Gold
kein Gott sein könne, so sei diess eine lächerliche Weisheit, nur
ein Thor halte sie für etwas Anderes als blosse Weihgeschenke
und Bildnisse. Meinen sie aber, es dürfe keine Bildnisse der Götter
geben, weil die Götter eine andere Gestalt haben, so sollten diess
am wenigsten die Christen sagen, da sie ja glauben, dass Gott den
Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, und der Mensch ihm
«hnlich sei. Es könne somit nur daher kommen, dass sie die, wel-
1) 7, 53.
O/l *
388 ^^ünfter Abflchnitt Das Christenthnm als welihemchende ICnolit.
chen die Bilder geweiht sind, für keine Götter, sondern für Dämo-
nen halten, und der Meinung sind, dass ein Verehrer Gattes Dämo-
nen keinen Dienst erweisen dürfe. Es sei klar, dass sie weder
einen Gott noch einen Dämon verehren, sondern nur einen Todten.
Warum aber Dämonen nicht verehrt werden sollen? Ob denn nicht
alles von der göttlichen Vorsehung ausgehe, ob nicht alles, was
geschieht, sei es von einem Gott, oder von Engeln, oder von an-
dern Dämonen, oder von Heroen, sein Gesetz vom höchsten Gott
habe? Ob nicht jeder über das gesetzt sei, worüber er die Macht
erhalten habe? Es verehrt also nach der Behauptung der Christen
der, der Gott verehrt, den nicht mit Recht, welcher seine Macht
von Gott erhalten hat, denn es ist, wie sie sagen, nicht möglich,
mehreren Herrn zu dienen 0- Diess ist somit der Satz, um welches
es sich in Ansehung des Dämonencultus handelt, und an welchem
es sich zeigen muss, ob sich die Christen und die Heiden in Betreff
der Dämonen mit einander verständigen können oder nicht Zwar
sollte man meinen, diese Frage sei voraus schon dadurch entschie-
den, dass die Christen einen ganz andern Begriff mit den Dämonen
verbinden als die Heiden, indem sie sie gar nicht für göttliche
Wesen gehalten wissen wollen, allein diese Ansicht von den Dimo-
nen ist auf dem Standpunkt der Christen das erst Abgeleitete und
Secundäre, sie sind nur darum keine wahren Götter, weil nach
christlicher Vorstellung überhaupt neben dem Einen Gott nichts
wahrhaft Göttliches anerkannt werden kann. Diess ist daher
eigentlich der Hauptsatz, um welchen es sich handelt, und indem
Celsus ihn mit dem evangelischen Ausspruch, dass niemand zwei
Herren dienen könne, ausdrückt, bestreitet er von diesem Punkte
aus die christliche Vorstellung von den Dämonen. Jene Behaup-
tung, sagt Celsus, können nur die aufstellen, die sich Aufruhr und
Zwietracht zum Grundsatz machen, und von den übrigen Menschen
sich absondern und losreissen. Wer so spreche, trage seine eige-
nen Affekte auf Gott über. Bei den Menschen könne es wohl der
Fall sein, dass man beeinträchtigt zu werden befürchtet, wenn der
Diener des Einen auch einem Andern diene. Bei Gott finde ja aber
nichts dergleichen statt, und der, der mehrere Götter verehre, er-
weise auch dadurch dem höchsten Gott Ehre;^ dass er die ihm An-
4) 7, 68.
Celans. 3S9
gehörenden ehre 0- Gottlos sei es, behauptet Celsus, von Gott, als
dem Einen Herrn zu reden, wodurch, wie wenn es einen Wider-
sacher gebe, nur Trennung und Zwiespalt in das Reich Gottes ge-
bracht werde. Nur dann könnten vielleicht die Christen ihren Satz
behaupten, wenn sie ausser dem Einen Gott keinen andern ver-
ehrten, da sie aber einem erst neuerlich Erschienenen eine über*
massige Verehrung erweisen , glauben sie gleichwohl gegen Gott
durch diese Verehrung seines Dieners sich nicht zu verfehlen.
Auch werde ja dadurch, dass die Christen neben Gott auch seinen
Sohn verehren, von selbst anerkannt, dass nicht blos der Eine Gott,
sondern auch seine Diener verehrt werden dürfen. So sehr sei es
ihnen nur um die Verehrung ihres Sektenstifters zu thun, dass sie
selbst, wenn man ihnen beweisen würde, er sei nicht der Sohn
Grottes, den wahren Gott, den Vater von Allem nicht ohne ihn wür-
den verehren wollen 0* D&ss die Christen, wenn sie nicht an die
Dämonen als Götter glaubten, auch an dem öffentlichen Kultus, an
den Opfern und Festmahlen, keinen Antheil nahmen, war sehr natür-
lich, und es hat daher auch, was Celsus in dieser Beziehung gegen
sie sagt, keine weitere Bedeutung, um so schlagender scheint da-
gegen die Instanz zu sein, welche dem Christen nur die Wahl
lassen will, entweder die Dämonen zu verehren, oder ohne die
Verehrung der Dämonen auch keinen weiteren Anspruch auf das
Leben zu machen. Mögen auch die Christen sich scheuen, mit den
Dämonen zu schmausen, so könne man sich nur wundem, wie sie
nicht wissen, dass sie ja auch so Tischgenossen der Dämonen sind,
wenn sie auch nicht gerade ein geschlachtetes Opferthier vor sich
haben. Das Getreide, das sie essen, der Wein, welchen sie trinken,
die Früchte, die sie gemessen, selbst das Wasser und die Luft, die
sie einathmen, alles diess empfangen sie ja auch von den bestimm-
ten Dämonen, welchen In ihrem Theile die Sorge für alles Einzelne
aufgetragen ist Entweder müsse man also gar nicht leben, und
diese Welt gar nicht betreten, oder wenn man in dieses Leben ein-
geht, den Dämonen, die zu Aufsehern über die Erde bestellt sind,
dankbar sein, und Erstlinge und Gebete ihnen darbringen, so lange
man lebl, damit sie menschenfreundlich gesinnt sind 0- Wieder-
i) 8, 2. i
2) 8, 11 f.
3) 8, 38.
390 Fünfter Abschnitt. Das Christenthnm als welthemchende Macht
holt lasst Celsus den Christen nur die Wahl: entweder sollen sie,
wenn sie sich weigern , den Vorstehern von allem die ihnen ge-
bührende Ehre zu erweisen, auch nicht Manner werden, keine
Weiber nehmen, keine Kinder zeuge